Wie bereits berichtet, wurde am 17. Januar im Ulmer Haus der Begegnung der Deportation der Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion vor 70 Jahren gedacht. Den Abschluss der zentralen Gedenkveranstaltung bildeten drei von der Hörfunkjournalistin Anita Schlesak moderierte Podiumsgespräche. In einer ersten Gesprächsrunde kamen Zeitzeugen zu Wort, danach berichteten Angehörige von Deportierten darüber, was in den Familien bezüglich der Deportationszeit tradiert wurde. Schließlich erörterten landsmannschaftliche Spitzenvertreter in einem dritten Gesprächskreis Formen der Erinnerung und der Wiedergutmachung in den von der Deportation betroffenen Ländern. Die Gespräche spannten so einen weiten Bogen von der Erlebnisgeneration über die Kinder- und Enkelgeneration bis hin zur politischen und gesellschaftlichen Dimension der Deportationsproblematik in der Gegenwart.
Als Zeitzeugen standen drei Banater Schwaben Rede und Antwort: Anton Schenk (Hatzfeld/Stuttgart), Johann Noll (Sanktandres/Augsburg), beide Jahrgang 1928, und Helmut Weinschrott aus Temeswar, der 1949 in der Ukraine zur Welt gekommen ist, wohin seine aus Bakowa stammenden Eltern deportiert worden waren.
Anton Schenk erinnerte an die Aushebung von über 800 Deutschen in seinem Heimatort Mitte Januar 1945, an die herzzerreißenden Szenen, die sich während des Marsches vom Bauernheim zum Bahnhof und bei der Abfahrt der Viehwaggons abgespielt haben, an die beschwerliche Fahrt bis ins Donezbecken und an das erste Todesopfer, das bereits auf dem Weg in die Deportation zu beklagen war, eine 24-jährige Hatzfelderin: „Wir konnten ihr noch ein Grab schaufeln und sogar ein Kreuz aus zwei Latten zimmern und ihr das Gebetbuch und den Rosenkranz von der Mutter ins Grab legen.“ Schenk kam nach Dnjepropetrowsk, ins berüchtigte Lager Nr. 315, das wegen der hohen Todesrate, die hier bis 1947 verzeichnet wurde, den Deportierten als „Krepierlager“ in Erinnerung geblieben ist. Der heute 86-Jährige erzählte von der schweren Arbeit, die er beim Transport zu verrichten hatte, von der schlechten Verpflegung und dem ständigen Hunger, aber auch von dem allgegenwärtigen Tod und seiner Arbeit als Totengräber. Dass er dort seine zukünftige Frau kennenlernte, habe ihm geholfen zu überleben, so Schenk.
Johann Noll war eine von 324 Personen, die aus Sanktandres deportiert wurden. 39 Frauen und Männer seien nicht mehr heimgekehrt, wusste der rüstige Zeitzeuge zu berichten. Äußerst lebhaft erzählte er vom Martyrium der Deportationszeit, die er in drei Lagern verbrachte und die für ihn nach 4 Jahren, 10 Monaten und 14 Tagen zu Ende ging. Noll beschrieb die erschöpfende Arbeit in der Kohlengrube („als ich das erste Mal in die Grube einfuhr, dachte ich, ich fahre in die Hölle“), die katastrophalen Zustände im Krankenhaus in Krasnodar, die er nach einem Arbeitsunfall, bei dem ihm die Hand zerquetscht wurde, kennenlernte, sowie die unhygienischen Verhältnisse in den Baracken („soviele Wanzen und Läuse wie Haare auf dem Kopf“). Er erzählte die rührende Geschichte seines Freundes, der ihn bat, ihm etwas Essbares, seien es auch nur Grashalme, zu bringen, damit er nicht verhungere. „Er ist neben mir gestorben“, sagt Johann Noll mit zitternder Stimme. Man habe alles gegessen, was man nur finden konnte, auch schon mal einen Hund: „Wir konnten gar nicht warten, bis das Fleisch durchgebraten war, sondern haben es halb roh verzehrt.“ Noll weiß aber auch über Zeichen der Mitmenschlichkeit zu berichten, so zum Beispiel über seinen Schutzengel, ein junges Mädchen, das sich im Krankenhaus Krasnodar seiner annahm und ihm so das Leben rettete.
Helmut Weinschrott, der Jüngste in der Runde, kam wenige Monate vor der Rückkehr seiner Eltern ins Banat in Chistyakova (heutige Ukraine) auf die Welt. Seine Mutter habe ihm erzählt, dass er in einem unter der Zimmerdecke fixierten Leintuch lag, um vor den Wanzen geschützt zu sein. Weinschrott erwähnte, dass die Russlanddeportation lange Zeit in der Öffentlichkeit ein Tabuthema gewesen sei. In seinem Fall sei dies aber schon immer aktenkundig gewesen, zumal sein Geburtsort in allen Personenstandsurkunden vermerkt ist. So sei er immer wieder mit der Frage konfrontiert worden, wie es dazu kommt, dass ein in Rumänien lebender Deutscher in der Ukraine geboren wurde. „Ich hatte keine andere Antwort als: Meine Eltern waren beide als Deutsche in die Ukraine deportiert“, sagt Weinschrott. Er habe schon immer das Bedürfnis verspürt, „einmal zu sehen, wo ich geboren wurde“. 2004 ist es ihm endlich gelungen, seinen Geburtsort zu besuchen. Dort suchte er auch nach den Spuren seiner Geburt in den Akten, musste allerdings feststellen, dass er im Geburtenregister gar nicht vermerkt ist. Nachforschungen ergaben, dass man in den Fünfzigerjahren die originalen Verzeichnisse nach Moskau geschafft und für die örtlichen Archive Abschriften angefertigt hat, in denen die Lagerkinder nicht mehr vorkamen.
Der Fokus der zweiten Gesprächsrunde lag auf Familiengeschichten. Diskussionsteilnehmerinnen waren Maria Kottsieper aus Ulm, Judit Müller aus Fünfkirchen / Pécs und die Soziologin Dr. Renate Weber-Schlenther aus Münster.
Die Ungarischlehrerin und Stadtführerin Maria Kottsieper ist ein Kind der Deportation: Sie wurde im Lager gezeugt und erblickte in Ungarn das Licht der Welt. Ihre Eltern – die Mutter stammte aus Soroksár, der Vater aus Sathmar – hatten sich 1945 in der Deportation in Baschkirien kennen gelernt, von wo sie später nach Georgien verlegt wurden. Von dort stammt auch das von ihr mitgebrachte Erinnerungsstück: zwei Ketten, bestehend aus aneinandergefädelten Muscheln, die ihre Mutter am Schwarzen Meer gefunden hatte. Über das Thema Deportation sei eigentlich geschwiegen worden, berichtete Maria Kottsieper. Erst nach der Wende sei alles ans Tageslicht gekommen. Dann habe sie auch erfahren, dass ihr Vater durch sein menschliches Handeln den Deportierten sehr viel Kraft und Mut zur Ausdauer gegeben habe.
Die Historikerin Judit Müller, Direktorin des Janus Pannonius Museums in Pécs, ist doppelt mit dem Thema Deportation befasst: Beruflich hat sie dazu geforscht und eine Ausstellung erarbeitet, als Nachkomme in der Enkelgeneration waren viele Frauen ihrer Familie davon betroffen, auch ihre Großmutter. Sie habe über die Russlandjahre nie gesprochen. Das sei ein Selbstverteidigungsmechanismus gewesen – einerseits sich nicht erinnern und alles vergessen wollen, andererseits nicht darüber sprechen dürfen. Das Trauma habe die Verschleppten sprachlos gemacht und sie ein Leben lang belastet. „Ich sah meine Großmutti nie im Leben lachen“, erinnert sich Judit Müller.
Dr. Renate Weber-Schlenther hat das Schicksal von 30000 deportierten Siebenbürger Sachsen wissenschaftlich erforscht und ist Koautorin eines 1995 im Böhlau-Verlag erschienenen dreibändigen Werkes zu diesem Thema. Die Soziologin wies darauf hin, dass die Sterblichkeit unter den Männern dreimal höher gewesen sei als bei den Frauen, was nicht nur an der schwereren Arbeit und dem höheren Altersdurchschnitt der Männer gelegen habe, sondern auch daran, dass die Männer oft ihre kärglichen Brotrationen gegen Tabak eingetauscht und sich nicht in der Weise wie die Frauen hygienisch verhalten hätten.
Teilnehmer des dritten Gesprächskreises waren Dr. Bernd Fabritius, MdB, Präsident des Bundes der Vertriebenen und Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen, Hans Supritz, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben, und Erwin Josef Ţigla aus Reschitza, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen (DFBB).
Anknüpfend an das Motto dieser Gesprächsrunde, „Erinnerung in den Deportationsgebieten“, wies Ţigla auf das 1995 in Reschitza eingeweihte Denkmal für die Russlanddeportierten hin – das erste große Denkmal dieser Art in Rumänien. Mittlerweile gibt es viele solcher Denkmäler und Gedenktafeln im Banat, in Siebenbürgen und im Sathmarer Land. Dazu hat das DFBB 2010 einen Bildband herausgebracht. Ţigla erwähnte auch die Gedenkveranstaltungen im Banater Bergland, die unter Einbeziehung der deutschen Schulklassen organisiert werden. Da die meisten Schüler rumänischer Muttersprache sind, sei es wichtig, sie über das Schicksal der deutschen Deportationsopfer zu informieren. Ohne die Vergangenheit zu kennen, könne man die Zukunft nicht gestalten. „Und wir müssen die Zukunft mit den Jugendlichen mitgestalten, die die deutsche Sprache und Kultur in Rumänien weitertragen werden“, sagte der Gast aus Reschitza.
Auf die Entschädigungszahlung angesprochen, die Rumänien inzwischen auch den in Deutschland lebenden ehemaligen Deportierten gewährt, betonte Dr. Bernd Fabritius, dass dies „so etwas wie ein aktives Gedenken“ sei. Über den materiellen Wert hinaus sei es unglaublich wichtig, das von den Verschleppten erlittene Trauma „durch eine rehabilitierende Geste zu heilen“. Es gehe auch darum, dass sich Rumänien als Staat zu seiner Verantwortlichkeit bekennt und „die eigene Geschichte annimmt“. Gegenüber der Moderatorin, die die Schuldfrage ins Gespräch brachte, unterstrich der BdV-Präsident energisch, dass der vom Deportationsschicksal betroffenen deutschen Zivilbevölkerung keine Kollektivschuld angelastet werden dürfe im Zusammenhang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, denn Schuld sei immer individuell. Er verwahre sich mit aller Entschiedenheit, „wenn man auch nur am Rande den Eindruck erweckt, dass die nach Russland Verschleppten eigentlich eine verdiente Strafe bekommen haben“.
Mit Bedauern registriere er „eine Empathielosigkeit, ein Fehlen von Verständnis und Anerkennung des Schicksals derer unter uns, die ein Sonderopfer erbringen mussten“, betonte Fabritius. Wir seien es den Opfern schuldig, „das, was sie erlebt haben, in die Zukunft zu tragen und es nicht zu vergessen, damit es sich nicht wiederholt“. An die eigene Generation appellierte er, diesen „Erinnerungstransfer“ an kommende Generationen zu leisten. Eingedenk der aktuellen Flüchtlingsströme rief er speziell die deutschen Heimatvertriebenen dazu auf, sich „schützend vor diejenigen zu stellen, die heute ein ähnliches Schicksal erleiden“.
In Serbien gebe es zwar keine Wiedergutmachung in der Form wie in Rumänien, unterstrich Hans Supritz, das Restitutions- und Rehabilitierungsgesetz habe es jedoch auch den Donauschwaben ermöglicht, „Anträge auf Rückgabe und Entschädigung des widerrechtlich enteigneten Vermögens zu stellen“. Das gehe „in Richtung Linderung der kollektiven Schuld“, meinte Supritz. Die Entwicklung der letzten Jahre stimme ihn zuversichtlich, zumal es in der Batschka „zu einer tatsächlichen Aussöhnung und Verständigung“ gekommen sei. Es fänden vermehrt Reisen in die alten Heimatorte statt, es gebe Jugendaustausch, zudem sei Serbien in die Donauraumstrategie der EU-Kommission eingebunden. „Sicher war es ein schweres Schicksal, das die Donauschwaben getragen haben, aber wir blicken in die Zukunft und wollen unseren Beitrag leisten, um ein freies Europa zu schaffen, in dem es wieder zu einer guten und freundschaftlichen Nachbarschaft zwischen allen Völkern kommt“, sagte Supritz zum Schluss.