Maria Römich reiste zur zentralen Gedenkveranstaltung, die anlässlich des 70. Jahrestages der Deportation der Deutschen aus Südosteuropa in die Sowjetunion am 17. Januar 2015 in Ulm stattfand, aus Dörfles-Esbach bei Coburg an. Die 86-Jährige kam in Begleitung ihres Sohnes und dessen Ehefrau, ihrer in den Vereinigten Staaten lebenden und an der Universität New York lehrenden Tochter und ihres Enkels. Maria Römich, geborene Braun, gehörte zu den etwa 120000 Menschen aus Südosteuropa (darunter 70000 aus Rumänien), die im Winter 1944/1945 auf Befehl Stalins zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Als man sie zusammen mit ihrem Vater und ihrem erst 15 Jahre alten Bruder sowie 79 weiteren Landsleuten aus ihrem Heimatort Uiwar ins Donezbecken verbrachte, war Maria Römich erst sechzehneinhalb Jahre alt. Zurückgebliebenen war ihre Mutter mit dem jüngsten Bruder. „Es war eine schreckliche Zeit, ein harter Überlebenskampf“ – so beschreibt Römich die fünf in den Arbeitslagern Kramatorsk und Stalino (heute Donezk) verbrachten Jahre. Von den 82 aus Uiwar deportierten Deutschen haben zwölf die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht überlebt. Sechs einstige Deportierte sind heute noch am Leben.
Maria Römichs Schicksal teilten abertausende Leidensgenossen. Ihrer aller wurde fast auf den Tag genau 70 Jahre nach Beginn der Deportationsmaßnahmen im Ulmer Haus der Begegnung in feierlichem Rahmen gedacht. Der Einladung zu dieser zentralen Gedenkveranstaltung, die gemeinsam vom Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm, der Kulturreferentin für Südosteuropa, dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem Haus der Begegnung Ulm, den Landsmannschaften der Banater Schwaben, der Deutschen aus Ungarn und der Donauschwaben, dem Verband der Siebenbürger Sachsen, dem Verband der Sathmarer Schwaben und Oberwischauer Zipser sowie dem Heimatverband Banater Berglanddeutscher veranstaltet wurde, waren weit über 300 Personen gefolgt – unter ihnen knapp dreißig ehemalige Deportierte. Die hochbetagten Frauen und Männer standen an diesem Tag des Erinnerns, Gedenkens und Mahnens stellvertretend für alle Deportationsopfer – für die vielen, die nicht mehr unter uns weilen, und für die wenigen, die heute noch am Leben sind.
Seitens der Veranstalter hieß der Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm, Christian Glass, alle Teilnehmer in dem voll besetzten Saal herzlich willkommen, insbesondere die anwesenden ehemaligen Deportierten, und begrüßte namentlich die Ehrengäste der Gedenkfeier (siehe Kasten weiter unten). Glass erinnerte daran, dass die Deportation von deutschen Zivilpersonen in die Sowjetunion lange Zeit kein öffentliches Thema gewesen sei. Erst 1995, 50 Jahre danach, habe
eine systematische Aufarbeitung auf politischer, wissenschaftlicher und literarischer Ebene begonnen, mit dem Ergebnis, dass das Wissen um die Deportation heute in der Öffentlichkeit besser verankert sei. Die Gedenkveranstaltung wolle, so Glass, den Erinnerungen der Betroffenen Raum geben, aber auch danach fragen, wie sich die Deportationserfahrungen auf die Familien ausgewirkt haben, wie die Kinder- und Enkel-generation mit dieser historischen Hypothek umgeht und wie die Erinnerung an das erlittene Unrecht wachgehalten werden kann.
Oberbürgermeister Ivo Gönner überbrachte die Grüße der Bürgerschaft und des Gemeinderates der Stadt Ulm und erinnerte an das Unrecht, das Millionen Menschen „in einer unvorstellbaren Schärfe und Unmenschlichkeit“ während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach angetan wurde und bis heute nachwirkt. In diesem Zusammenhang wies er auf die fast vollständige Zerstörung der Stadt Ulm und auf die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 70 Jahren hin. „Wir sollten diese Gedenk-tage dazu nutzen, um uns selber immer wieder den Spiegel vorzuhalten, um uns selber zu prüfen, ob wir aus dem Geschehenen etwas gelernt haben.“ Die „schmerzhafte Erinnerung“ sollte uns dazu ermutigen, „rechtzeitig aufzustehen, Courage zu zeigen und zu mahnen“, wenn Demokratie und Freiheit bedroht sind. Gedenkveranstaltungen wie die heutige sollten die Botschaft weitertragen, dass die Würde des Menschen, wie in unserem Grundgesetz verankert, unantastbar ist. „Das ist dann die Botschaft über den Tag hinaus“, betonte das Stadtoberhaupt.
Der Bundesvorsitzende der Banater Schwaben, Peter-Dietmar Leber, sprach stellvertretend für die Landsmannschaften. In seinem Grußwort erinnerte er daran, dass die Deportation lange ein Tabuthema war – sowohl in den Familien als auch in der Öffentlichkeit. Eine intensivere Beschäftigung mit diesem „unbekannten Kapitel Nachkriegsgeschichte“ habe erst mit der großen Gedenkveranstaltung 1995 in München begonnen, als sich die Deportation zum 50. Mal jährte. Heute gelte es danach zu fragen: „Was haben wir angenommen und mitgenommen, wie gehen wir damit um, welchen Stellenwert haben diese Ereignisse für uns heute überhaupt noch?“ Die ehemaligen Deportierten hätten ihren Nachkommen mit auf den Weg gegeben, „ihre Stimme zu erheben, wenn Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind; zusammenzustehen, einer für den anderen da zu sein; Solidarität zu üben, wie damals die Großfamilien, in deren Obhut die zurückgelassenen Kinder blieben; trotz schwerer Prüfungen im Glauben Kraft zu finden“, betonte Leber. (Der vollständige Wortlaut des Grußwortes wurde hier am 6. Februar veröffentlicht).
Der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof em. Dr. Robert Zollitsch, rief in seinem sehr bewegenden Grußwort dazu auf, die Erinnerung an das Schicksal der zur Zwangsarbeit Deportierten und all jener, die zu „Opfern skrupelloser Machtinteressen und menschenverachtender Politik“ geworden sind, wach zu halten. Zollitsch blickte zurück auf Weihnachten 1944, „zweifellos das schlimmste Weihnachtsfest“ in seinem Leben. Sein Vater und sein älterer Bruder seien „als Soldaten
irgendwo an der Front“ gewesen, ein Monat vor Weihnachten sei sein damals 16-jähriger Bruder Josef von Titos Partisanen mit 211 anderen Männern aus seinem Heimatort Filipowa „grausam abgeschlachtet“ und in drei Massengräbern verscharrt worden. Drei Tage vor dem Fest sei die Mutter krank von der Zwangsarbeit zurückgekehrt.
Am Heiligen Tag, dem 25. Dezember, habe dann der „Kleinrichter“ nach dem feierlichen Hochamt verkündet, dass alle Frauen von 18 bis 40 Jahren sowie alle Männer von 17 bis 45 Jahren sich am Nachmittag vor dem Gemeindehaus einzufinden hätten. In den folgenden Tagen wurden laut Zollitsch 239 Personen aus seinem Heimatort „in Viehwaggons zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert“, darunter auch seine Tante, „die drei Töchter in meinem Alter bei unserer Großmutter zurücklassen musste“. Was diese Frauen und Männer in den Kohlengruben, Kolchosen und Fabriken mitgemacht hätten, sei unbeschreiblich, so Zollitsch. 53 Deportierte seien gestorben, die Überlebenden seien krank und physisch gebrochen gewesen. Für die Tante habe die „qualvolle Tortur“ nach fünf Jahren geendet. Über das Erlebte habe sie fast nichts erzählt; es habe ihr „die Sprache verschlagen“. „Ich habe sie damals verstanden und verstehe sie bis heute“, sagte Zollitsch. Auch er habe 60 Jahre gebraucht, um über seine eigene Deportation als Sechseinhalbjähriger in das Vernichtungslager Gakowo in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Zollitsch rief dazu auf, die Erinnerung wachzuhalten. Wörtlich sagte er: „Die Opfer von Krieg und Gewalt, von brutaler Menschenverachtung und erbarmungsloser Versklavung haben es verdient, dass wir ihrer gedenken.“ Zugleich bestehe die Pflicht, sich darum zu bemühen, „dass so etwas oder Vergleichbares nie wieder geschieht“. Zollitsch betonte: „Zu-decken und Vergessen beschwören Gefahren herauf, nicht die Erinnerung und Tage des Gedenkens.“ Wer die Schicksale der Deportierten verdränge, mache die Betroffenen ein weiteres Mal zu Opfern, zu Opfern des Vergessens. Die Erinnerung an die Deportation sei zwar immer auch eine Zumutung und alles andere als bequem und angenehm, jedoch sei sie „ein Aufschrei und ein Anstoß für die Gegenwart“. Sie helfe, den Blick zu schärfen: „Nur eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Vergangenheit macht frei und eröffnet eine Zukunft in Menschlichkeit, Frieden und Gerechtigkeit“, sagte Erzbischof Zollitsch.
Bischof Reinhart Guib überbrachte die Grüße der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. Das Gedenken an die Deportation von über 30 000 Siebenbürger Sachsen, Gemeindemitglieder der Evangelischen Kirche, sei Teil der bereits im August 2014 gestarteten Veranstaltungsreihe „Glauben und Gedenken: Kirche unterwegs – 70 Jahre seit Evakuierung und Deportation“, betonte Guib. Die Deportation zur „Reparations- und Wiederaufbauarbeit“ in die Sowjetunion bezeichnete er als „die größte Tragödie in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen und der Evangelischen Kirche“. Das sei „eine Vergeltungsmaßnahme für die Zerstörung seitens der Deutschen während des Zweiten Weltkrieges“ gewesen. DerBischof erinnerte an die unmensch-lichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Verschleppten. Das geschehene Unrecht habe nicht nur den Betroffenen, sondern auch deren Familien „unsagbares Leid“ zugefügt. Die Deportationsopfer „haben stellvertretend für alle am Krieg Schuldigen gesühnt und nicht wenige haben das mit ihrem Leben bezahlt“. Wir seien es ihnen schuldig, ihrer in Ehrfurcht zu gedenken. Bischof Guib rief dazu auf, „die Erlebnisgeneration und das von ihr Erlebte nicht zu vergessen, sondern es als Mahnung zum Frieden und zur Verständigung, zur Versöhnung und Zusammenarbeit anzunehmen und an die nachkommenden Generationen weiterzugeben.
Im Anschluss an die Grußworte bot Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch, kommissarischer Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in einem zwanzigminütigen Vortrag einen fundierten Überblick über die Deportation der deutschen Bevölkerung aus Südosteuropa zur sogenannten Wiederaufbauarbeit in die Sowjetunion, die auf der Grundlage der Stalinschen Verordnung vom 16. Dezember 1944 erfolgte. Der Historiker zeigte die Hintergründe und Zusammenhänge auf und skizzierte den Ablauf der Ereignisse in Jugoslawien, Rumänien, Ungarn und den östlichen Gebieten des Deutschen Reiches. (Der Vortrag wird in vollem Wortlaut in gedruckten Ausgabe veröffentlicht.)
Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier von dem Ehepaar Christian aus Augsburg. Liane Christian (Klavier) stammt aus Siebenbürgen, ihr Gatte Harald Christian (Violine) aus dem Banat. Das anlassgerecht gewählte Programm, von den beiden Musikern gefühlvoll interpretiert, umfasste Kompositionen von Robert Schumann, Ciprian Porumbescu, Ludwig van Beethoven und John Williams.
Abschließend dankte Direktor Glass allen Kooperationspartnern dieser Veranstaltung, allen voran Dr. Swantje Volkmann, dem engagierten Helferteam aus den Reihen der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen und dem Ehepaar Christian für die musikalische Gestaltung der Gedenkfeier.
Nach der Mittagspause folgte eine szenische Lesung unter dem Titel „Vielleicht heißt die russische Einsamkeit Wanja“. Die von Dr. Florian Kührer-Wielach vom Institut für Kultur und Geschichte Südosteuropas konzipierte Collage griff auf literarische Texte von Rainer Biemel, Herta Müller, Bernhard Ohsam, Oskar Pastior sowie Erwin und Joachim Wittstock zurück. Die Textpassagen handeln, wie Kührer-Wielach hervorhob, vom „bangen Warten auf Nachricht“, von „der Unumgänglichkeit des Todes, nummerierten und kategorisierten Menschen, Unterernährung und Krankheit, aber auch von grenzenüberwindender Solidarität“, von „Heimkehr und Neubeginn“. Gelesen wurden die Texte von Jim Seclaoui, Hannah Elischer und Simon Rossa von der Akademie für darstellende Kunst Ulm.
Den Abschluss der Gedenkveranstaltung bildeten drei von Anita Schlesak moderierte Podiumsgespräche. Im ersten Teil berichteten Zeitzeugen. Der Fokus des zweiten Gesprächskreises lag auf Familiengeschichten. In der dritten Gesprächsrunde ging es schließlich um die Erinnerung an die Deportation in Rumänien und Serbien. Darüber berichten wird in der nächsten Ausgabe.
Und Maria Römich? Sie sei froh, mit ihrer Familie dabei gewesen zu sein, gesteht sie zum Schluss. Einen Wunsch wolle sie sich noch erfüllen: Ihr Sohn habe ihr versprochen, mit ihr zusammen noch einmal das ehemalige Deportationsgebiet im Donbas aufzusuchen, sobald sich die Lage dort wieder normalisiert. Angesichts der vielen Krisenherde auf dieser Welt, habe man offensichtlich doch nichts aus der Geschichte gelernt, fügt die rüstige Seniorin hinzu.
Ehrengäste der Gedenkveranstaltung
Seitens der Kirchen: Reinhard Guib, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, Jenő Schönberger, Bischof der römisch-katholischen Diözese Sathmar, Dr. Robert Zollitsch, emeritierter Erzbischof von Freiburg und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, Ernst-Wilhelm Gohl, Dekan des Evangelischen Kirchenbezirks Ulm; Anton Niculescu, Generalkonsul Rumäniens in München; Hartmut Koschyk, MdB, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten; seitens des Bundes der Vertriebenen: Dr. Bernd Fabritius, MdB, BdV-Präsident und Vorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen, Arnold Tölg und Georg Stolle als Vertreter der Landesverbände Baden-Württemberg bzw. Hessen, Dr. Maria Werthan, Präsidentin des Frauenverbandes im BdV; seitens der Stadt Ulm: Oberbürgermeister Ivo Gönner, Kulturbürgermeisterin Iris Mann und Peter Langer, Donaubeauftragter der Städte Ulm und Neu-Ulm; als Vertreterin des Landes Baden-Württemberg Dr. Christiane Meis, Leitende Ministerialrätin im Innenministerium; als
Vertreter der Landsmannschaften: Stefan Ihas, Präsident des Weltdachverbandes der Donauschwaben, sowie die Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Banater Schwaben, Peter-Dietmar Leber, der Landsmannschaft der Donauschwaben, Hans Supritz, der Landsmannschaft der Deutschen aus Ungarn, Klaus Loderer, des Verbandes der Sathmarer Schwaben und Oberwischauer Zipser, Helmut Berner; Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch, kommissarischer Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München