Verehrte Banater Schwaben, meine lieben donauschwäbischen Landsleute, werte Gäste, Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens!
In einer seiner Geschichten erzählt der englische Schriftsteller Charles Dickens von einem Mann, der das Gedächtnis seines Herzens verliert. Die vielen Ereignisse, Erfahrungen, die ihm mit der Begegnung mit menschlicher Freude und mensch-lichem Leid, mit Sorgen, Nöten und Hoffnungen zugewachsen waren, werden ihm genommen. Dieses Erlöschen des Erinnerns wird ihm als Befreiung von der Last des Vergangenen angeboten. Doch bald zeigt sich, dass damit der ganze Mensch verändert ist. Die Begegnung mit dem Leid weckt auch keine Erinnerung an Erfahrungen der Güte und der Versöhnung mehr in ihm, mit der Versiegung der Erinnerung ist zugleich auch der Quell der Anteilnahme und der Zuwendung entschwunden.
Damit die Erinnerung unseres Herzens nicht erlischt und wir zugleich offen bleiben für einen heilenden und Mut machenden Blick in die Zukunft, sind wir in Ulm zum diesjährigen Heimattag der Banater Schwaben zusammengekommen. Wir tun es in diesem Jahr auch in Erinnerung an die Befreiung Temeswars vor 300 Jahren und damit an den Beginn einer langen, herausfordernden, fruchtbaren Geschichte und dem Werden eines neuen Volksstammes im Südosten Europas. Wir tun dies nicht weniger, weil wir nach vorne schauen und unsere Geschichte fortschreiben wollen in die Zukunft.
Wer seine Vergangenheit vergisst, verliert die Zukunft. Wir erinnern uns gerne und mit berechtigtem Stolz an das, was unsere Vorfahren im Banat, in der Batschka, in Syrmien, in der Baranya aufgebaut und geleistet haben. Wir erinnern uns aber auch mit Wehmut und Schmerz an das, was wir in Folge der beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts erlitten haben, und an die Heimat, die wir verloren haben, aus der wir vertrieben wurden, aus der wir flüchten mussten oder schließlich ausgewandert sind, weil wir unterdrückt wurden und dort keine Zukunft mehr sahen.
Wir begehen den Heimattag „300 Jahre Banater Schwaben“ nicht nur mit einer Kundgebung, wie wir sie vorher erlebt haben, nicht nur mit Empfängen und Begegnungen, Konzerten und Unterhaltung. In der Mitte des heutigen Pfingstsonntags steht der Gottesdienst. Dies entspricht unserer Gewohnheit und Tradition, denn der Gottesdienst führt uns zur Erinnerung vor Gott. Und die Bibel mahnt uns: „Denk an die Tage der Vergangenheit.“ Es gibt kaum eine andere Gemeinschaft, die dem Erinnern und Gedenken so verpflichtet ist wie die Gemeinschaft des christ-lichen Glaubens. Wir feiern im Gottesdienst die Erinnerung an die Heilstaten Gottes und deren Vergegenwärtigung, die lebendige Erinnerung an seine immerwährende Nähe und Gegenwart durch alle Zeiten und Epochen hindurch. Unser Gottesdienst lebt aus dem grundlegenden Auftrag Jesu: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Das Gedenken an Gottes Wirken auch in unserem Leben gehört zentral zu unserem Leben vor Gott. Und dies tun wir heute und tragen alles vor Gott, was über Jahrhunderte gewachsen war, was wir verloren und erlitten haben, dass wir neu anfangen und neu Heimat finden durften.
Es sind mehr als siebzig Jahre, dass ich aus meinem Heimatort vertrieben und in Titos Vernichtungslager deportiert wurde. Es hat fünfzig Jahre lang gedauert, bis ich meinen Heimatort Filipowa in der Batschka, meine alte Heimat, erstmals wieder besucht habe. Aber sie ist in mir
lebendig geblieben, sie ist nicht nur ein Teil meiner Lebensgeschichte, sie ist ein Teil von mir.
Doch, liebe Schwestern, liebe Brüder, was ist Heimat, was macht Heimat aus? Am stärksten wird dies
einem bewusst und am tiefsten wird sie erlebt, wenn man weg ist, wenn man sie verloren hat, wenn sie einem fehlt. Mit der Heimat geht es uns ähnlich wie mit der Gesundheit: Wenn sie fehlt oder uns gar genommen wird, kommen Schmerz und Trauer.
Wer noch nie Heimat, Freunde, Verwandte und Nachbarn, einen liebgewordenen Dialekt, eine vertraute Landschaft hinter sich lassen oder gar gezwungenermaßen verlassen musste, kann kaum verstehen, welcher Schmerz damit verbunden ist, wie lange das Herz und die Gedanken noch in der verlassenen Heimat bleiben. Vielleicht muss man tatsächlich erst heimatlos werden, um zu spüren, was man vermisst und wonach wir uns alle sehnen.
Und was ist Heimat? Ein Ort, eine Landschaft, die Sprache, Geschichte und Tradition, ein Gefühl, eine Idee, Kindheitserinnerungen oder die Herkunftsfamilie? All das gehört dazu, doch Heimat ist mehr. Heimat ist dort, wo ich meine Wurzeln habe, wo ich mich wohl- und zuhause fühle, wo ich mich für meine Anwesenheit nicht rechtfertigen muss, wo ich angenommen und anerkannt bin, so wie ich bin.
Und diese Heimat, Schwestern und Brüder, lebt in unserer Erinnerung und in unseren Herzen. Doch ihr Verlust hat uns nicht zu Resignation und Lethargie geführt, im Gegenteil, die Erinnerung an den Wert der Heimat hat uns geholfen und beflügelt, in der neuen Umgebung wieder Wurzeln zu schlagen. Wir finden in dem Maße wieder Heimat, wie die Liebe zu den eigenen Wurzeln und zur eigenen Herkunft in uns lebendig bleibt und gepflegt wird. Die Liebe zur eigenen Herkunft will nicht abschotten und nicht abgrenzen, sondern helfen, die anderen zu verstehen, die Bedürfnisse und Interessen der Mitmenschen wahrzunehmen, ja, zu versuchen, aus der Position des anderen heraus auch zu denken und zu fühlen. Denn so sagt Václav Havel zu Recht: „Die Heimat ist ein Tor, das den Weg zu den anderen öffnet.“
Als Heimatvertriebene und Aussiedler bringen wir die Erfahrung mit, dass es für eine gemeinsame Zukunft entscheidend ist, aufeinander zuzugehen und Brücken zueinander zu bauen. Wir bringen ja die Erfahrung mit, was es heißt, mit Menschen anderer Nation und anderer Sprache, anderer Konfession und anderer Traditionen zusammenzuleben. So bauen wir bewusst und engagiert an einem gemeinsamen Europa.
Gerade in den schwierigen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir erfahren, dass eine andere Macht, dass Gott uns getragen hat und uns die Kraft gab, auf unserem oft harten und schweren Weg nicht zu resignieren und die Hoffnung nicht zu verlieren. Es ist die große Glaubenstradition unserer Vorfahren und ihre tiefe Verankerung im Glauben, die auch uns getragen hat und trägt.
Ich bin dankbar, dass wir dies bei unseren Treffen und durch unsere jährlichen Wallfahrten zum Ausdruck bringen. Wenn Papst Franziskus die Volkskirche und die Wallfahrt nun so sehr schätzt, so tut dies auch unsere Erfahrung als Donauschwaben. Sie stärken unser Vertrauen und geben unserem Glauben, unserer Spiritualität und Frömmigkeit ihre Wärme und bergende Heimat und sie helfen uns auch, bei aller Wertschätzung der alten Heimat und bei aller Trauer über deren Verlust uns dessen bewusst zu bleiben, dass alle Heimat in dieser Welt nur vorläufig und unsere eigene Heimat im Himmel ist.
Mein Lebensweg, der mich mit sechseinhalb Jahren meine Heimat verlieren ließ und dazu führte, dass ich danach über dreißig Jahre jeweils nur für einige Zeit Halt machte, hat mich erleben lassen, dass ich in dieser Welt Pilger bin, Pilger auf dem Weg zur ewigen Heimat bei Gott. Aus vielen Begegnungen und Gesprächen mit Landsleuten und anderen Heimatvertriebenen weiß ich, dass das Wissen, in dieser Welt nur Pilger zum großen Ziel unseres Lebens zu sein, ihnen Kraft gab nicht zu resignieren, sondern sich in der großen Perspektive unseres christlichen Glaubens festzumachen.
Das hindert uns nicht daran, dankbar zu sein, in eine Heimat hinein-geboren worden zu sein, die uns Vertrauen und Geborgenheit gab. Das hindert uns nicht, Gott für alle Erfahrungen von Heimat und für alles Angenommensein in dieser Welt zu danken, ihm heute zu danken für die Befreiung Temeswars vor 300 Jahren und für die mehr als 250 Jahre fruchtbare Aufbauarbeit im Südosten. Das hindert uns nicht, Gott zu danken für die Gemeinschaft der Banater Schwaben und alle frohen Begegnungen und Ermutigungen, die viele durch sie erfahren.
„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“, sagt der Dichter Jean Paul. Nun, wir lassen uns unsere Erinnerungen nicht nehmen, auch wenn es nicht nur Erinnerungen an ein Paradies sind. Wir sind geprägt von unserer Geschichte, wir stehen zu ihr und lassen sie uns auch von niemandem nehmen.
So machen wir uns auch das Wort des dänischen Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard zu eigen, der aus tiefer Einsicht in das Leben der Menschen feststellte: „Das Leben wird vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden.“ Weil wir uns unserer Geschichte bewusst sind und aus ihr Kraft schöpfen, schauen wir nach vorne – nach vorne in eine Zukunft in Europa, die kraftvoll mitzugestalten wir entschlossen sind.
Als Christen wissen wir, dass wir dazu die Kraft und die Hilfe eines anderen, den Segen Gottes brauchen. So danken wir heute nicht nur aus vollem Herzen Gott für alles, was er uns geschenkt hat und dass wir wieder neu anfangen durften, sondern bitten ihn auch um seinen Segen für unsere Banater Schwaben, für unsere alte Heimat, für unser Europa und nicht zuletzt für all die Menschen, mit denen wir verbunden sind.