Die Landesausstellung „Ihr und Wir“ erinnert nicht nur an die Integration der Heimatvertriebenen, sondern entdeckt sie neu
Anfang 1946 wandte sich der Flüchtlingskommissar für Württemberg-Hohenzollern Theodor Eschenburg in einem Merkblatt an die eingesessene Bevölkerung mit folgenden Worten: „Die Aufnahme von vielen Tausenden Ausgewiesenen stellt ein großes Experiment dar… Wenn wir wollen, dass dieses uns auferlegte Experiment gelinge, dass nicht eine Elendschicht entstehe, die für uns alle eine Last und Sorge darstellt, kann zwar der Staat hierfür die organisatorischen Voraussetzungen schaffen, aber das Gelingen könnt nur Ihr zusammen mit den Neuankommenden zustande bringen.“ Damit fasste der künftige Politikwissenschaftler die sich mit der massenhaften Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen anbahnenden gesellschaftlichen Umwälzungen in einer anschaulichen Metapher. Denn weder gab es Erfahrungen mit Bevölkerungsverschiebungen in diesem Umfang, noch war die gesellschaftliche Entwicklung der Heimatvertriebenen vorgezeichnet oder vorhersehbar. Ähnlich wie der ostbayerische ländliche Raum bildete der deutsche Südwesten einen räumlichen Schwerpunkt in der Verteilung der Flüchtlinge und Vertriebenen. In den zwei Besatzungszonen im Südwesten (amerikanisch und französisch) wurden allein bis 1950 mehr als eine Million Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen. Etwa Drei Viertel von ihnen waren Auslandsdeutsche, vor allem aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien. Ihre Zahl sollte in den 1950er Jahren weiter anwachsen. Hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten wurde nämlich die amerikanische Besatzungszone von den Betroffenen als attraktiv empfunden.
Das Haus der Geschichte Stuttgart zeigt noch bis zum 22. August 2010 die überzeugend konzipierte und aufschlussreich gestaltete, gemeinsam mit dem Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde erarbeitete Sonderausstellung „Ihr und Wir. Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg.“ Die auf den ersten Blich ungleichen Kooperationspartner haben sich nicht zum ersten Mal zusammen getan. Mathias Beer und Paula Lutum-Lenger bilden seit vielen Jahren ein arbeitsteilig eingespieltes Kompetenzteam. 1995 präsentierten sie die gemeinsame Ausstellung, „Fremde Heimat“, die dem vorwiegend von Donauschwaben bewohnten Flüchtlingslager Schlotwiese in Stuttgart-Zuffenhausen gewidmet war. Im entstehungsgeschichtlichen Rückblick kommt der damaligen Wanderausstellung eine Pilotfunktion für die jetzt verwirklichte Große Landesausstellung zu.
Für das vom Krieg und seinen Folgen gekennzeichnete Deutschland stellte die Eingliederung von mehr als zwölf Millionen Vertriebenen ein äußerst schwieriges Unterfangen dar. Den Autoren der Ausstellung kam die Aufgabe zu, den Verlauf und die Merkmale des Integrationsprozesses im deutschen Südwesten sichtbar zu machen. Darzustellen war, unter welchen sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Integration stattfand, welche Faktoren Einfluss auf ihren Verlauf hatten und inwieweit man diese als erfolgreich bezeichnen kann.
Konzeption und Inhalte
Die Ausstellung fasst Integration nicht nur als einen vielschichtigen und langfristigen Prozess auf, sondern stellt die wechselseitigen Beziehungen zwischen heimatvertriebenen „Neubürgern“ und der Aufnahmegesellschaft in den Mittelpunkt der Präsentation. Sie untersucht die Entstehung der deutschen Nachkriegsgesellschaft im Südwesten unter dem Gesichtspunkt jener dauerhaft wirksamen Veränderungen, die mit der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die einheimische Gesellschaft eng verbunden sind. Im Blickfeld der Ausstellungsmacher stehen jene Bereiche der Daseinsvorsorge und gesellschaftlichen Handlungsräume, die eine hohe Kontaktintensität zwischen „Heimatvertriebene“ und „Alteingesessenen“ aufweisen: Wohnen, Arbeiten, Familie, Kirche, Vereine, Tradition und Erinnerung. Daraus ergibt sich eine große thematische Spannbreite für die Veranschaulichung des Integrationsprozesses. Elementare Fragen mit Lokalbezug alternieren mit solchen von großer politischer Tragweite. Verschiedene Kontaktsituationen werden anhand von Fallbeispielen unter Heranziehung authentischer Ausstellungsobjekte und „Geschichten“ dargestellt. Eine Folge von Bildern zieht an den Augen des Betrachters vorbei, die an verschiedene Themen anknüpfen und in geordneten Gruppen die unterschiedlichsten Situationen und Schlüsselmomente im Leben der Heimatvertriebenen veranschaulichen. Die Schau bietet zwar ein breites thematisches Spektrum, gleichsam kann die Beschreibung des Alltags nur eine fragmentarische sein. Um den Verlauf des Eingliederungsprozesses angemessen darzustellen, schlägt die Ausstellung einen zeitlichen Bogen von der Ankunft der Heimatvertriebenen 1944/1948 bis in die Gegenwart. Letztendlich überspannt sie einen Zeitraum von drei Generationen, wie es die klassische Integrationstheorie schon immer wissen wollte.
Die bisherigen Ausstellungen zum Thema Flucht und Vertreibung waren einseitig auf die Gruppe der Betroffenen zentriert. Dieser vorherrschenden Perspektive hält die Ausstellung „Ihr und Wir“ ein anderes Erklärungsmodell entgegen, welches die vielfältigen Kommunikationsbeziehungen von Heimatvertriebenen und eingesessener Bevölkerung bis zum vollständigen Hineinwachsen in die einheimische Gesellschaft aufzeigt. Dieses vielgestaltige Beziehungssystem der Flüchtlinge und Vertriebenen zu ihrer realen Umwelt, steht im Mittelpunkt der Ausstellung.
Der Prozess des Eingebundenseins in eine zunächst fremde Gesellschaft wird gemeinhin als Integration bezeichnet. Integration bedeutet Eingliederung in eine gewandelte gesellschaftliche Umwelt. Nur in Interaktion mit ihrer Umwelt entwickeln sich die Flüchtlinge und Vertriebenen zu gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekten mit einem eigenen Zugehörigkeitsbewusstsein. Die sich anbahnende Identitätsbildung der Heimatvertriebenen vollzieht sich aufgrund von Anpassung, Eingliederung und letztendlich tiefgreifender Akkulturation an ihre Umgebung, bis zum Verschwinden der ihnen zugeschriebenen kulturellen Merkmale. Die Autoren der Ausstellung beschreiben die Institutionen, mit denen Flüchtlinge und Vertriebene unmittelbar konfrontiert wurden, und die ihnen gesellschaftlich anerkannte Werte und Normen direkt oder indirekt vermittelten und ihr Weltbild prägten: Familie, Lagergemeinschaft, Bildungseinrichtungen und das politische System. Dem alsbaldigen institutionellen Zusammenschluss der Heimatvertriebenen, der von der Gründung von karitativen Selbsthilfeorganisationen zu landsmannschaftlichen Verbänden führte, kam im Prozess der Eingliederung eine wesentliche Rolle zu.
Austellungsgestaltung
Die Konzeption der im Sonderausstellungsraum des Hauses der Geschichte gezeigten Schau überzeugt nicht nur inhaltlich, sondern auch gestalterisch. Der Eingansbereich ist durch eine Glaswand abgetrennt, die Auskunft gibt über die Vertreibungsorte – historische Regionen, Siedlungslandschaften, Erinnerungsorte –, in denen die „alte“ Heimat der Flüchtlinge und Vertriebenen lag. Eine auf dem Boden Kopf liegende (gesüdete) und von Lichtprojektionen – zahlenmäßiger Umfang der geflüchteten und vertriebenen Bevölkerung, Richtungspfeile – durchströmte Landkarte wiedergibt die Bewegungsdynamik der Menschenmassen und bringt die Vertreibungsgebiete dem Betrachter näher. Eine auf den ersten Blick monotone Architektur bestimmt das Bild des Ausstellungsraumes: Die 28 Schaukästen suggerieren die Einförmigkeit von Notunterkünften, eines Barackenlagers, dessen Weite durch den Spiegeleffekt von drei Seitenwänden potenziert wird. Der gewählte Darstellungsrahmen – gleichförmige Vitrinen – zwang zur knappen Darstellung. Es sind daher sparsame Skizzen entstanden, die zwar nur wenige Striche enthalten, aber wesentliche Konturen zentraler Ereignisse und Vorgänge in ihrer lokalen und individuellen Ausprägung wiedergeben. Dennoch fehlt es auch nicht an Details – auf den ersten Blick Nebensächlichkeiten. Aber gerade diese fesseln, gehen doch gerade bei komplexen Vorgängen dem Betrachter die Augen oft nur beim scheinbar Kleinlichen und Anekdotischen auf. Im Vordergrund der „Erzählungen“ stehen die auf mikrogeschichtlicher Ebene handelnden „kleinen“ Akteure, nicht die abstrakte Flüchtlingsgesellschaft.
Auf der verbliebenen Seitenwand wechseln filmische Interviews mit Heimatvertriebenen und Einheimischen aus der Erlebnisgeneration und den nachfolgenden Generationen ab. Ihre Inhalte beziehen sich auf Selbsterlebtes, den im Gefolge von Integration vollzogenen Identitätswandel und den Stellenwert von Flucht und Vertreibung in der Erinnerungskultur der Gegenwart.
In der Intention der Ausstellungsmacher soll der Betrachter die im Hauptausstellungsraum gewonnenen Erkenntnisse mit in den auf Ebene 6 befindlichen Galerieraum nehmen, wo explizit Bezug auf die Aktualität des Ausstellungsthemas genommen und beispielhaft auf das Vertreibungsschicksal von im Land lebenden Menschen aus verschiedenen Kriegs- und Krisenregionen der Welt verwiesen wird. Spannt man den Bogen von der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge zu der heute vorgefundenen Situation, so drängen sich doch große Unterschiede auf. Die Besucheranalyse wird zeigen, ob diese Konstruktion einen aufklärerischen Gewinn darstellt oder eher als didaktische Falle zu werten ist.
Das reich illustrierte Begleitbuch bietet zusätzliches Grundwissen. Der einführende Beitrag von Mathias Beer leuchtet die komplexen historischen Hintergründe von Flucht, Vertreibung und Integration aus, Paula Lutum-Lenger stellt das Konzept der Ausstellung dar. Die „Geschichten“, die den einzelnen Vitrinen zugrunde liegen, erfahren eine anspruchsvolle Vertiefung in den Schilderungen von Mathias Beer, Christopher Dowe und Sabrina Müller. Johannes Häußler stellt den Bezug zur heutigen Flüchtlingsproblematik her.
Neue Pfade, sachlicher Beitrag
In der Gegenwart ist die Debatte über Flucht, Vertreibung und Integration der Heimatvertriebenen im erinnerungsgeschichtlichen aber auch im migrationspolitischen Bereich angesiedelt. Dazu leistet die Große Landesausstellung „Ihr und Wir“ im Haus der Geschichte Stuttgart einen kompetenten und sachlichen Beitrag. Sie setzt neue inhaltliche Akzente, beschreitet unbekannte methodische und gestalterische Pfade und erfindet durch ihre zentrale Fragestellung die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen in die deutsche Nachkriegsgesellschaft neu. Der Fokus der Ausstellung liegt auf jenen Kontaktsituationen interagierender Gruppen im gemeinsamen gesellschaftlichen Raum, denen eine integrative Funktion beizumessen ist.
Die Ausstellungsmacher haben wichtige Erkenntnisse und Positionen der Forschung in die Präsentation eingebracht und sie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Flucht, Vertreibung und Integration waren komplexe Vorgänge. Kein Wunder, wenn in der öffentlichen Diskussion an dem einen oder anderen Punkt bestimmte real- oder erinnerungsgeschichtliche Deutungen und Auffassungen unterschiedlich sind, ja sogar miteinander kollidieren. Die Geschichtsdeutung der so genannten Erlebnisgeneration beruht auf der von eigener Erfahrung bestimmten Aneignung und Fortschreibung von (selbst erlebter) „Geschichte“. Dagegen strebt die historische Forschung den Fortschritt distanzierten Betrachtens, ja objektiver Erkenntnis an. Die Große Landesausstellung sieht sich dem Ziel verpflichtet, wissenschaftlich fundiertes Wissen über die Aufnahme und Integration der Heimatvertriebenen zu vermitteln wie auch neue Facetten des Eingliederungsvorgangs zu entdecken. Außer ihrem historischen Dokumentationswert ist ihr auch eine hohe erinnerungsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Relevanz zuzuschreiben. Durch das Zusammenspiel wissenschaftlich abgesicherter und größtenteils selbst erarbeiteter Inhalte und überlegter musealer Gestaltung ist ein gelungenes, abgerundetes Bild eines hochkomplizierten gesellschaftlichen „Experiments“ entstanden. Vor dem Hintergrund eines weitgehend konstanten Interesses der Forschung an diesem großen Thema der deutschen Zeitgeschichte eröffnet die Ausstellung „Ihr und Wir“ neue Perspektiven in der Erschließung der Lebenswelt der Heimatvertriebenen in der frühen Bundesrepublik. Sie kann als richtungweisende populäre Diskursform zum Thema Integration der Heimatvertriebenen angesehen werden. Die künftige Dauerausstellung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) im Deutschen Historischen Museum wird sich an den von ihr gesetzten Maßstäben messen lassen müssen.
Die Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Konrad-Adenauer-Straße 16) kann besichtigt werden: täglich (außer montags) von 10 bis 18 Uhr; donnerstags bis 21 Uhr. Das Begleitbuch: „Ihr und Wir. Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg“, 142 S., ISBN 978-3-933726-31-5 ist im Museumsshop zum Preis von 12,50 Euro erhältlich.