Das größte Trauma der Banater Schwaben geschah im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Wie man heute weiß, wurde die völkerrechtswidrige Aktion Stalins von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Siebzig Jahre seit der Deportation in die Sowjetunion und die Tatsache, dass nur noch wenige Landsleute der Erlebnisgeneration unter uns sind, war Anlass für den Kreisverband Tuttlingen-Rottweil-Schwarzwald-Baar, dieses Thema aufzugreifen und in der Öffentlichkeit darzustellen. Erfreulicherweise war das Interesse der Landsleute, aber auch vieler Spaichinger Bürger sehr groß, denn neben der Gedenkveranstaltung bot man dem interessierten Publikum noch weitere Tage Gelegenheit, die von Walther Konschitzky und Hans-Werner Schuster konzipierte und von Joseph Ed. Krämer gestaltete Ausstellung zum Thema Russlanddeportation zu besichtigen. Bereits im Vorfeld der Gedenkveranstaltung hatte die örtliche Presse das in der hiesigen Bevölkerung kaum bekannte Thema aufgegriffen und mit Schilderungen von betroffenen Personen einen kleinen Einblick in persönliche Schicksale gewährt.
Von den etwa 20 im Raum Spaichingen namentlich bekannten Verschleppten oder in Russland Geborenen folgten immerhin sechs Frauen der Einladung zu der Gedenkveranstaltung. Sie konnten zusammen mit rund 140 weiteren Gäste einen Kurzfilm zur Verschleppung von Mathias Kandler verfolgen. Zum besseren Verständnis der großpolitischen Lage jener Zeit sprach Richard Wagner über Ursachen, Hintergründe und Umfang der von den Sowjets angestrengten Aktion gegen unschuldige Zivilisten. Denn die Deportation erfolgte einerseits unter Annahme der Kollektivschuld unter Zugrundelegung der nationalen Herkunft. Andererseits stand das Ansinnen von Stalin, deutsche Zivilisten für den Wiederaufbau der Sowjetunion zu rekrutieren, schon seit der Konferenz von Teheran im November 1943 fest.
Bei der Veranstaltung sollte aber nicht nur des runden Jahrestags gedacht, sondern auch aus erster Hand informiert werden. Dipl.-Ing. Mathias Kandler, gebürtig aus Johannisfeld, der als einer der Jüngsten mit kaum 16 Jahren nach Russland verschleppt worden war, ist der Einladung des Veranstalters gerne gefolgt, um aus seinem Erinnerungsband „Nr. 657. Im Donbass deportiert“ bzw. „Schwob in Not“ zu lesen und darüber hinaus Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Mit einem sehr gelungenen Auswahl an Auszügen sowohl in banatschwäbischer Mundart als auch in Hochdeutsch ist es dem Referenten gelungen, die Zuhörer zu fesseln und ein abgerundetes Bild von den Lagerbedingungen, den schwierigen Lebens- und Arbeitsumständen, der bitteren Not und Entbehrungen aller Art, dem Heimweh zu vermitteln. Der Referent zeigte auch auf, dass viele Landsleute durch Willkür oder rohe Gewalt, durch Unterernährung oder inhumane Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen sind.
In seinen Ausführungen ist es ihm aber auch gelungen, ein differenziertes Bild von den vorherrschenden Bedingungen zu vermitteln, zumal sich diese von Lager zu Lager und auch im zeitlichen Ablauf unterschiedlich darstellten. Mit etwas Geschick, so Kandler, konnte man im Laufe der Jahre die Schwächen oder weichen Seiten des Bewachungspersonals herausfinden und ein Stück weit für die Verbesserung der eigenen Lage nutzen, was oftmals das Überleben sicherte. Auch die örtliche Bevölkerung habe recht bald erkannt, dass es sich hier nicht um Kriegsverbrecher handele, sondern um unschuldige Menschen, die für ein verfehltes und menschenverachtendes System bezahlen mussten. Für seine Aussagen erntete Mathias Kandler nicht nur von den anwesenden Verschleppten Zustimmung.
Ein allgemeines Anliegen der Verschleppten stellte der Referent in einem rührenden Plädoyer seinen Ausführungen voran und bemängelte, dass das Verschlepptendenkmal in Reschitza als einziges auf das widerrechtliche Vorgehen der Sowjetunion und ihrer Unterstützer sowie auf das Schicksal der Opfer hinweise. In dieser Hinsicht bestünde seiner Meinung nach ernsthafter Nachholbedarf.
In einer ergreifenden Feier gestaltete anschließend der Darowaer Kirchenchor unter der Leitung von Erich Meixner das Gedenken an die Verstorbenen. Mit Liedern wie „Aus der Tiefe rufe ich“ oder „Bleib bei uns Herr“ und im Gebet gedachten die Anwesenden der Deportationsopfer. Bezeichnend war auch, dass die aus der Feder von Johann Sieber-Brach stammende Komposition „Herr, wie du willst“ als vierstimmiger Chor vorgetragen wurde. Sieber-Brach zählt selbst zum Kreis der Deportierten.
Auf einen weiteren Aspekt dieser Tragik jener Jahre ging Josef Koch in seinem beeindruckenden Vortrag ein. Unzählige junge Mütter mussten durch die Verschleppung ihre kleinen Kinder zu Hause zurücklassen, in manchen Fällen konnten sie nur Nachbarn oder weitläufig Bekannten anvertraut werden. Als Siebenjähriger blieb Koch mit seinem jüngeren Bruder bei den Großeltern zurück, da der Vater noch im Krieg und anschließend in der Gefangenschaft war. Die Mutter hatte ihnen in den Abschiedsstunden Mut zugeredet und versprochen, bald wieder zu Hause zu sein. Noch im Viehwaggon schrieb sie einen Brief und bat ihre Schwester, mit dem Jungen zum Arzt zu gehen. Später schickte sie aus Russland Socken für ihre Kinder – mit Wolle gestrickt, die sie gegen die karge Brotration eingetauscht hatte. Den Weg nach Hause schaffte sie nicht mehr, denn sie verstarb 31-jährig im März 1947 im Lager. Dieses Schicksal steht stellvertretend für tausende weitere Familien im Banat.
Die Seelennot der Mütter wurde noch einmal anhand eines Briefes von Anna Orner verdeutlicht, den sie im Jahr 1947 – als erstes Lebenszeichen – nach Hause an die Kinder schreiben durfte. Aufgezeichnet und vorgetragen hat dieses Schreiben Katharina Wibiral.
Das unermessliche Leid der Deportierten ist nicht in Zahlen aufzurechnen. Viele Verschleppte sind ums Leben gekommen. Schwere körperliche Arbeit, schlechte bis unmenschliche Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutzmangel, Unterernährung, dürftige hygienische Verhältnisse und miserable medizinische Betreuung waren neben brutaler Gewaltanwendung die Hauptursachen für die hohen Sterberaten von etwa 15 Prozent der knapp 112000 verschleppten Deutschen aus Südost-europa. Der 70. Jahrestag der Deportation war ein passender Anlass, der Opfer zu gedenken und ihr Schicksal in Erinnerung zu rufen.