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Der Herkunftsregion zugewandt

Prof. Anton Sterbling auf einer Veranstaltung des Kulturwerks der Banater Schwaben Bayern e.V. Foto: Archiv Banater Post

Zum 70. Geburtstag des Soziologen und Schriftstellers Anton Sterbling

Geboren wurde Anton Sterbling am 12. April 1953 in Großsanktnikolaus, einer Kleinstadt in der Banater Heide, im äußersten Westen Rumäniens. Seine kindlichen Überlegungen gemeinsam mit der Großmutter, wie er der Schule als Weingartenhüter oder Kuh- und Schafhirte entkommen könne, um immer in der freien Natur sein zu können, konnte er dann zum Glück doch nicht umsetzen. Vielmehr setzte bei ihm in der Schule schnell der Ehrgeiz ein, zu den besten Schülern seiner Klasse zu gehören. Dienlich dafür waren seine Lesefreude, gespeist u.a. von der Möglichkeit bundesdeutsche Schulbücher, Lehrerbeihefte, pädagogische Lehrbücher und Nachschlagewerke vom Onkel, der Grundschullehrer war, ausleihen zu können. Sterblings Vater wollte allerdings, dass sein Sohn einen handwerklichen Beruf erlernt. Seiner Meinung nach könne man im Sozialismus nur „mit seiner Hände Arbeit“ sein „Brot ehrlich verdienen“, denn nach einer höheren Bildung würde sich jeder in den „Armen der Kommunisten“ wiederfinden. Seine Mutter, die gerne Lehrerin geworden wäre, was ihr aus finanziellen Gründen verwehrt geblieben war, konnte sich jedoch durchsetzen, so dass Anton Sterbling die Aufnahmeprüfungen für die deutschsprachige Abteilung des Lyzeums seiner Heimatstadt absolvieren konnte. Er bestand mit der zweitbesten Gesamtnote und, um das gleich vorwegzunehmen, legte schließlich 1972 an derselben Schule auch sein Abitur ab.

Schüler des Lyzeums in Großsanktnikolaus waren auch Werner Kremm, Johann Lippet, William Totok und Richard Wagner, mit denen sich Sterbling im Literaturkreis unter Anleitung der Deutschlehrerin Dorothea Götz für die deutschsprachige Literatur des Westens begeistern ließ. Nach Veröffentlichungen von Selbstgeschriebenem auf der Schülerseite der „Neuen Banater Zeitung“ (NBZ) und in anderen Publikationen wurde der Kontakt zu weiteren jungen Banater Autoren hergestellt, darunter Rolf Bossert, Gerhard Ortinau, Ernest Wichner und Albert Bohn, die mit den Vorgenannten zu den Gründungsmitgliedern der „Aktionsgruppe Banat“ gezählt werden.

Diese Kontakte sollten sich wegweisend, gewissermaßen bis in die Gegenwart, erweisen. Anton Sterbling konnte nach einem „demonstrativen Fluchtversuch“, wie er ihn bezeichnete, während der 11. Klasse nur unter Schwierigkeiten sein Abitur ablegen. Diese „Provokation“ führte allerdings dazu, dass er nicht Germanistik und Romanistik an der Universität Temeswar studieren durfte, sondern auf das Fach Elektronik am Institut für Betriebsingenieure in Reschitza ausweichen musste. Trotz der Entfernung seines Studienortes zu Temeswar war er bei der Aktionsgruppe Banat aktiv dabei.

Gemeinsam waren dem jungen Freundeskreis die Diskussionsfreude sowie vor allem die Begeisterung für die avantgardistische Literatur und der Drang zur Veränderung, wie im April 1972 in einem Rundtischgespräch in den Redaktionsräumen der NBZ zutage kam.

Die „Aktionsgruppe Banat“ war sozusagen geboren, auch wenn ihre Anfänge bereits ins Lyzeum in Großsanktnikolaus zurückreichten und sie erst etwas später, ebenfalls in der NBZ, diesen Namen verliehen bekommen sollte. Der provozierende Name wurde von dem Kreis bereitwillig angenommen. Bei den provokativen öffentlichen Auftritten in Temeswar und in mehreren Dörfern wurde ihm alle Ehre gemacht, was recht schnell auch die Aufmerksamkeit des Geheimdienstes Securitate nach sich zog.

Nach einer öffentlichen Feier zum dreijährigen Bestehen der „Aktionsgruppe Banat“ 1975 an der Universität Temeswar, auf der auch eine Textmontage mit dem provozierenden Titel „Von allen Seiten stürmisch begrüßt“ vorgetragen wurde und an die sich eine private Feier anschloss, wurde die Gruppe von der Securitate zerschlagen. Anton Sterbling und Ernest Wichner hatten bereits einen Ausreiseantrag gestellt und konnten 1975 Rumänien verlassen. Einige Autoren der Aktionsgruppe wurden danach verhört, festgenommen oder eingeschüchtert; fast allen hat das spätstalinistische Ceaușescu-Regime das Leben in Rumänien unmöglich gemacht, so dass sie in den 1980er-Jahren nach Deutschland ausgewandert sind.

Nach seiner Ankunft im Westen Deutschlands begann Sterbling an der Universität Mannheim ein Studium der Sozialwissenschaften, das er 1981 als Diplom-Soziologe abschloss. Von 1982 bis 1997 war er in verschiedenen Positionen an der Universität der Bundeswehr in Hamburg tätig, wo er 1987 mit einer Arbeit über „Eliten im Modernisierungsprozess“ promovierte, die mit einem Wissenschaftspreis ausgezeichnet wurde. Sechs Jahre später folgte die Habilitation im Fachbereich Soziologie. Nach Professurvertretungen an den Universitäten Heidelberg und Bonn war er von 1997 bis zu seiner Emeritierung 2019 Professor für Soziologie und Pädagogik an der Hochschule der Sächsischen Polizei in Rothenburg/Oberlausitz.

Die Zugehörigkeit zur Aktionsgruppe Banat hat Sterbling nicht nur „intellektuell nachhaltig“ geprägt, wie er in seinem Vortrag auf der Tagung im April 2012 in Temeswar anlässlich des 40. Jubiläums der Aktionsgruppe bekannte, sondern sie hat ihn auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit „immer wieder inspiriert und beschäftigt“.

Die thematische Bandbreite von Sterblings Werk ist beeindruckend: Darunter fallen soziologische und andere sozialwissenschaftliche Arbeiten, historische und auch literatur- und sprachwissenschaftliche sowie im weitesten Sinne außerdem kulturwissenschaftliche Themen. Institutionenwandel, Intellektuelle und Eliten, Globalisierung, Europäisierung, Regionalisierung, ländliche Lebenswelten, Migrationsprozesse, Integration sowie Kultur und Interkulturalität gehören zu seinen Forschungsinteressen.

Inzwischen werden seine Thesen zur Zuwanderung nach 2015 und zur Entwicklung der Gesellschaft von manchen Kollegen als provokant empfunden.

Das östliche und das westliche Europa und besonders Rumänien und Deutschland und somit auch die Themenbereiche Heimatverklärung und Heimatverlust beschäftigen Sterbling besonders nach der Emeritierung auch literarisch. So heißt es vieldeutig in dem 2019 veröffentlichten Gedichtband „Entrückung in den Kopfstand“:

Rumäniendeutsches Bekenntnislied
Rumäniendeutschland, gibt es dieses Land?
Es gibt dieses, oh mein Heimatland.
Dieses, oh mein Heimatland, gibt es nicht.

Rumäniendeutsch, gibt es dieses Deutsch?
Es gibt dieses, oh mein Heimatdeutsch.
Dieses Deutsch, oh mein Heimatdeutsch, gibt es nicht.

Rumäniendeutsche Dichter, gibt es diese Dichter?
Es gibt diese, oh meine Heimatdichter.
Diese Dichter, oh meine Dichter,
gibt es nicht.

Desillusioniert muss Sterbling nach einem Besuch in seinem Banater Heimatort Ende der 1990er Jahre feststellen, dass er „dort nichts mehr als nur ein ‚Fremder‘“ ist. Trotzdem hat er auf seinen verschiedenen Lebensstationen in Deutschland – zunächst in der Hinterpfalz, dann während des Studiums in der Kurpfalz, anschließend folgte ein längerer Aufenthalt bei Hamburg, danach fast 20 Jahre in der Oberlausitz, und jetzt wohnt er in Mittelfranken – sich „zwar überall einigermaßen ‚heimisch‘ gefühlt, aber doch zugleich durchgängig im Bewusstsein einer ‚zweiten‘ Heimat und eben auch einer jeweils ‚neuen‘ Heimat neben der ‚alten‘ gelebt“. Nach 2019 hat Sterbling neben dem genannten Lyrikband bislang noch drei Erzählbände veröffentlicht, in denen er überwiegend auf die banatschwäbische Lebenswelt, die schrecklichen Jahre der Ceaușescu-Diktatur und das Ankommen in Deutschland eingeht.

Auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten spielt seine Herkunftsregion immer wieder eine große Rolle: Sie bildete „gewissermaßen einen eigenen, dauerhaften Schwerpunkt“ seiner Arbeit, wie Anton Sterbling in der Einführung in den Band „Das Banat, die Deutschen aus Rumänien und die rumäniendeutsche Literatur“ (2022) schrieb. In dem Band „Am Rande Mitteleuropas. Über das Banat und Rumänien“ (2018) versammelte er Aufsätze über die Menschen und Probleme in der Region zwischen Donau und Marosch. Auch der Deportation von rund 70000 Deutschen aus Rumänien in die UdSSR, die sich generationenübergreifend tief in ihre kollektive Erinnerung eingeprägt hat, hat sich Sterbling gewidmet. In dem Band „Verschleppung der Deutschen aus dem Banat in die Sowjetunion aus der Sicht ihrer Kinder“ gab er zum 75. Jahrestag der Deportation mit vier weiteren Autoren interessante und teilweise aufwühlende Erzählberichte heraus.

Jahrelang engagierte sich Anton Sterbling in verschiedenen Positionen im Wissenschaftlichen Beirat der Südosteuropa-Gesellschaft und dem Sprecherrat der Sektion Ost- und Ostmitteleuropa-Soziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Als Mitantragsteller und Betreuer war Sterbling zehn Jahre lang an der Universität Jena im von der DFG-geförderten Graduiertenkolleg „Kulturelle Orientierungen und gesellschaftliche Ordnungsstrukturen in Südosteuropa“ aktiv. Bei vielen der rund 30 Doktorandinnen und Doktoranden des Kollegs sind seine wertvollen Hinweise in ihre Dissertationen miteingeflossen.

Weiterhin aktiv ist er im Präsidium des Balkanologenverbandes und seit 2021 als stellvertretender Vorsitzender des Kulturwerks der Banater Schwaben. Zudem ist Sterbling bis heute Mitherausgeber der seit 26 Jahren erscheinenden fachübergreifenden sozialwissenschaftlichen Zeitschrift „Land-Berichte. Beiträge zu ländlichen und regionalen Lebenswelten“.

Sterblings wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit und literarische Produktion ist noch lange nicht beendet. Der Stuttgarter ibidem-Verlag hat vor einigen Tagen 2023 bereits sein zweites Buch, das den Titel „Ideologie und Herrschaftskämpfe“ trägt, vorgelegt, in dem uns der Autor einen neuen Ideologiebegriff vorschlägt. Es ist noch einiges zu erwarten von dem Jubilar.

Ad multos annos, Professor Dr. Anton Sterbling!