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Hoffnung hinter Stacheldraht

Bei der Gedenkfeier in der Ehrenhalle des Nürnberger Rathauses schilderte Johann Roch eindringlich seine Erlebnisse aus der fünfjährigen Deportationszeit in der Sowjetunion. Helmine Buchsbaum las Fragmente aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“. Einsender der Fotos: H.B.

Bei der Andacht in der Sebaldus-Kirche erinnerte eine von Stacheldraht umhüllte Kerze symbolhaft an das Leid der Deportierten.

„Ich war damals 16 Jahre alt, als man mich in einen Viehwaggon in Arad gepfercht hatte. Es sollte nach Russland gehen“, beginnt unser Banater Landsmann Johann Roch, langjähriger ehrenamtlicher Mitarbeiter des Bundes der Vertriebenen und der Landsmannschaft in Nürnberg, über seine Verschleppung zu erzählen. Er hatte nur einen Rucksack, seine Kleider am Körper und ein Taschenmesser dabei. Nach tagelanger Fahrt wird er bei knietiefem Schnee in ein mit Stacheldraht umzäuntes Barackenlager geführt. Die nächsten fast fünf Jahre muss er unter widrigsten Umständen in einem Kohlekraftwerk Zwangsarbeit verrichten. „Hunger, Hunger und nochmals Hunger war mein ständiger Begleiter“, sagt der heute 86-Jährige. Der quälende Hunger sei größer als das Heimweh gewesen, zumal seine Gedanken meistens darum kreisten und der Hunger für ihn die Antriebsfeder für jeden Tag in der Fremde war. „Ich habe mein einziges Hemd für ein Stück Brot hergegeben – bei einer Kälte von minus 30 Grad.“ Trotz dieser unbeschreiblich schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen habe er die Hoffnung nie aufgegeben, so Johann Roch.

Der gebürtige Orzydorfer ist einer von mehreren Zeitzeugen, die bei der vom Haus der Heimat am 25. Januar veranstalteten Gedenkfeier „1945-2015. Erinnern. Gedenken. Mahnen. Völkermord – Flucht – Deportation – Vertreibung“ an das Schicksal der Millionen Deutschen erinnerten, die vor rund 70 Jahren aus ihrer Heimat flüchten mussten oder vertrieben wurden, die interniert oder zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden.

Die Gedenkfeier begann mit einer ökumenischen Andacht in der Nürnberger St.-Sebaldus-Kirche, die von  Pfarrer Johann Rehner gestaltet und von Martin Schiffel an der Orgel begleitet wurde. Pfarrer Rehner zündete eine „Kerze hinter Stacheldraht“ an als Symbol für das Leid, das den Deportierten widerfahren ist, aber auch für die Hoffnung, die sie nie aufgegeben haben. „Sie brennt für alle Opfer der Flucht, Deportation und Vertreibung“, sagte Pfarrer Rehner.

Zur anschließenden Gedenkstunde in der Ehrenhalle des Nürnberger Rathauses, die von dem Klarinettenduo Michael Bielz und Franz Dugonitsch musikalisch umrahmt wurde, konnte Horst Göbbel, Vorsitzender des Vereins Haus der Heimat Nürnberg, etwa 250 Gäste begrüßen: Banater Schwaben, Siebenbürger Sachsen, Sathmarer Schwaben, Sudetendeutsche, Schlesier, Pommern. Göbbel spannte in einem kurzen geschichtlichen Abriss sachlich und emotional den Bogen über die Geschehnisse des Jahres 1945 und stellte fest: „Flucht, Vertreibung und Deportation der Deutschen stehen im Kontext der diabolischen, nationalsozialistischen Expansions-, Vernichtungs- und Lebensraumpolitik und ihrer Folgen.“ Zwar habe Unrecht in der Geschichte oft zu neuem Unrecht geführt, früheres Unrecht, und sei es noch so groß, schaffe jedoch keinerlei Legitimation für neues Unrecht. „Das gilt auch und gerade für die Deportation beziehungsweise die Vertreibung der Deutschen im östlichen Europa nach 1945“, betonte Göbbel. Da Flucht und Vertreibung nichts an Aktualität verloren haben, forderte er: „Rechtzeitig mahnen, sich rechtzeitig wehren, wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden – das ist auch unsere Aufgabe.“

Im Anschluss berichteten Vertreter verschiedener Landsmannschaften über Deportation und Vertreibung anhand von literarischen Zeugnissen und Erinnerungsliteratur, die diese Ereignisse verarbeitet und für die Nachkommen festgehalten haben. Für die Banater Schwaben berichtete Johann Roch von seinen Erlebnissen aus der Deportationszeit, während Helmine Buchsbaum, stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Bayern und des Kreisverbandes Nürnberg, Fragmente aus Herta Müllers Roman „Atemschaukel“ las. Vom Abschiednehmen, von der langen, qualvollen Reise, der Ankunft im Lager, der schweren Arbeit, von Hunger und Kälte, von Überlebensstrategien – davon erzählte der Zeitzeuge, aber auch von Freude und Liebe und vor allem von Glaube und Hoffnung. Heute kann Johann Roch darüber reden, anders reden als noch vor Jahren. Er hat irgendwie Abstand von dem Geschehen gewonnen. Das Publikum aber nicht, denn es wurde von dem Gehörten emotional zutiefst berührt. Und was emotional berührt, bleibt im Gedächtnis.

Gedenken heißt an das Unrecht zu erinnern und zu mahnen, wenn Menschenrechte bedroht sind. Das war letztendlich die Botschaft dieser Gedenkfeier in Nürnberg, und das wird auch unsere Aufgabe in den Landsmannschaften und Vertriebenenverbänden bleiben. Ob das wohl in unserer heutigen Zeit an Aktualität verloren hat?