Festvortrag von Professor Dr. Reinhard Johler anlässlich der Wiedereinweihung des Adam Müller-Guttenbrunn Denkmales
Man sieht, so hat einmal der österreichische Schriftsteller Robert Musil gesagt, alles außer Denkmäler. Und er hat damit gemeint, dass Denkmäler, sind diese einmal feierlich eingeweiht, über die Jahre hinweg die ihnen ursprünglich zugemessene Bedeutung kontinuierlich verlieren können, ja, damit zu einem Verkehrshindernis im schlechtesten, oder zu einem Fotohintergrund im besten Falle werden. Und in der Tat: Nicht anders geht es quer durch die Bundesrepublik den großen Heroen der Geistesgeschichte – Schiller, Goethe, Uhland etwa –, und so geht es auch jenen, die zwar insgesamt weniger bekannt sind, für spezifische Gruppen aber eine hohe Bedeutung haben. Denkmäler – und das wollte Musil sagen – können im Laufe ihres Daseins weitgehend unsichtbar werden. Erst wenn sie wieder neu thematisiert werden, wenn – Neuhochdeutsch ausgedrückt – ihr Sinn neu hinterfragt wird, oder wenn – wie jetzt gerade heute hier in Reutlingen – ihr Ort verlagert wird, dann drängt die Frage nach ihrer aktuellen Bedeutung sich für uns als eine wichtige auf. Denn Denkmäler rühren einerseits aus gemeinsamer Erinnerung und verbindender Gruppenerfahrung her, aber gleichzeitig müssen sie – um eben sichtbar zu bleiben – diese kollektive Erinnerung auch erst wieder neu bündeln bzw. ein – möglicherweise – neues Gruppengefühl schaffen. Eben dies – also noch einmal: die Schaffung einer neuen gemeinsamen Erinnerung und einer neuen einander verbindenden Zusammengehörigkeit – ist angesprochen, wenn ich nun über „Integration und Erinnerung. Ein Denkmal auf dem Weg in die Stadt“ spreche.
Natürlich ist dabei zunächst der zentrale Bezugspunkt der im Denkmal dargestellte Adam Müller-Guttenbrunn. Über den 1852 geborenen und 1923 in Wien verstorbenen Adam Müller-Guttenbrunn brauche ich hier nicht allzu viel vortragen. Vieles ist schon in den Reden gesagt worden und Viele der hier Anwesenden kennen seine Biographie und sein Werk mit Sicherheit bestens. Ich zitiere daher nur eine kurze Stelle – und zwar von Müller-Guttenbrunn selbst aus seinem 1911 unter dem Titel „Schwaben im Osten“ herausgegebenen „deutschen Dichterbuch aus Ungarn“:
„Adam Müller-Guttenbrunn“ – so schreibt er also über sich – „der Sohn eines schwäbischen Bauern, ist an der Marosch geboren, in einem reichen, blühenden Dorfe gegenüber den letzten Ausläufern der Karpathen, die bei Vilagosch drüben in die ungarische Tiefebene hinabsteigen. Der erste Blick vom Fenster seines Vaterhauses fiel jeden Morgen auf die Ruine Vilagosch und befruchtete die Phantasie des Knaben. Früh beschäftigte ihn das ungarische Problem … Sein fast abenteuerlicher Bildungsweg führten über Temeschwar, wo das Gymnasium plötzlich madjarisiert wurde, über Hermannstadt und Wien zu Heinrich Laube und in die deutsche Literatur. Schon vor mehreren Jahren schrieb er auch Schilderungen aus dem Banat, die nunmehr in neuerer reichlich, vermehrter Ausgabe vorliegen. Aber erst jetzt, in seinen reiffsten Jahren, entstanden seine eigentlichen Lebensbücher: ‚Götzendämmerung’, ‚Der kleine Schwab’, ‚Die Glocken der Heimat’. Ist das erstgenannte ein politischer Roman für Männer, wenden sich die andern Bücher mehr an das deutsche Volksgemüt und suchen dort eine Stätte.“
Mit diesen wenigen Sätzen ist noch nicht viel, aber doch Wesentliches gesagt: Adam Müller-Guttenbrunn ist eine bedeutende Persönlichkeit des Banats, der als Schriftsteller auch in Wien Anerkennung gefunden hat. Seine Haltung war groß-österreichisch, im Kampf gegen die Madyarisierung seiner Heimat wohl deutsch-bewusst, aber nicht deutsch-national. Als Autor kann man in ihm einen Vermittler zwischen den Kulturen Mitteleuropas ebenso sehen wie einen Bannerträger von nationaler und kultureller Selbstbehauptung im national aufgehetzten Vor- und Nachkriegseuropa. Nach dem Ersten Weltkrieg – und v.a. nach seinem Tod – ist Adam Müller-Guttenbrunn zum „Erzschwaben“, zum sehr unterschiedlich gesehenen Kämpfer für das Deutschtum in Ostmitteleuropa gemacht worden.
Damit Adam Müller-Guttenbrunn aber zu einer Denkmals-Figur auch in Reutlingen werden konnte, bedurfte es der „großen Geschichte“, der gewaltsamen Geschichte von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle wissen: Mehr als 20 Millionen Menschen waren am Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa Vertriebene. Deutsche hatten daran nicht zufällig den größten Anteil. Denn als Reaktion auf die nationalsozialistische Herrschaft und deren Verbrechen wurden in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ethnisch reine Nationalstaaten geschaffen und die seit Jahrhunderten dort wohnenden Deutschen weitgehend vertrieben. Die direkte Folge dieser Vertreibung waren oft unbeschreibliches Elend und kaum überwindbares Leid. Doch die massenhafte Entwurzelung und der von so Vielen als dramatisch empfundene Heimatverlust führten auch schnell zur Suche nach einem neuen Zuhause – nach einer neuen Heimat. Diese fanden die mehr als 12 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene der unmittelbaren Nachkriegszeit vorwiegend im zerstörten Deutschland. Der deutsche Südwesten – das spätere Baden-Württemberg – nahm davon ca. 1,6 Millionen Menschen auf. Flüchtlinge und Vertriebene bildeten damit ein wenig mehr als ein Fünftel der hiesigen Gesamtbevölkerung. Viele von ihnen stammten aus dem damaligen Jugoslawien.
Im Rückblick mutet die enorme Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen, aber auch die dahinter stehenden Erfahrungen der Einzelnen erschreckend an. Nicht zufällig sprachen Zeitgenossen daher von einem „großen Experiment“, galt es doch die Flüchtlinge und Vertriebene zuerst zu versorgen, ihnen ein Unterkommen zu ermöglichen, sie dann aber auch dauerhaft in die eigene Gesellschaft einzubinden, sie als Neubürger zu integrieren. Schnell ist dabei – parallel zum Wirtschaftswunder – von einem Integrationswunder die Rede gewesen, und falsch war dies nicht. Doch diese Integration geschah vielfältiger, war ein zuweilen konfliktgeladenes Gegenübertreten von Ihr und Wir, waren aber auch ein wechselseitiges Geben und Nehmen, ein offenes Aufeinanderzugehen, aber eben auch ein Aneinandervorbei- und ein Übereinander-Reden.
In Stuttgart wird also die große Geschichte bereits auf ihre kleineren, alltäglichen und lokalen Ereignisse herunter gebrochen. Und das will ich nun in aller Kürze auch für Reutlingen, für die Reutlinger Stadtgeschichte und damit für die hiesigen „Neuen Siedlungen“ der 1950iger und frühen 1960er Jahre unternehmen. Diese „Neuen Siedlungen“ sind quer durch Baden-Württemberg gebaut worden und haben hauptsächlich den Flüchtlingen und Heimatvertriebenen eine Wohnung geboten. Neben den bekannten „Neuen Siedlungen“ etwa in Stuttgart-Rot oder Stuttgart-Giebel war auch die Industriestadt Reutlingen ein Zentrum der Zuwanderung. Vom Leben in diesen „Neuen Siedlungen“ – in Reutlingen etwa: in der „Eberhard-Wildermuth-Siedlung“ in Betzingen – wissen wir vollem durch die in den 1960iger Jahren publizierten Studien des Tübinger Ludwig-Uhlands-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft (im Übrigen meiner zweiten Wirkungsstätte) und ihres früheren Leiters, Hermann Bausinger. Bausinger – zwar kein Donauschwabe, aber doch ein Reutlinger – hat diese Siedlungen nicht mit einem nostalgischen Blick auf eine vergangene Herkunftskultur untersucht, sondern sich um eine realistische Beobachtung der Gegenwart bemüht.
Und er ist dabei mit seinen Mitarbeitern auf die „Entstehung“ neuer „Lebensformen“ gestoßen, „an denen Einheimische und einstige Flüchtlinge in gleicher Weise teilhaben“ würden. Will heißen: Zu beobachten war – in der Sprache der 1950iger und 1960iger Jahre – wie die „Neubürger“ untereinander, aber auch die „Neusiedler“ und die „Alteingesessenen“ miteinander zu Recht gekommen sind. Bausinger hat damals ein zeitliches Schema für die „Integration“ der Heimatvertriebenen entwickelt. Weil es wichtig ist und uns einen Blick in diese Zeit gestattet, will ich dieses Schema an dieser Stelle ausführlich zitieren:
„Die Auseinandersetzung und Begegnung der Flüchtlinge mit der neuen Heimat“ – so schreibt Bausinger – „kann zeitlich in drei Phasen gegliedert werden. Zu Beginn der Ansiedlung sehen sich die Flüchtlinge in eine fremde Umwelt geworfen, in der sie sich provisorisch einzurichten versuchen. In dieser Notsituation sind die Reaktionen spontan. Die Einheimischen begegnen den Flüchtlingen oft mit echter Hilfsbereitschaft. Die Flüchtlinge können meist nur das Allernächstliegende besorgen, sie werden vom Kampf um den Lebensunterhalt fast völlig in Anspruch genommen. Erst als der schlimmste Druck nachlässt, können sich die Flüchtlinge bewusst mit der neuen Heimat auseinandersetzen. Mit diesem Zeitpunkt kann der Beginn der zweiten Periode angesetzt werden. Die Flüchtlinge betonen jetzt ihre Zusammengehörigkeit, das landsmannschaftliche Leben beginnt sich zu entfalten; die Vereine erleben Höhepunkte der gemeinsamen Leistung. Andererseits zeigt sich eine bewusste Hinwendung zur neuen Wirklichkeit. In diese Periode fällt die stärkste Reisetätigkeit. Die meisten Streitereien zwischen Einheimischen und Flüchtlingen finden in dieser Zeit statt. Nach einiger Zeit – mit Beginn einer dritten Periode – erlahmt diese Aktivität. Die Arbeit und das Interesse an gemeinsamen Bauprojekten lassen nach; größere Siedlerfeste verschwinden vielfach, und die zunächst sehr engen Beziehungen der Siedlungsbewohner untereinander werden distanzierter. Das ganze Leben wird ‚normaler’; man strebt nach ‚gesundem Wohlstand’, und oft entwickeln sich Heimatgefühl und Spießbürgerlichkeit Hand in Hand.“
Natürlich haben viele auf Bausinger folgende Forschungen dieses Schema weiter ausdifferenziert. Für unseren Blick auf Reutlingen aber reichen die drei ausgeführten Phasen vollständig. Nach dem Leben im Lager begann in der zweiten Periode einerseits eine massive Bautätigkeit – und damit in den „Neuen Siedlungen“ eine erste Form der Beheimatung im ganz ursprünglichen Sinne. In Reutlingen-Ohmenhausen etwa wurde in dieser Zeit die donauschwäbische Nebenerwerbs-Siedlung „Mahdach“ errichtet. Andererseits war diese Bautätigkeit von einer intensiven „Heimatsuche“ der Vertriebenen begleitet. Diese so wichtige „Heimatsuche“ fand einen ersten Höhepunkt im „Bundestreffen der Donauschwaben“, das am 9. und 10. August 1952 – nicht ganz zufällig – in der Heimatvertriebenen-Stadt Reutlingen unter dem bewusst gewählten Motto „100 Jahre Adam Müller-Guttenbrunn“ stattgefunden hat.
Das Festprogramm zeigt bildlich und inhaltlich das Aufeinanderzugehen von Reutlingern und Donauschwaben – man ist schwäbisch oder donau-schwäbisch –, es zeigt aber ebenso den kulturellen Selbstbehauptungswillen der Vertriebenen. „Wir bleiben“, so hat damals der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien gesagt, „Siedler!“ – Für Beides, für das Zusammenleben und für die kulturelle Eigenständigkeit der Donauschwaben, bedurfte es aber eines starken Symbols, einer überzeugenden Darstellung, einer konkreten Verkörperung. Und eben diese wurde in Adam Müller-Guttenbrunn gefunden. Und so versprach man während der Bundestagung ein Denkmal für ihn zu errichten – und man errichtete es dann auch am richtigen „donauschwäbischen Ort“: am Rande der Siedlung Reutlingen-Ohmenhausen, nahe beim Wald.
Die dem Denkmal 1959 beigefügte Urkunde bezeichnet genau diese Intention. Aber in der Urkunde ist bereits auch von „anderen Aufgaben in der Gegenwart“ die Rede. Es sind dies die Aufgaben in der dritten Periode von Integration – in denen das Leben nach Bausinger „normaler“ wurde und dies auch darum, weil das neue „Daheim“ zunehmend gefunden wurde. Dies aber bedeutete, dass die Donauschwaben – v.a. in den folgenden Generationen – sich zunehmend integriert fühlen, daher auch die „Neuen Siedlungen“ der 1950iger Jahre verlassen konnten und Adam Müller-Guttenbrunn somit an seinem Platz ein weitgehend unbekanntes Denkmal wurde – zu einem unerkannten „Dichter“ eben, der verlassen – und damit unsichtbar geworden – im „Walde“ stand.
Die vollzogene Integration der Donauschwaben – so könnte man sagen – hat das Adam-Müller-Guttenbrunn-Denkmal an seinem ursprünglichen Platz unnötig gemacht. Dass ihm nun aber als „heimatsuchendes Denkmal“ mit der Verlegung hierher zur Heimatstube Neu-Pasua (und somit deutlich stärker im Reutlinger Stadtzentrum gelegen) eine neue Heimat zugewiesen und somit eine kleines „Erinnerungs-Zentrum“ an die Geschichte der Donauschwaben geschaffen wurde, finde ich richtig und wichtig – und will dies doch auch noch kurz zum Abschluss begründen. Denn will das Denkmal nicht sofort wieder unsichtbar werden, dann bedarf es einer neuen, einer unserer Gegenwart angepassten Bedeutung. Worin könnte diese aber liegen und für wen könnte sie wichtig sein?
Ich gebe zwei kurze Antworten und dann ein zusammen fassendes Resümee.
Die erste Antwort: Das Adam-Müller-Guttenbrunn-Denkmal ist ursprünglich von den vertriebenen Deutschen aus Jugoslawien errichtet worden; seine Neuaufstellung hingegen wurde primär von den Banater Schwaben vorangetrieben. Dies kann auch als Zeichen einer gemeinsamen Herkunft – und einer recht ähnlichen – Geschichte genommen werden. Für Adam-Müller-Guttenbrunn waren die geographischen Trennungen, die wir heute so wichtig nehmen, sowieso noch kaum von Bedeutung. Vielleicht sollten wir unsere Arbeit daher hin und wieder auch stärker an ihm und der von ihm beschriebenen Welt orientieren.
Meine zweite Antwort zielt nicht auf die Landsmannschaften, sondern auf die Stadt Reutlingen: Dadurch nämlich, dass Adam-Müller-Guttenbrunn vom Rand näher ins Zentrum rückt und damit seinen Weg von der Donauschwaben-Siedlung in Stadt nimmt, wird Flucht und Vertreibung – werden somit die Donauschwaben insgesamt – zum selbstverständlichen Teil des städtischen kulturellen Erbes. Ein ursprünglich „fremder Dichter“ wird somit einheimisch. Diese Beheimatung aber passt m. E. bestens auch zu den Zielen der „Heimattage“, die vor kurzem in Reutlingen zu Ende gegangen sind. Die Reutlinger „Heimat“ schließt nämlich viele Zuwanderer mit ein.
Ich komme damit zum abschließenden Resümee: Vom Schweizer Architekturhistoriker Siegfried Giedion stammt die Beobachtung, dass sich in jedem noch so unbedeutenden Kaffeelöffel die Sonne spiegle, dass also im Kleinen auch das Große enthalten sei. Für das Adam-Müller-Guttenbrunn-Denkmal in Reutlingen trifft dies jedenfalls zu. Denn in ihm spiegelt sich die Reutlinger Geschichte – zu ihr habe ich bereits Stellung bezogen –, aber auch die europäische Geschichte von Flucht und Vertreibung, von Neu-Beheimatung, Wiederentdeckung des Verlorenen und neuem europäischen Zusammenfindens. Es zeigt – schon wegen des Sterbens der Erlebnisgeneration – die „Anwesenheit des Abwesenden“, es veranschaulicht zudem das „Hier“ in Baden-Württemberg und das „Dort“ in Südostmitteleuropa, und es lässt und letztlich auch das „Gestern“, das „Heute“ und das „Morgen“ vor unsere Augen treten.
Das ist nicht wenig! Und dafür lohnt es hier zu sein.