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Matuschka - Erinnerungen eines langjährigen Zwangsarbeiters

Wie Katharina Gottschick, geb. Schubkegel aus Semlak, Rosa Kern, geb. Schnell aus Traunau, Elisabeth Hay, geb. Wagner aus Semlak (von links) und Georg Kaiser aus Semlak (vorne) mussten viele unserer im Januar 1945 in die Sowjetunion deportierten Landsleute Zwangsarbeit im Bergbau leisten. Das Foto entstand 1947 in Mednogorsk im Ural, wo die Deportierten zum Arbeitseinsatz im dortigen Kupferbergwerk verpflichtet waren. Georg Kaiser veröffentlichte seine Erinnerungen an die Deportationsjahre 1995/96 im Semlaker Heimatbrief; sie sind auch in dem neuen Semlaker Heimatbuch abgedruckt. Foto: Archiv BP

Neujahr 1947. Das dritte Elendsjahr war für uns zivile Zwangsarbeiter in den Ausrottungslagern Stalins angebrochen. Der vorangegangene Sommer hatte durch eine ausgedehnte Seuchenepidemie unzählige Opfer aus den Reihen unserer geschwächten und ausgehungerten deutschen Lagerinsassen aus Rumänien, Ungarn und Jugoslawien gefordert.

Meinen guten Vater hatte der Typhus hinweggerafft, Onkel Toni, den schlimme Distrophie gezeichnet hatte, war von seiner Hungerqual erlöst worden und Nachbarin Anna, Mutter von vier kleinen, in ihrer Banater Heimat zurückgelassenen Kindern, erstickte Ende August an Diphteritis. Einige Tropfen Petroleum oder eine Handvoll Salz hätten ihr vielleicht das Leben gerettet – für uns verdammte „Nemetzky internirowannij“ durfte es sie in diesem Riesenland des Erdöls jedoch nicht geben.

Doch auch in der Tschechoslowakei – hörten wir – seien im vergangenen Sommer mehr als drei Millionen Sudetendeutsche von der tschechischen Soldateska gewaltsam aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden. Unglaubliche Mordorgien und Szenen des Entsetzens sollen sich mancherorts dabei ereignet haben. Dennoch hatten die Sudetendeutschen mehr Glück als wir: Sie blieben wenigstens von Stalins „Paradies“ verschont und wurden nach Westen, in das kriegszerstörte deutsche Mutterland vertrieben.

Zum Skelett herabgekommen und trostlos allein geblieben, blickte ich an diesem Neujahrstag hoffnungslosen Zeiten entgegen. Mit meinen 17 Jahren wollte ich noch nicht sterben…

Das Thermometer in der Grubenhalle hatte 39 Grad unter Null gezeigt, als der Schachtlift uns aus der Tiefe an die Oberfläche beförderte. Auf meinen schmerzhaft geplatzten Lippen lag an diesem 1. Januar 1947 eine bange Frage: Was mag dieses dritte Hungerjahr im Arbeitslager Stalino-Wjetka uns noch bringen?

Unter den Gummigaloschen knirschte der hartgefrorene Schnee. Unser kleiner Trupp befand sich im Gänsemarsch von der zwei Kilometer entfernten Kohlengrube in das Lager. Die nassen Unterarme meiner zerfetzten Spezovka-Arbeitsmontur waren im Handumdrehen steifgefroren. Ein Glück, dass ich den Kohlesack mit einem Holzbündel auf dem Rücken schleppte. Wir hatten schließlich jeder seine „Hasaika“, die darauf wartete. Julik, wie wir unseren Schachtelektriker nannten, hatte sich gestern bei seiner Hasaika einen pfannkuchengroßen Rübenmalai und einen Stakan Hriaschinka aus gegorener Ziegenmilch eingehandelt. Der Bursche hieß eigentlich Georg Rosnovski und war ein „mit allen Salben geschmierter“ Temeswarer Tschibeser. Julik hatte immer Glück, denn er war wagemutig wie kaum einer von uns anderen.

Für eines bedauerten wir unsere russischen Schachtarbeiter: Für sie war es „sibiriengefährlich“, Kohle oder Holz aus dem Schacht „mitwandern“ zu lassen. Wir hingegen zählten ohnehin zum Strafnoi-Bataillon, was konnte uns da noch passieren? Uns trieb der Dauerhunger voran…

Das spanngroße Fenster der Kate am äußeren Rand der Bergmannssiedlung Wjetka war spärlich erleuchtet. Ich wusste: Hrischa und seine Matuschka warteten auf mich. Ich trat aus der Gänsereihe seitwärts in den Schnee und ließ die anderen Kumpel an mir vorbeiziehen.

Viermal klopfte ich an die Brettertür der Kate. Eine weiße Dunstwolke schlug mir entgegen, als die Tür sich auftat: „Wanja, Wanjuschka…!“ kam die gute alte Matuschka mir sichtlich erfreut entgegen, ganz so, als wolle sie einen liebgewonnenen Gast begrüßen. Mein Gott, diese Frau mit dem schlohweißen Haar verkörperte genau das, was Tolstoi als „große russische Volksseele“ bezeichnete.

Sie umsorgte mich wie eine leibliche Mutter, während Hrischa den mitgebrachten Kohlesack mit Bruchholz wegräumte, den ich vor der Eingangstür abgestellt hatte. Der Zinnteller stand bereits auf dem Tisch, daneben lag der klobige Holzlöffel, ohne dass meine Hungeraugen ihn suchen mussten. Matuschka trippelte mit ihrer dampfenden Hirsesuppe heran, einem Geschenk Gottes im anbrechenden Hungerjahr 1947. Auf den Gesichtszügen der guten Alten lag dabei ein kaum merkliches Lächeln. In diesem Augenblick erfasste mich – Stalins Arbeitstier Nr. 777.304 – eine unsagbare Gier: Wer im Leben niemals Hunger leiden musste, kann dies wohl kaum begreifen…

Ich aß mit großen Augen: Gott segne Matuschka! Meine Gönnerin fuhr mir dabei leicht über das schütter gewordene Haar: „Kuschai, Wanja!“ Ich löffelte dieses erwärmende Lebenselixier bis zum letzten Tropfen aus dem großen Zinnteller. Brot konnte die gute Alte mir dazu keines reichen, jedoch da kam Hrischa heran und legte einen roten Sauerapfel aus seinem Holzfässchen neben mich auf den Tisch. Dankbare Augen offenbarten mein „Spassivo“ dafür.

Es war wieder mal etwas anderes, als wässerig-faule Pomidorensuppe aus dem Kessel der Lagerstalowaja und dem bitteren „Gelöffel“ von selbstgekochtem Loboda-Blattgras.

Hrischa konnte seine Mahorkapfeife mit einer Seelenruhe stopfen, als ginge ihn die Welt nichts mehr an. Wir sprachen russisch miteinander, ich hatte diese Sprache innerhalb von zwei Jahren erlernt.

Zwischen den Fenstern, über der altersdüsteren Glasikone, hing getrocknetes Immergrün. Erneut vernahm ich Matuschkas weiche Stimme: „Skoro damoj, Wanja!“ Es klang als wolle das bejahrte russische Mütterchen mir, dem Siebzehnjährigen, neue Lebenskräfte einflößen.

Langsam schritt Matuschka zum kleinen Hausaltar in der Zimmerecke und zündete einen armseligen Kerzenstumpf an, den sie auf einen Schlehdornzweig gesteckt hatte. Ein feierlich anmutender Wachsgeruch erfüllte den kleinen Raum.

Das Neujahrsfest war in Sowjetrussland längst zum Jahrestag von „Väterchen Frost“, des einstmaligen Weihnachtsmannes aus christlich-orthodoxen Zeiten geworden.

Wieder trat Matuschka zu mir an den Tisch heran und hielt mir ein kleines Foto vor die Augen: „Wolodja, unser Sohn…!“ Dem alten Mütterchen entstieg dabei ein Seufzer aus Herzenstiefen.

Leise, nahezu andächtig berührte mich ihr Tonfall, als sie zu sprechen begann: „Er war ein guter Junge, unser einziger. Woldja hatte einen Wuschelkopf wie du, Wanja. Sie haben ihn … diese…“ Matuschka schluckte ein paar unausgesprochene Worte hinunter. Doch dann sprach sie langsam weiter: „Es war im April 1945, kurz vor dem Ende des verdammten Krieges, als er vor Berlin gefallen ist. Viel zu früh musste Wolodja uns für immer verlassen…“

Ich hatte Matuschka wortlos zugehört. Mit blutwundem Herzen hatte mir eine Mutter von ihrem verlorenen Sohn erzählt. Wüste Gedanken peitschten mir durch den Kopf, Schweißperlen traten auf meine Stirn und tropften auf die Hand. Sie kamen nicht bloß von der heißen Hirsesuppe…

Die nächsten Sekunden wurden zu Stunden für mich. Und wieder hörte ich Matuschkas weiche Stimme: „Du wirst sicherlich bald nachhause dürfen Wanja, deine Mutter wartet auf dich.“

In diesem Augenblick hatte ich mich vom Holzstuhl erhoben – ich hielt es nicht mehr länger aus. Ich bedankte mich bei Hrischa und legte dem wehgeplagten Mütterchen die Hand auf den Arm: „Spassivo, Matuschka!“

Hrischa geleitete mich hinaus. Ich war zerknirscht und spürte nichts von der bitteren Kälte dieses Neujahrstages, die mich erneut umgab.

Diese russische Frau hatte mich, den jungen Deutschen, auch heute wieder bemuttert. Was aber musste sie wirklich gedacht haben, als sie den Suppenteller vor mich hinstellte? Konnte sie überhaupt wissen, ob nicht gerade ich es gewesen war, der an jenem Apriltag 1945 ihren geliebten Sohn Wolodja vor Berlin niederstreckte?

Für die verhetzte russische Bevölkerung galten wir Zwangsarbeiter aus dem Banat, genau wie die Kriegsgefangenen aus dem Reich, immerhin als verhasste „Gitlerovzy“. Wir und keine anderen waren schuld am Elendsdasein in diesem riesigen Land.

Die älteren Leute aus der kleinen Bergmannssiedlung glaubten – trotz 30 Jahre Bolschewismus – immer noch an einen Herrgott und klagten ihr „Boje moi“ sobald ein Leid geschah. So erblickte ich denn auf meinem Weg ins Lager sogar ein geschmücktes Tannenzweiglein im Fenster einer Kate.

Das große Arbeitslager mit seinen meterhohen und dreifachen Stacheldrahtzäunen und den überragenden hölzernen Wachtürmen tauchte bald vor mir aus dem milchigen Nebel auf. Ich musste mich jedoch vorerst hinter einem Kiosk verbergen und abwarten, bis die nächste Arbeitsgruppe von
einer Baustelle oder vom nahen Steinbruch ins Lager kam, um mich ihr unbemerkt anschließen zu können.

Als ich die Baracke Nr. 4 betrat, lagen meine Arbeitskumpel bereits unbeweglich auf ihren Schlafpritschen. Die Füße kaum auf dem Strohsack, war auch ich gleich eingeschlafen.

Im Traum sah ich mich wieder daheim. Der weiße Vesta-Küchenherd strahlte wohlige Wärme aus. Der Platz meines Vaters auf dem strohgeflochtenen Stuhl am oberen Tischende war jedoch leer. An der Seite stand eine schmächtige Frauengestalt, die mit dem großen Brotmesser das gewohnte große Kreuzzeichen über dem frischgebackenen, braunkrustigen Brotlaib vollzog, den sie in Händen hielt. Als die Frau ihren Kopf erhob, erkannte ich sie: Es war Matuschka!

Tagelang fand ich keinerlei Deutung für diesen sonderbaren Traum. Sie ergab sich mit der Zeit von selbst: Drei weitere Jahre noch musste ich, mit mehr als 70000 weiteren Frauen und Männern aus dem gottgesegneten Banat und sonnigen Siebenbürgen, im Höllenschlund der sowjetischen Kohlengruben als Zwangsarbeiter weiterhungern und dahinvegetieren.