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Streifzug durch das jüdische Temeswar

Getta Neumann bot eine Einführung in die Geschichte der Juden im Banat und in Temeswar und sprach über das deutsch-jüdische Zusammenleben in der Stadt mit seinen Höhen und Tiefen. Foto: Walter Tonţa

Das Publikum folgte mit Interesse den Ausführungen der aus der Schweiz angereisten Referentin Getta Neumann. Foto: Walter Tonţa

Wie viele Temeswarerinnen und Temeswarer ist Getta Neumann, die Tochter des letzten Temeswarer Oberrabiners Ernest Neumann, davon überzeugt, dass das multiethnische Temeswar ein ganz besonderes Flair hervorgebracht hat, das die Stadt bis heute prägt. Aber sie hat auch konkrete Argumente dafür, zumindest wenn es um das jüdische Leben in ihrer Heimatstadt geht. Auch in den schlimmsten Zeiten der Verfolgung und Repression war Temeswar, so zeigen ihre Recherchen, für die dort lebenden Juden sowas wie eine Insel der Seligen, denn es gab, anders als im nahen Nordsiebenbürgen oder im Osten Rumäniens, keine Deportation. Ob das ein glücklicher Zufall war oder am „Geist“ von Temeswar liegt – oder von allem ein bisschen – kann auch sie nicht genau sagen. Was sie kann: Fakten sammeln, in die Geschichte eintauchen, das Besondere dieser Stadt erkennbar machen. Dieser Aufgabe hat sich Getta Neumann schon seit geraumer Zeit verschrieben. Bereits 2019 erschien in rumänischer Sprache das Büchlein „Pe urmele Timişoarei evreieşti“, eine Art kulturgeschichtlicher Reiseführer auf den Spuren des jüdischen Temeswar. Es wurde von Luzian Geier in der „Banater Post“ vom 20. August 2019 besprochen. 

Mit der von Werner Kremm besorgten Übersetzung ins Deutsche in diesem Jahr gelangte das Buch auch zunehmend in den Fokus der Banater Schwaben, zumal es auch noch explizit im Hinblick auf die Kulturhauptstadt 2023 erweitert und aktualisiert wurde. In der „Banater Post“ wurde es in der Ausgabe vom 5. April 2022 vorgestellt. Nun hatte die Autorin auf Einladung unserer Landsmannschaft Gelegenheit, interessierte Zuhörer im Kultur- und Dokumentationszentrum der Banater Schwaben in Ulm mit der jüdischen Geschichte von Temeswar persönlich vertraut zu machen, wobei der Fokus vor allem auf dem Zusammenleben und -wirken der Juden mit der deutschen Stadtbevölkerung lag. Ihr Vortrag „Der Beitrag der Juden zu Wirtschaft und Kultur im multiethnischen und multireligiösen Temeswar“ war ein geschichtlicher, aber daneben auch thematisch fokussierter Streifzug durch das jüdische Temeswar. 

Zwar datiert das erste Zeugnis über Juden in der Stadt (ein Grabstein aus dem Jahr 1636) bereits aus der osmanischen Zeit, doch die Präsenz der Juden macht sich vor allem im Habsburgerreich bemerkbar, insbesondere nach dem Erlass des Toleranzpatents durch Kaiser Joseph II. im Jahr 1782, in dem allgemeine Religionsfreiheit und das Recht auf Bildung verbrieft wurden. Die Bildung der Juden erfolgte verpflichtend in der Staatssprache Deutsch. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich erhielten die Juden in der ungarischen Reichshälfte, zu der Temeswar nun gehörte, umfangreiche Bürgerrechte, die ihnen gute Chancen der Prosperität und wirtschaftlichen Entfaltung boten. Allerdings wurde das öffentliche und kulturelle Leben zunehmend magyarisiert und viele Juden wechselten (wie auch so manche Deutsche, vor allem im städtischen Bürgertum) die Muttersprache und wurden „gute Ungarn“. Dennoch blieb eine große Wertschätzung der deutschen Sprache und Kultur im bürgerlichen Judentum noch lange weiterhin bestehen, wie Getta Neumann in ihrem Vortrag belegte. Sie zitierte dazu aus dem Buch „Der Pass als Zuhause” von Andrei Markovits, der als Nachkriegskind in Temeswar aufgewachsen ist und heute in den USA lebt. In den ersten Kapiteln erzählt er über seine Kindheit in einer Wohnung in der Nähe des Rosenparks: „Einem aufmerksamen Ethnologen würde in unserem Wohnzimmer in den Jahren zwischen 1948 und 1958 nicht auffallen, was die Familie Markovits durch den Holocaust erlitten hat. (…). So stark war die Anziehungskraft der deutschen Kultur in dieser ungarisch-habsburgischen jüdischen Familie, Vertreter des ausnehmend bourgeoisen mitteleuropäischen Bildungsbürgertums. Hitler hatte in der Familie Markovits gegen Beethoven keine Chance.“ 

Die besonders günstigen Umstände für ein multikulturelles Zusammenleben in Temeswar sieht Getta Neumann vor allem darin, dass die wichtigsten ethnischen Gruppen – Deutsche, Ungarn, Serben, Rumänen – in einem proportionalen Gleichgewicht zueinander standen. Es gab keine erdrückende Dominanz der einen oder anderen, auch wenn durch den Rückhalt der Habsburgermonarchie die deutsche Sprache bis zum Zweiten Weltkrieg und selbst unter dem ungarischen Assimilationsdruck am Ende des 19. Jahrhunderts eine Sonderstellung bewahrte. Auch die Juden fanden in diesem Kosmos ihren Platz, gestalteten das wirtschaftliche, kulturelle und urbane Leben mit. In der Zwischenkriegszeit befanden sich etwa die Hälfte der Temeswarer Großunternehmen sowie drei Viertel der Mittel- und Kleinunternehmen in jüdischem Eigentum. Auch im Groß- und Einzelhandel oder als Immobilienbesitzer zeigten die Juden überdurchschnittlich Präsenz. Von den Ärzten und Rechtsanwälten der Stadt stellten sie etwa die Hälfte. Jüdische Architekten trugen wesentlich zur Gestaltung des Stadtbildes bei, wie die Referentin anhand von Abbildungen aus verschiedenen Epochen veranschaulichte. Doch auch in Politik und Presse, in der Literatur, der Musik und Kunst, beim Sport und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens traten die Temeswarer Juden in Erscheinung. Zusammenhalt gaben ihnen die jüdischen Gemeinden, die, wie in anderen Regionen der ehemaligen Habsburgermonarchie, entweder dem orthodoxen Judentum (vor allem in den Vorstädten Josefstadt und Fabrikstadt) anhingen oder angepasste „Neologen“ waren, wie die meisten Repräsentanten des assimilierten Bürgertums.  In Temeswar gab es auch den Zwischenstatus „Status quo ante“. Die Synagogen sind heute zum großen Teil verfallen, die Renovierung der prächtigen Innenstadtsynagoge wurde jedoch dieser Tage abgeschlossen. Passenderweise fand die feierliche Eröffnung am 6. Mai 2022 statt, dem 150. Jahrestag der Wieder-Einweihung des neuen Baus durch Kaiser Franz Joseph persönlich.

Das Verhältnis zwischen den Deutschen und den Juden wurde zwar mit dem Einfluss des Nationalsozialismus mit der Einrichtung der Deutschen Volksgruppe in Rumänien auch in Temeswar getrübt. Die Banatia spielte dabei in dieser Zeit der Gleichschaltung eine unrühmliche Rolle. Dennoch gab es heimlichen oder auch demonstrativen Zusammenhalt. Getta Neumann wurde berichtet, dass Juden trotz des Verbots weiterhin Opern und Theater besuchten, ohne belangt zu werden. Oder dass Geschäftsleute, allen voran der deutsche Konditor Filip Potichen, Zivilcourage zeigten und sich weigerten, in ihren Schaufenstern das Schild „Juden unerwünscht“ anzubringen – was sich in der Stadt wohl wie ein Lauffeuer verbreitete. 

Doch selbst in der Nachkriegszeit und nach den schmerzhaften Erfahrungen des Holocaust in den meisten Familien blieb die Affinität der Juden für die deutsche Sprache und Kultur bestehen, wie die 1949 geborene Getta Neumann im Gleichklang mit vielen anderen aus eigener Erfahrung berichten kann. Niemals sei in ihrem Elternhaus schlecht über die Deutschen gesprochen worden. Stattdessen beauftragten ihre Eltern Eduard Bong, Deutsch- und Französischlehrer an der Lenauschule, ihr die Grundlagen der deutschen Sprache im Privatunterricht beizubringen. Mit hervorragendem Erfolg, wie sie als Vortragende im KDZ bewies.

Wie gravierend die Ideologie und der ihr folgende Krieg sich auf das idyllische Zusammenleben auswirkten, schilderte die Referentin exemplarisch anhand eines Schnappschusses von drei Buben, zwei Juden und einem Deutschen, Hand in Hand beim Schlittschuhlaufen. Die Lebenswege der drei Freunde Tomi (links), Heinzi (Mitte) und Feri (rechts) werden von den Zeitereignissen entscheidend beeinflusst:  Der Jude Feri versuchte 1944 mit dem Schiff Mefkure nach Palästina zu gelangen, dieses wurde jedoch von einem (deutschen oder sowjetischen) U-Boot versenkt. Der Deutsche Heinzi wurde Schüler der Banatia und brach danach jeden Kontakt zu seinen jüdischen Freunden ab. Er zog mit der deutschen Armee in den Krieg und kehrte nicht zurück. Tomi, Schüler am jüdischen Gymnasium, blieb in Temeswar, studierte am Polytechnikum und wurde Ingenieur. Ab den 1970er Jahren fühlte er sich zunehmend gegängelt und beruflich diskriminiert. Die Familie wanderte schließlich nach Israel aus. 

Das Leben der Juden im kommunistischen Nachkriegsrumänien weist Parallelen zu dem der anderen Volksgruppen auf. Nach anfänglichen Tendenzen von Privilegierung, vor allem der bekennenden „Antifaschisten“ unter ihnen,  geraten auch sie immer mehr in den Fokus des zunehmend repressiven Systems. Es gibt stalinistische Schauprozesse gegen Zionisten, die große Ähnlichkeit mit den Prozessen gegen die katholischen Geistlichen oder gegen jederlei politisch unliebsame Elemente aufweisen. Die Juden sind die ersten, die nach „Freikauf” durch den Staat Israel das Land verlassen. Sie statuieren damit ein Exempel für den Freikauf der Deutschen aus Rumänien durch die Bundesrepublik Deutschland. Von beiden einst so dominanten Gruppen sind heute in Temeswar nur noch Restbestände vorhanden. Dennoch gibt es eine kleine, aber sehr aktive  jüdische Gemeinde, die sich für größere Veranstaltungen gern im Festsaal des AMG-Hauses einmietet. Die Nachbarschaftshilfe funktioniert nach wie vor.

Im Anschluss an den Vortrag entstand eine rege Diskussion im Publikum. Auch der Bundesvorsitzende Peter-Dietmar Leber zeigte sich beeindruckt von den Recherchen der Referentin und äußerte die Hoffnung, dass dieses hoch interessante Thema nicht zum letzten Mal auf unserem Veranstaltungskalender steht.