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Erinnerungen einer Eichenthalerin

Das Banater Dorf Eichenthal liegt etwa 20 Kilometer südostlich von Lugosch. Foto: maps.google.de

Am 16. September fand mittlerweile das dritte Treffen der Lugoscher im bayrischen Vöhringen statt, zu dem der HOG-Vorsitzende Herbert Petri auch immer wieder Landsleute aus den umliegenden Dörfern, also auch uns Eichenthaler, zum Mitfeiern einlädt, ist Herbert Petri doch ein Lugoscher mit Eichenthaler Wurzeln. Jeder Banater Schwabe kennt Lugosch, oder glaubt es zumindest zu kennen. Auch ich meinte immer, Lugosch recht gut zu kennen, obwohl ich dort nie so richtig gewesen bin.
Ich bin selbst 1952 in dem kleinen banatschwäbischen Dorf Eichenthal (Gyulatelep) geboren, das so ungefähr 20 km südostlich von Lugosch entfernt liegt. Früher, als ich noch mitten auf der Hauptgasse im Staub des winzig kleinen Eichenthals spielte, da war Lugosch für mich die größte Stadt, irgendwo ganz weit weg, dort, wohin man nur mit Vaters Pferdewagen über viele größere Dörfer als Gyulatelep kommen konnte. Ganz zu schweigen von dem Abenteuer, wenn es mal mit dem Zug und ihrer großen fauchenden Lokomotive nach Lugosch ging. Mit dem Pferdewagen fuhren meine Eltern auf einem holprigen, staubigen Feldweg raus aus Eichenthal Richtung Silwasch (Salbagel), dann irgendwann über den kleinen Fluss Jdioara, in dem wir und die Pferde manchmal im Sommer baden durften, und danach endlich raus auf die breite und asphaltierte Straße bei Gavoschdia, Richtung Lugoschel bis nach Lugosch zum Stadtmarkt. Und was ich damals schon sehr sonderbar fand, waren die vielen eckigen Kopfsteinpflastersteine, mit denen die ganze Stadt ausgelegt zu sein schien. Das fand ich damals sehr witzig, da sich das Traben der Pferde darauf ganz schön laut anhörte. 
Zu Fuß konnte man eigentlich nur ins Nachbardorf Tschukosch (Ebendorf - Stiuca) laufen oder nach Sakul (Sacu) radeln, denn da waren dann immerhin schon fünf oder gar zehn Kilometer zu bewältigen. Für mein damals kindliches Verständnis war Lugosch nicht nur die größte, sondern auch die herrlichste Stadt der Welt. Meine Eltern brachten von dort immer so schöne Sachen mit, wie Karamell- und Seidenbonbons, Kekse, Eugenia, Citro-Saft, Kleiderstoffe, Christbaumkugeln, Salonzuckerl, Töpfe, Parizer Wurst, Salami, Bier, frischen oder geräucherten Fisch und sogar Ferkel. Ja, lebendige quirlige Ferkel, die bei uns zu Hause bis zum Winter dick und groß wurden und Wurst, Speck, Grieben, Schmalz und Schinken lieferten. Damals freuten wir Geschwister uns über all das, und es war für uns ganz selbstverständlich, dass es in Lugosch Schöneres gab als in unserem Dorfladen, der „Cooperativa“, wo es fast alles gab, was man für den Haushalt so benötigte. Lugosch war eben was ganz Besonderes und Unerreichbares, das ich als Kind nur ganz selten zu Gesicht bekam. Denn für ihre Marktgeschäfte mussten unsere Eltern in aller Herrgottsfrüh losfahren, da lagen wir Kinder noch in den Federn.
Viel später erfuhr ich von meiner Mutter, was es mit den Stadtbesuchen in Lugosch auf sich hatte, da man doch ab und zu auch in das kleinere und etwas näher zu Eichenthal liegende Karansebesch hätte fahren können, wo zudem auch nahe Verwandtschaft lebte. In beiden Städten gab es natürlich je einen großen Markt und recht viele Kaufläden, doch zum Einkaufen ging’s immer nur nach Lugosch. Zum Verkauf von unserem Mehl, unseren Eiern und Hühnern und überschüssigen Produkten aus dem großen Obst- und Gemüsegarten ging’s mit dem Pferdewagen oder per Bahn und mit dem Henkelkorb am Arm wiederum nach Karansebesch. Warum das? Nun, in Lugosch kaufte man damals billiger ein und in Karansebesch kriegte man mehr Geld für seine Ware. Logisch, gell?
Als meine Familie 1960 nach Reschitz zog – ich war gerade mal sieben Jahre alt und in der ersten Klasse – da änderte sich langsam mein „Weltbild“ über die „größte Stadt der Welt“, Lugosch, denn Reschitz war ja in der Tat größer und dazu auch gebirgig. Und als ich zwölf Jahre später zum Studieren nach Temeswar zog und weitere achtzehn Jahre dort lebte und arbeitete, änderte sich erneut mein Größenverständnis bezüglich meiner Umwelt. Nun war natürlich Temeswar größer, schöner und wichtiger als Lugosch oder Reschitz oder als das winzige Eichenthal, das in den 1970er Jahren gänzlich als banatschwäbisches Dorf verschwand und seither nur noch als ein rein ruthenisch-ukrainisch bewohntes Dorf fortbestand, mit dem Namen Sălbăgelu-Nou.
Mein Mann und ich flüchteten noch vor dem Mauerfall nach Augsburg und fühlen uns seither hier wohl und zuhause. Und wisst ihr was? Eichenthal, mein Geburtsdorf, da wo nur noch unsere banatschwäbischen und böhmischen Ahnen im Friedhof liegen, wurde mit der Zeit in meinen Erinnerungen ganz groß und Reschitz und Temeswar immer kleiner. Und Lugosch? Ach ja, das hätte ich inzwischen fast vergessen, wenn es da nicht zu einem Zwischenfall gekommen wäre, der mich wieder mitten in die Kopfsteinpflasterstadt und ins damalige Banat versetzte.
Es war 1991, also recht kurz nach dem Mauerfall, als wir es zum ersten Mal wagten, auf einen Besuch nach Rumänien, nach Temeswar und Reschitz, aufzubrechen. Natürlich wusste auch unser Augsburger Freundes- und Bekanntenkreis darüber Bescheid, und sie gaben uns die besten Ratschläge mit auf den Weg. Sie warnten uns vor der Fahrt durch Budapest, dass man sich bei der Einfahrt unbedingt ganz links halten müsste, um nicht die Petöfi-Brücke zu verpassen und im schlimmen Verkehrschaos der ungarischen Hauptstadt zu landen. Und so meinte Lenuța, eine Bekannte aus der Lugoscher Gegend, die kurz zuvor auch in ihrer alten Heimat zu Besuch war - allerdings mit einem Reisebus - ganz fest und eindringlich: „Pe Autobahn te mai poți pierde, dar în România, numa ‘naince, că nu te mai perzi“ („Auf der Autobahn kann man sich leicht verfahren, aber in Rumänien geht’s nur immer gerade aus! Da verfährst du dich nicht mehr!“) 
So fuhren wir endlich los, gewappnet, gerüstet und vollbepackt ab Augsburg Richtung Grenzübergang Nădlac. Numai înainte! Banat, wir kommen! Und es ging alles glatt, auf den Autobahnen in Deutschland, Österreich und Ungarn, über die Petöfi Brücke in Budapest, auch im Straßenwirrwarr entlang der Verkehrsinsel beim Notariat in Temeswar, dem berühmten „sens giratoriu“, bis … nun ja, bis wir nach Lugosch kamen. Da ging’s auf einer asphaltierten Straße in die Stadt hinein, dann über die Temesch, dann nach links und nach rechts und wieder weiter auf einer langen Asphaltstraße, bis wir plötzlich in einer recht breiten Sackgasse landeten! Wir hatten uns verfahren - upps, Lenuța! - und mussten umkehren. Was war geschehen? Weiter vorne hätte man auf der asphaltierten Straße nicht weiter geradeaus fahren sollen, erklärte uns ein freundlicher Lugoscher, sondern von der geteerten Straße auf die mit Kopfpflastersteinen belegte Hauptstraße abbiegen. Nun, wer, wie wir beide, den Führerschein hier in Deutschland und nicht in Rumänien „gemacht“ hat, konnte ja nicht im Entferntesten ahnen, dass es im rumänischen Straßenverkehr keine Vorwegweiser gibt und dass man sofort abbiegen muss, sobald irgendwo ein Verkehrsschild an der Straßenecke steht, an einem Baum befestigt ist oder an einer Hauswand hängt. Und das war damals absolut verwirrend für uns. Also nix „numa nainte că nu te pierzi“, liebe Lenuța! Denn wir verfuhren uns dann auch in Arad bei der Rückfahrt und ein Jahr später nochmals in Lugosch. Hier in Deutschland ist uns sowas kaum passiert, und auf der Autobahn schon gar nicht. 
Liebe Lugoscher, könnt ihr euch noch an eure Stadt und ganz besonders an die Kopfsteinpflastersteine erinnern? Ich werde sie jedenfalls nie vergessen und sie bestimmt vermissen, auch wenn sie irgendwann dort nicht mehr liegen werden. Und noch etwas! Ich freue mich immer auf ein Wiedersehen mit euch, denn unsere ähnliche Geschichte des banatschwäbischen Zusammenlebens und unseres Exodus aus dem Banat Richtung Westeuropa und Übersee schweißen uns doch auf immer ganz eng zusammen.