Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland waren geprägt von der Not der Vertriebenen, ihrer Heimatlosigkeit, ihrer Existenz auf dem Abstellgleis. Mit einem persönlichen Rückblick auf diese Zeit, die Ausgangslage war für die Gründung des St. Gerhards-Werks im Jahr 1952, eröffnete sein aktueller Vorsitzender Dr. Robert Zollitsch, vormals Erzbischof von Freiburg und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, die Feier. Er hatte die sieben harten, anstrengenden und notvollen Jahre selbst erlebt, die dieser Gründung vorausgingen. Zollitsch schilderte eindrücklich und fundiert die Bestrebung der Alliierten einerseits, die Flüchtlinge zu zerstreuen und zu assimilieren, andererseits deren Überlebens- und Selbstbehauptungswillen, das langsame Zusammenfinden überlebender Familienmitglieder durch Suchdienste, die gewaltigen Herausforderungen, sich in einer kalten und trotz der gemeinsamen Sprache fremden Welt zurechtzufinden. Eigene Wunden und Verletzungen mussten verdrängt werden, niemand hatte einen Blick für die Traumatisierungen, mit denen man nur in sprachlosem Schweigen leben konnte, so Zollitsch aus eigener Betroffenheit.
Erst allmählich wuchs die Einsicht, dass es keine Rückkehr in die verlorene Heimat gab. Es galt, sich ganz auf die Gegenwart und Zukunft in Deutschland einzustellen, aus den Massenquartieren herauszukommen und sich Häuser zu bauen, sich zu vernetzen und Kontakte zu pflegen. Ihre Verankerung im Glauben habe sich für die breite Masse der Vertriebenen als tragende Überlebenshilfe erwiesen, nicht nur wegen der anfänglichen sozialen Unterstützung, sondern auch wegen der Geborgenheit und der vielfältigen Kontakte vor allem bei Wallfahrten.
Der Wunsch nach Austausch, nach gegenseitiger Hilfe und Ermutigung sowie der Vergewisserung über die eigene fruchtbare, aber auch katastrophale Geschichte hätten 1952 in einer schon spürbar gewandelten Situation zur Gründung des St. Gerhards-Werks geführt. Als eigene kirchliche Organisation sollte es nach dem Muster der schon 1946 gegründeten Ackermann-Gemeinde der Sudetendeutschen nicht nur der Seelsorge und Stärkung des Glaubens dienen, sondern auch der gegenseitigen Unterstützung und Ermutigung, der heimatlichen Verbundenheit unter den Donauschwaben, der Stärkung ihres Selbstbewusstseins als Volksgruppe. Man habe nicht mehr von oben Hilfe entgegennehmen, sondern aus eigener Kraft handeln wollen beim Bekenntnis zur donauschwäbischen Kultur und Geschichte, bei ihrer Aufarbeitung, beim Willen zur Versöhnung und dem Einsatz für den Aufbau eines vereinten Europas.
Unsere Erinnerung an diese Zeit sei nicht primär Rückschau, sondern eher Abschied und Vermächtnis für die Zukunft, betonte der Festredner und beschloss seine Betrachtung mit der beschwörenden Frage, wie unser geistiges, religiöses und kulturelles Erbe zur Bereicherung für viele, nicht zuletzt für unsere eigenen Nachkommen werden kann.
Prof. Dr. Rainer Bendel nahm diese Frage als zweiter Festredner auf, indem er den bisherigen Anspruchshorizont kirchlicher Vertriebenenarbeit aufzeigte und fragte, ob sie angesichts einer Integration und Trauma-Vererbung, die sich über mindestens drei Generationen erstrecken, heute noch gebraucht werde. Zunächst wandte er sich der Notlage und dem aus ihr hervorgegangenen Aufgabenfeld der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu. Für die Seelsorge galt es damals, die einzelnen Volksgruppen gezielt anzusprechen, um die Proletarisierung und Radikalisierung der Flüchtlingsmassen aufzuhalten, einen Ausgleich zwischen Vertriebenen und Einheimischen herzustellen, nicht nur auf materieller Ebene, sondern auch im Verstehen, Dulden, Tragen und Lieben. Der Priester hatte nicht nur zu missionieren, die Vertriebenen mit Rücksicht auf ihre andersartigen religiösen Traditionen in das kirchliche Leben der Gemeinde einzugliedern, sondern fungierte auch als Vermittler und musste in seiner Erziehungsfunktion versuchen, alles Verkrustete, Verkrampfte und Verbohrte bloßzulegen und dadurch zu heilen.
Richtungweisend waren dabei der Ermländer Bischof Maximilian Kaller und die kirchliche Hilfsstelle Süd in München mit Pater Paulus Sladek, der 1946 Leitsätze der kirchlichen Flüchtlingsarbeit entwarf und maßgeblich an der Redaktion von Arbeitshilfen für eigens bestellte Flüchtlingsseelsorger und der Gründung der ersten Vertriebenenzeitschrift „Christ unterwegs“ beteiligt war. Neben Zeitschriften waren wissenschaftliche Tagungen und die Sammlung volkstümlicher religiöser Überlieferung wichtige Bereiche der Kulturarbeit.
Die ursprünglichen Initiativen zur kirchlichen Betreuung der Katholiken aus dem Südosten und somit die Anfänge des St. Gerhards-Werks kamen ebenfalls von Sladek, der als Leiter der Hilfsstelle in München 1952 Rektor Hugo Killinger zu ihrem Sonderseelsorger berief. Killinger gründete 1952 in München den „Arbeitskreis Südostdeutscher Katholiken e. V.“, in den aus den Herkunftsländern Ungarn, Jugoslawien und Rumänien je fünf Mitglieder, jeweils drei Laien und zwei Priester berufen wurden. Ab 1955 wurde dieser Arbeitskreis in St. Gerhards-Werk umbenannt. Als wichtiges Seelsorgeinstrument für weitere Kreise wurde 1956 der „Gerhardsbote“ eingerichtet. Nach dem Heimatverlust gelang es der kirchlichen Vertriebenenarbeit und der religiösen Praxis, wie sie auch vom St. Gerhards-Werk etwa bei Wallfahrten, Tagungen und der Heiligenverehrung organisiert und gestaltet wurde, entscheidende Beiträge zu leisten, um Wiedersehen zu ermöglichen, alte Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und Gefühle der Identifikation und Beheimatung aufkommen zu lassen. Quasi als Folie für das anschließende Podiumsgespräch erinnerte der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) abschließend an die aktuelle Formulierung der Ziele und Aufgaben des St. Gerhards-Werks.
Das anschließende Podiumsgespräch moderierte die Journalistin Ines Szuck, die für die Öffentlichkeitsarbeit im Diözesanrat der Diözese Rottenburg-Stuttgart zuständig ist. Sie befragte vier Gesprächspartner nach den aktuellen und künftigen Aufgaben einer katholischen Vertriebenenorganisation, speziell des St. Gerhards-Werks.
Peter-Dietmar Leber, der Vorsitzende der Landsmannschaft der Banater Schwaben, fand Ähnlichkeiten zwischen den donauschwäbischen Vertriebenen nach Kriegsende und den banatschwäbischen Aussiedlern aus Rumänien am Ende des vorigen Jahrhunderts: in einem Nicht-auffallen-wollen und einer übereifrigen Integration mit Hang zur Selbstaufgabe. Mit Verweis auf die zeitgleich stattfindende Wallfahrt der Diözese Temeswar nach Tschanad hob er die Relevanz der grenzüberschreitenden Tätigkeit des St. Gerhards-Werks hervor und plädierte für mehr Selbstbewusstsein in seinem Auftreten und seiner Darstellung, für seine allen Interessierten zugängliche Öffnung nach außen. Das St. Gerhards-Werk besitze ein großartiges Netzwerk, das auch in die Zukunft tragen könne. Vorrang besitze die Einbindung der Jugend, wofür die gemeinschaftsbildende Kraft der Kirche und sein Verband arbeiten müssten.
Rainer Bobon, der stellvertretende Leiter des Hauses der Heimat in Stuttgart, schickte seinen Ausführungen die Bemerkung voraus, dass die Erlebnisgeneration, die noch Flucht und Vertreibung mitmachte, immer kleiner, die der Aussiedler aus den 80er und 90er Jahren dagegen immer größer werde. Im Falle, dass die landsmannschaftlichen Verbände sich in traditionellen Formen weiterhin nach innen richten, sei Überalterung und Ausdünnung vorprogrammiert, im Falle ihrer Öffnung nach außen zur Mehrheitsgesellschaft könnten sie aber ihre Kompetenz und Glaubwürdigkeit zur Geltung bringen, was Migration und Integration, Gewalterfahrung und Traumatisierung, das Durchbrechen des Schweigens bei Tabuthemen, grenzüberschreitende Kontakte, Verständigung und Versöhnung sowie Erinnerung und Bildung angeht, Themen also, die gesellschaftlich immer wieder akut werden. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass man darüber rede und es bekannt mache. Leider sei aber das Interesse an Ostmitteleuropa bei Jugendlichen nicht sehr ausgeprägt. Das St. Gerhards-Werk könne seinen Bekanntheitsgrad eher durch Workshops und Reisen als durch Schülerwettbewerbe erweitern.
Dr. Kathi Gajdos-Frank, die Direktorin des Jakob-Bleyer-Heimatmuseum in Budaörs und Abgeordnete der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, betonte vorweg die Wichtigkeit der Zusammenarbeit aller donauschwäbischen Organisationen. In ihrem Heimatdorf Wudersch (Budaörs) seien 90 Prozent der Deutschen vertrieben worden, dennoch gebe es eine rege Kulturarbeit mit zahlreichen Programmen und Projekten, die sie kurz vorstellte. Schon den Grundschulkindern werden die christlichen Werte und heimatlichen Traditionen nahegebracht, etwa bei Klassenfahrten. Es gebe zweisprachige (Wander-)Ausstellungen, bei denen eigens die Sicht der Frauen thematisiert wurde, Konferenzen, zu denen die kroatische Minderheit oder eine russlanddeutsche Autorin eingeladen wurden. Man habe eine Audio-Dokumentation über die ungarndeutsche Geschichte erarbeitet, spreche Schüler und Studierende mit Wettbewerben und einem Theaterstück an, pflege Kooperationen auch ins Ausland. In Ungarn sei man durch die Existenz von ca. 400 Selbstverwaltungen, die sich für die Wahrung von Tradition und Identität einsetzen und nach außen geöffnet zeigen, in einer relativ günstigen Position.
Jürgen Harich, der stellvertretende Vorsitzende sowohl der Landsmannschaft der Donauschwaben wie auch des Weltdachverbandes, unterstrich die Bedeutung des Bekenntnisses zu seinen Wurzeln für die Generation der donauschwäbischen Kinder und Enkel. Auch jede Organisation müsse sich zu dieser Herkunft bekennen, sich öffnen und das eigene Schicksal nach außen kommunizieren unter gleichzeitiger Anpassung an die neuen Zeiten. Man müsse seine Kultur erklären, aber auch leben. Seine Reisen zu den Donauschwaben in allen Teilen der Welt hätten ihm gezeigt, so Harich, dass man sich gegenseitig sofort versteht und sich nicht rechtfertigen muss, weil alle durch die gleiche Kultur geprägt und gastfreundlich sind. Ihm schwebt ein Airbnb, ein Online-Portal zur Buchung und Vermietung von Unterkünften für Donauschwaben vor. Großes Potential sieht er in der weltweiten Vernetzung. Eine zentrale Rolle spielen für Harich der Glaube und die Wallfahrten, um Gemeinschaft zu erfahren, man könne auf Pilgerreisen Geschichte erleben mit kirchlichem Beistand. Als kleine Gruppe müsse man auf sich aufmerksam machen, etwa durch Trinkflaschen mit Donauschwaben-Wappen oder Auto-Aufkleber. In Schülerwettbewerbe sollte eine Frage zum St. Gerhards-Werk einfließen, in den Lehrplan der Schulen etwas mehr Platz für die Vertriebenen.
Zur Abrundung der Jubiläumsfeier fasste Pfarrer Klaus Rapp die Stichworte zusammen, die sich durch die Diskussion gezogen hatten: grenzüberschreitend und generationenübergreifend arbeiten, Erinnern und Begegnen, selbstbewusst auftreten mit Herz und Kopf, Wallfahrten veranstalten unter Nutzung der sozialen Medien, Vernetzung vorantreiben. Nach seinem inneren Bild stehe er zusammen mit allen Anwesenden in einem Tor, vorn die Zukunft, auf die sich das St. Gerhards-Werk ausrichten müsse, ein jeder mit seiner Geschichte hinter sich.
Rapp wurde bei der Mitgliederversammlung des St. Gerhards-Werks am Nachmittag zum neuen Vorsitzenden, Dr. Zollitsch zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Mit der Bestätigung von Dr. Kathi Gajdos-Frank als neues Mitglied wurde die Verzahnung des St. Gerhards-Werks mit Ungarn verstärkt.