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Erinnerungen eines langen Lebens

Wer die Schwelle der Achtziger überschritten hat, fühlt den Drang, Bilanz seines langen Lebens zu ziehen, mit vielem Liebgewonnenen abzuschließen und auch seine Erfahrungen an die Nachkommenden weiterzureichen. Verschiedene Lebenserfahrungen in zwei oder mehreren Ländern sind in unserer bewegten Zeit gleichfalls nichts Neues mehr. Banater Schwaben verbrachten so einen Teil ihres Lebens zu Hause, den anderen am Rhein oder in den Bayerischen Alpen, in Österreich, Frankreich, in den Vereinigten Staaten von Amerika oder auch in Australien. Nikolaus Tullius wurde vom Leben als junger Mann 1961 nach Kanada verschlagen. Wie es der Buchdeckel zeigt, kam er von der „roten Pipatsch“ (Klatschmohn) zum „roten Ahornblatt“ Kanadas, wo ihn die verbliebenen zwei Quadratmeter Erde zur letzten Ruhe erwarten. Doch das alles kommt noch. Zuerst auf 219 Seiten ein weiter Rückblick auf ein bewegtes Leben in zwei Welten.

Das vorliegende Erinnerungsbuch führt den Leser zuerst ins Banater Dorf Alexanderhausen/Şandra im rumänischen Banat, von dort in die Kreisstadt Temeswar/Timişoara und die Grenzstadt Arad, später nach Montréal und Ottawa, in Kanada, wo sich das Leben von Tullius abspielte. Die 102 Abschnitte des Buches tragen diesen Stationen Rechnung und verlegen den Schauplatz der Handlungen an diese Stellen. Dipl.-Ing. Nikolaus Tullius ist nicht nur ein Fachmann in Elektrotechnik, sondern auch vielsprachig. Er beherrscht seine „erste Muttersprache“, nämlich seine heimische rheinfränkisch-pfälzische Mundart und – noch immer fließend – Hochdeutsch, im englischen Umfeld, dazu die frühere Landessprache Rumänisch, zu der Englisch und Französisch kamen. So konnte er seinen 2011 erschienenen autobiografischen Roman „Vom Banat nach Kanada“ kurz darauf in einer englischen und auch in einer rumänischen Version (für seine rumänischen Studienkollegen und für die englisch sprechenden Nachkommen der amerikanischen Donauschwaben) herausbringen, mit denen er auch über das Internet in Verbindung ist.

Nebenbei erschien 2017 von Tullius in Temeswar auch das 108 Seiten umfassende Bändchen „Gschichte vun drhem“ in seiner banatschwäbischen Mundart, und im vorliegenden Buch ist „Schwowisch Gschriebenes“ auf 134 Seiten vertreten. Nebenbei ist Nikolaus Tullius zur Zeit auch der wichtigste Schreiber der schwäbischen Mundartseite „Mei Mottersproch“ in der „Banater Post“, der Zeitung der Landsmannschaft der Banater Schwaben. Das zeigt, wie tief die Wurzeln des Banater Weltbürgers Tullius gründen, während der vorliegende Band ein ausdrucksvolles Bekenntnis zu beiden Welten ist, die ihm Heimat und Lebensinhalt gewährten. Seit unser treuer Mundartschreiber Hans Niedermeier vor einigen Jahren verstorben ist, hat Nikolaus Tullius dessen Stelle eingenommen. Ich freute mich jedes Mal über einen zugeschickten Mundarttext, denn außer kleinen Vereinheitlichungen in der Schreibweise war daran nichts zu verbessern und ich konnte alle seine „schwowische Gschichte“ ruhig weiterleiten. Ähnliches schreibt Helen Alba in ihrem „Nohwort“ zu den „Gschichte vun drhem“, und dann muss es ja stimmen.

Und worin bestehen die „Erinnerungen“ des Banater Emigranten in der neuen Welt? Den ersten Eindruck beim Durchblättern des Buches geben bereits die äußerst sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzten, gut reproduzierten Fotos des Autors selbst (als Absolvent, mit Ehefrau und Söhnen und aktuell). Dann die Eltern und Großeltern, die zweitürmige Dorfkirche, das Kriegerdenkmal und der Taufschein, auch eine Kirchweihfeier von 1934; das Ingenieur-Diplom, die Ernennung zum Ehrenbürger der Heimatgemeinde; als Vorspann auch alle Vorfahren bis zur fünften Generation und ein Bild mit Landsleuten in Rastatt – alles, was dem Verfasser wesentlich erschien. Und keine – wie üblich – verwässernde Bilderflut, da sich der Leser alle 200 ausdrucksstarken Bilder zu den anschaulichen Texten selbst ausmalen kann und keine fotografischen Krücken benötigt. Ein „Erinnerungsbuch“ ist kein Bilderbuch für Kinder und keine „Bild“-Zeitung.

Die Texte selbst zeugen von der strengen, aber sicheren Auswahl des unbestechlichen Technikers. Die „Stationen meines Lebens“ beginnen mit „Überbleibseln“. Das Vermächtnis des Autors an die Nachwelt bezieht die nähere Familie ein und betrachtet die besseren Wohnbedingungen, die bessere Ernährung und gesundheitliche Betreuung, aber auch die nützliche und falsche Informationsflut unserer Zeit. Der Rückblick erfasst die habsburgische Ansiedlung im Banater Kronland, das nach der Türkenherrschaft von den Ansiedlern urbar gemacht wurde, die schädlichen Auswirkungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs und die Erholungsversuche, die Ceauşescu-Diktatur und sein Streben nach einer rumänischen, sozialistischen Nation.

Die Familiengeschichte des Autors ist mit Amerika verbunden, wo seine Mutter 1915 nach der Auswanderung der Großeltern geboren wurde. Die Familie kam zurück und die Mutter wurde 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, wo sie verstarb, so dass der kleine Sohn (dessen Vater an der Front war) von der behinderten Großmutter großgezogen wurde. Er pendelte anfangs nach Temeswar, wo er das Lyzeum absolvierte und danach Elektrotechnik studierte. 1957 starb die Großmutter. Nach der Graduierung am Polytechnikum (1958) war er zwei Jahre lang beim Städtischen Unternehmen in Arad angestellt. Dabei betrieb er die Ausreise zum Vater, der über England nach Kanada gekommen war. Das gelang ihm 1961 nach den üblichen Schikanen, die viele Banater Leser mitgemacht haben. Der Vater empfing ihn (mit einer neuen Familie) in Montréal. Nikolaus Tullius musste sich mittellos emporarbeiten, fortbilden und wurde Mitarbeiter der größten kanadischen Firma für Fernmeldetechnik. Von Montréal kam er zur neu gegründeten Tochtergesellschaft für Forschung und Entwicklung nach Ottawa, wo er Erfolge auf seinem Forschungsgebiet erzielte und eine Familie gründete. Er konnte zu Tagungen reisen und viel von der Welt sehen; auch in privaten Urlaubsreisen samt Frau, die so in Rumänien niemals möglich gewesen wären. Auch seinen rumänischen Studienkollegen und Temeswar blieb Tullius durch die Teilnahme an Klassentreffen verbunden. 

Das Arbeitsleben endete im Jahr 2000. Fortan betrieb Tullius Familienforschung und widmete sich der Geschichte und Kultur seiner Banater Vorfahren. Nun erschienen seine romanhaften Lebenserfahrungen und kurzen Mundarttexte, die beweisen, dass diese Quelle in seinem Inneren nicht versiegt ist. Tullius gliedert sein „Schwowisch Geschriebenes“ in die Kapitel: Dorf uf dr Heed, Dorflewe, Was vorkumm is und Vrschiedenes, wobei jedes Kapitel lustige, ernste, historische, kulturgeschichtliche und auch kuriose Themen beschreibt, die einer ausführlichen Erläuterung bedürften (am besten liest man sie selbst). Dabei erfahren wir die eigentliche Handlung und ihre Umstände, aber es kommt auch die rückblickende Sicht des Jugendlichen auf die Geschehnisse zum Vorschein. Jede Geschichte für sich – ob sie sich um ein historisches, geselliges oder persönliches Erlebnis handelt – hat ihren Wert und wäre einer Besprechung würdig. Hervorzuheben sind auch die aktuellen Mundarttexte, die Erlebnisse in Amerika schildern, wie „Vum Neijohr zum Njujiehr un was drbei rauskummt“ – nämlich Groteskes wie: „Ich fohn dich morje frieh“, weil die eingelebten Kanadier ja wissen, was englisch phone ('anrufen') heißt. Oder „Mir watsche telewischn“, englisch to watch television ('fernsehen'). Bei uns wissen viele Hörer und Leser nicht, was „Lockdown“ (gar „Teillockdown“, 'halbe Einsperrung' usw.) oder „bustern“, von booster, 'auffrischen' heißt, doch das kümmert weder Politiker noch Moderatoren. Hauptsache, jährlich kommen mehrere tausend Anglizismen als „Bereicherung“ dazu.

Vielleicht noch der Hinweis auf das abschließende „Howwllied“, eine Parodie an Ferdinand Raimund (1790-1836) von Nikolaus Tullius, „mit 'me Dankschen an den Ursprungsdichter“:

(...) Der eeni ment, er is zu arm,
Der anri vill zu reich.
Der Kriech, der setzt sei Howwl an
Un howwlt alli gleich.

Der eeni bleibt in Russland dann,
Der anri ufm Baragan,
Die wenichschte sterwe drhem.
Un die wu drauß in Deitschland sin
Fange vun vore an.
Die baue Heiser, spare Geld
Un streite sich, was kann mer saan,
Um Autos, net ums Feld. (...)

Christa Albert und Hans Schuch, die Vertreter der HOG Alexanderhausen, zählen im Schlusskapitel „Wurzeln im Herzen, Flügel im Geist“ die Stationen des Lebens von Nikolaus Tullius auf und begründen seine Ernennung zum „Ehrenbürger von Alexanderhausen“. Er kann vielen anderen Banater Schwaben als Vorbild dienen. Ein erfülltes Leben „zwischen Pipatsch und Ahorn“, das optimistischer enden möge, als es begann. Der Autor hat seinen Teil dazu ehrlich beigetragen und kann den verbliebenen Rest ruhig genießen.     

Nikolaus Tullius: Erinnerungen eines Banat-Kanadiers. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2022. 219 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. ISBN:978-3-7557-4613-3. Preis: 9,90 Euro. Das Buch ist im BoD-Buchshop (www.bod.de), bei Amazon sowie anderen Anbietern erhältlich.