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Wie man von Habsburg erzählen kann

Zu Richard Wagners Essayband „Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt“. Richard Wagner veröffentlicht in seinem Essayband „Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt“ Geschichten über die Zeit der Habsburgermonarchie und gibt gleichzeitig Vorausblicke, gemäß dem Motto des Buches: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Gesellschaft. So stellt er im Kapitel „Dynamik“ klar, dass die europäische Idee nicht auf eine „Freihandelszone runtergerechnet werden kann, wie der angelsächsische Liberalismus sich das gelegentlich vorzustellen mag“, sondern, dass die „europäische Dynamik“ einen mentalen Hintergrund habe: die Freiheitsidee, Demokratie, Sozialstaat. Die Voraussetzung dafür seien das Arbeitsethos und eine Kultur, die
alles zusammenhalte.

Stefan Zweig – laut Wagner einer der Verfasser der „erfolgreichsten deutschsprachigen Grabreden auf die Donaumonarchie“ – stellt in seiner Autobiographie „Die Welt von  gestern“ zu Habsburg fest: „Und ich wusste: abermals war alles Vergangene vorüber, alles Geleistete zunichte – Europa, unsere Heimat, für die wir gelebt, weit über unser eigenes Leben hinaus zerstört.“ Er bedauert den Untergang Habsburgs: „Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit“.

Was verbindet Adam Müller-Guttenbrunn, Béla Bartók, Stefan Zweig, Joseph Roth, Elias Canetti, Robert Musil, Franz Kafka, Claudio Magris, Max Brod, Leo Perutz, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Gustav Meyrink, Andrzej Kuśniewicz, Liviu Rebreanu, Miroslav Krleža, Emil Cioran, Italo Svevo miteinander? Sie alle haben schriftliche Zeugnisse über das Habsburgerreich hinterlassen und jenen Ismus begründet, der in Richard Wagners Buch erinnert wird: der Habsburgismus!

Wagner wendet sich dem neuen Europa mit Erzählungen geschichtlicher, politischer, kultureller, musikalischer, kulinarischer und philosophischer Natur zu, indem er in eine fiktive Bibliothek geht. Dort findet er in der „verlorenen Welt“ der Habsburger den „fernen Spiegel europäischer Gegenwart“. Dort blickt er auf das Wien der Jahrhundertwende und zeichnet das Bild einer geistigen Provinz, die auch eine Peripherie hatte. Aus dieser Peripherie kommt auch der Banater Richard Wagner – aus einer Welt, in der er sich als intellektueller Geist formte. Nun nimmt er uns mit auf eine Reise durch diese „Welt von gestern“ mit ihrer Geschichte, ihren Persönlichkeiten, ihren Traditionen und ihrer Küche.

Wagner wird selbst zum Bibliothekar, der Buchseiten aufschlägt und erzählt. „Das Habsburgische Reich war der erste moderne Großstaat in Mitteleuropa, der mit Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu rechnen hatte.“ Diese „verlorene Welt“ sei mit dem „Aufstieg des Multikulturellen“ untergegangen. Kann das Habsburgerreich wirklich als Vorbild für die Europäische Union dienen? Der „Spiegel europäischer Gegenwart“, zu dem die k.u.k.-Monarchie avanciert, zeige uns deutlich den Zerfall des „Wir“, so Wagner. Mit dieser Feststellung auf den ersten Seiten des Buches weist der Autor sogleich auf den Zerfall Großeuropas hin, sobald dies überdehnt und kulturell ausgereizt werde. Er stellt die Ausdehnung Europas bis in die Ukraine in Frage und stellt die Unterschiede heraus: „Der Osteuropäer, so würde es der Philosoph sehen, verharrt irgendwo zwischen Größenwahn und Selbstaufgabe … in seiner Verzweiflung … versucht er den Westen zu kopieren.“

1989 habe dem Osten die Freiheit gebracht, aber nicht die Freiheit, „die man meinte“, die mehr war als nur die eigene, die persönliche Freiheit, so Wagner. Ein wichtiger Gewinn nach der Wende sei die Wiederherstellung Mitteleuropas – das einstige Habsburgerreich – gewesen. Um dieses Mitteleuropa drehen sich viele Geschichten im Buch: über die schöne blaue Donau oder die habsburgische Konditorei, über Elias Canetti aus Rustschuk, Béla Bartók aus Großsanktnikolaus, Franz Kafka aus Prag, Italo Svevo („der italienische Schwabe“) aus Triest, über das Bildnis des Kaisers, die Kaiserhymne, die Ulmer Schachteln, den Theaterzensor usw. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor den Geistesgrößen.

Als Banater Schwabe sucht Wagner nach Spuren, nach Vergleichen in jenem Mitteleuropa, wo ein anderer Bibliothekar, der Österreicher Erwin Reisner, der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in Hermannstadt lebte, nach seiner Ausweisung nach Berlin ging, nicht nach Wien. Auch die Banater Schwaben gingen nicht nach Österreich, sondern nach Bayern, Hessen oder Preußen. Sie verließen ihre mitteleuropäische Identität.

Es gäbe Orte mit Büchern und Orte ohne Bücher, so Wagner. Wien war ein Ort mit Büchern. Viele Orte der Banater waren jedoch solche ohne Bücher. Keine bekannte Geistesgröße kam aus Temeswar. Gaben die bücherlosen Bauern- und Handwerkerhaushalte der Banater aber nicht den Nachkommen die Freiheit, diese zu suchen und zu finden? Herta Müller betont in ihrem Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“, dass eben ihr bücherloses Elternhaus sie zur Fantasie anregte, obwohl „dieses Schwarz auf Weiß der Sätze, das die Wörter so mit sich bringen“, eine andere Art Fantasie sei als die Gedanken der Kindheit.

Wagner erzählt die Geschichte des Habsburgerreichs in knappen, wunderbaren Geschichten beginnend von der Belagerung Wiens durch die Türken 1683 bis in die Gegenwart, wenn er 2009 über ein Werbeplakat der Austrian Airlines mit der Aussage „Das dichteste Netz in Osteuropa seit dem KGB“ sinniert oder Max Raabe preist. Oder wenn er über das erste Buch zum Banat von Franz Griselini erzählt, wenn er erklärt, woher der Begriff „der eiserne Vorhang“ stammt, wenn er über die Priester im Banat plaudert oder über Temeswar und seine Theatergasse nachdenkt.

Wagners „Habsburg“ ist eine kurzweilige, fesselnde Lektüre. Die Geschichten sind zauberhaft erzählt und erinnert. Es gibt viele Gründe, dieses Buch zu lesen und immer wieder zu lesen, auch wenn man nicht mit allen Meinungen Wagners einverstanden sein mag, denn es ist nicht nur Nachschlagewerk für die Geschichte der Banater Schwaben oder Reiseführer der Orte dieser vergangenen Habsburger-Welt, sondern es enthält beispielsweise auch die Kochrezepte unserer Großeltern. Es ist ein Gemütsbuch unserer Vorfahren und gehört somit eigentlich für jeden Banater Schwaben auf den Nachttisch.    

Richard Wagner: Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2014. 239 Seiten. ISBN 978-3-455-50306-7. 27,99 Euro