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Plädoyer für das Heimatbuch (Teil 3)

Auf die Perspektive kommt es an: Gestern noch Wirklichkeit – heute bereits Idylle. Die Nachbarschaft aus der »Hinerschtgass « in Lenauheim beim »Maie«. Das Bild von einer Fotoglasplatte von 1920 wurde von Hans Rothgerber reproduziert.

Zum Studienband »Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung« (3). Die donauschwäbische Heimatforschung und heimatbezogene Publikationstätigkeit vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach massenhafter Flucht und Vertreibung unter völlig veränderten Bedingungen und Zielsetzungen, wie Josef Wolf ausführt.

Hans Diplich (1909–1990) und Hans Wolfram Hockl (1912–1998) gehörten mit der Schrift „Heimat im Herzen. Wir Donauschwaben“ (Salzburg 1950) zu den Vorreitern der Weiterführung donauschwäbischer Heimatpublikationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie im Falle der ostdeutschen Heimatvertriebenen, prägte der Heimatverlust die Perspektive und Diktion auch bei den donauschwäbischen Heimatbüchern, wobei „das Anliegen, Erinnerung wachzuhalten und kollektives Gedächtnis zu konstituieren“ (J. Wolf) im Vordergrund stand. Hervorgehoben wird die Pionierleistung von Josef Volkmar Senz (1912–2001) für die Batschkadeutschen durch die Herausgabe des „Apatiner Heimatbuchs“ (Straubing 1966) und die Tätigkeit des im Arbeitskreis
Donauschwäbischer Lehrer (ADL) wirkenden Schwicker-Arbeitskreises. Das ungarndeutsche Muster im Bereich des donauschwäbischen Heimatbuchs wurde von Anton Tafferner (1910–2007) geprägt, während Anton Peter Petri (1923–1995) „für die banatdeutschen Heimatbuchautoren (…) zur maßgeblichen historischen Instanz“ wurde, wie J. Wolf ausführt. Und weiter: „Kein zweiter Historiker oder Heimatforscher aus dem donauschwäbischen Bereich hat so viele Heimatbücher verfasst, mit initiiert oder Beiträge, Quellenmaterial und sonstige Textbausteine für ihre Erarbeitung geliefert.“ Im Schlussteil der Untersuchung, die eine große Fülle einschlägiger Literatur auswertet und zu eigenständiger Synthese bündelt, werden die „strukturellen Merkmale donauschwäbischer Heimatbücher“ zusammenfassend beschrieben. Ihr Spezifikum ist – bei aller Vielfalt der darauf einwirkenden Faktoren – letztlich von der Minderheitenexistenz der Donau-schwaben in ihrem Siedlungsraum bestimmt.

In einen ganz anderen Raum und historischen Abschnitt führt der Beitrag von Andreas Schmauder: „Ortsgeschichtliche Forschung in Südwestdeutschland. Das Beispiel Gemeinde im Wandel“. Er unterstreicht den „beispiellos hohen Stellenwert, welcher der Beschäftigung mit der Ortsgeschichte im deutschen Südwesten zukommt“. Eindrucksvoll wird dies belegt durch die „beinahe unübersehbare Flut“ von Neuerscheinungen in diesem Bereich. Der Verfasser bietet einen straffen Über-blick über die beachtliche Forschungstradition im Südwesten und über neuere ortsgeschichtliche Literatur dieser Region sowie über deren dichte, weitverzweigte Forschungslandschaft seit Beginn der neunziger Jahre, als die „wissenschaftliche Ortsgeschichte eine neue Qualität und Dimension erlangt“ habe. Herausgehoben wird das Tübinger Institut für Geschichte und Landeskunde, das mit der von Sönke Lorenz und Andreas Schmauder herausgegebenen Reihe „Gemeinde im Wandel“ neue Maßstäbe setzt. Andreas Schmauder vermerkt das wachsende Interesse der Geschichtswissenschaft an der Landes-, Regional- und Ortsgeschichte. Er weist dann auf die Bedeutung der Zusammenarbeit wissenschaftlicher Forschung und Heimatforschung hin, auf den Austausch mit der wichtigen Zielgruppe der historisch, geografisch oder landeskundlich interessierten Laien.

Heimatbücher in Südwestdeutschland werden im Kapitel „Merkmale und Geschichtsbilder“ des vorliegenden Bandes aus ganz unterschiedlicher Perspektive in Beiträgen von Wilfried Setzler, Gustav Schöck und Wolfgang Sannwald untersucht. In seinem vielseitigen, grundlegenden Beitrag „Erinnerungskultur vor Ort. Heimatbuch – Landesgeschichte –Wissenschaft“ erläutert Wolfgang Sannwald die individuelle und soziale Erinnerungsfunktion des Heimatbuchs, durch die es der landesgeschichtlichen Forschung zur Seite steht und sich den Anspruch auf wissenschaftliche Relevanz erwirbt. Er geht vom „menschlichen Grundbedürfnis nach Erinnerung, nach deren identitätsfördernder Formung und Nutzung“ aus. Bücher oder andere Darstellungsarten können Erinnerungen, so Sannwald, in einen „Sinnzusammenhang“ bringen, sie zu einer Erzählung formen, deren wirksamste Ausprägung in der Geschichtswissenschaft als „sinnstiftende Meistererzählung“ bezeichnet wird. Diese vermittelt „historische Großdeutungen“, die für eine bestimmte Zeit oder Erzählperspektive „leitend werden“. Auch Heimatbüchern schreibt Sannwald diese Wirkung in der Darstellung der Vergangenheit eines begrenzten Raumausschnittes zu. Der Verfasser verweist auf die große Ähnlichkeit des Heimatbuchs mit der Landesgeschichte als „ein Instrument der Erinnerungskultur“. Es zeichne sich jedoch durch einen höheren emotionalen Gehalt aus, komme dem „Heimatbedürfnis“ entgegen.

Im Abschnitt „Fremde Heimat“ merkt der Verfasser an, dass das Thema „Abwesenheit von Heimat“ oder „Entzug von Heimat“ nicht fehlen dürfe und wendet sich scharf gegen „Heimatraub“. „Typologisches zu Heimatbüchern“ beschreibt Sannwald sodann anhand von 51 Publikationen aus dem heutigen Landkreis Tübingen, die von 1930 bis 2008 erschienen sind, und verdeutlicht den Wandel vom „klassischen Heimatbuch“ zu jenem „neueren Typs“. Für die Berücksichtigung in der wissenschaftlichen Diskussion müsse Heimatgeschichte, d. h. auch das Heimatbuch, nach Wolfgang Sannwald „Mindeststandards“ erfüllen und glaubwürdig sein.

Auf eine solide Materialbasis stützt sich auch Gustav Schöck in seinem Beitrag „Zwischen vaterländisch und identitätsstiftend. Perspektivenwechsel bei den Heimatbüchern in Südwestdeutschland“. Er wertet 24 Heimatbücher aus Baden und Württemberg und eines aus dem Ries aus, um das Verhältnis zwischen politischer Intention und inhaltlicher Präsentation zu untersuchen. Sein Augenmerk gilt zunächst den Heimatbüchern der Zwischenkriegszeit. Er erinnert mit aufschlussreichen Zitaten daran, dass in südwestdeutschen Heimatbüchern der dreißiger Jahre nationalsozialistische Ideologie und der dazugehörende Sprachgebrauch deutlich präsent waren. Die Veränderungen in der politischen Intention der Heimatbücher sieht Gustav Schöck in enger Beziehung zur „Differenzierung“ des Heimatbegriffs, der sich von der Überbetonung des Äußerlichen zum „emanzipierten“ Heimatbegriff der siebziger Jahre gewandelt hat. Er erinnert an den „pädagogischen Impetus“ der Heimatbücher, die für ihre Leser auch Lebenshilfe sein können und „retrospektive Identitätssicherer“. Gustav Schöck spricht sich für ein Heimatbuch-Konzept aus, in dem das einst für Mußestunden gedachte Haus- und Familienbuch sich mit wissenschaftlicher Solidität verbindet.

Die Frage nach der NS-Zeit in Heimatbüchern wird in einigen Beiträgen des hier besprochenen Buches erörtert als zentrales Thema von Wilfried Setzler: „Die NS-Zeit im Heimatbuch – ein weißer Fleck?“ Dafür wertet er sechzig von ihm ausgewählte Heimatbücher aus, die größtenteils Orten in Württemberg gewidmet sind und deren Erscheinungsdaten gut fünf Jahrzehnte seit Gründung der Bundesrepublik abdecken. Der Autor geht in Jahrzehnten-Schritten chronologisch vor. Zögerlich und peripher behandelten die Heimatbücher dieses Thema in den fünfziger Jahren, während es „in den sechziger und siebziger Jahren (…) weitgehend verdrängt, ausgeklammert, verschwiegen“ wurde, wie W. Setzler festgestellt hat. Der Schweigekonsens wurde – so der Autor – in den achtziger Jahren mehrheitlich durchbrochen. Kritisch vermerkt Wilfried Setzler, dass das Thema „Juden in der NS-Zeit“ in den Heimatbüchern ausgeklammert oder klischeehaft dargestellt werde. Dazu sei eine eigenständige Untersuchung erforderlich.

Friedemann Schmoll eröffnet seinen Beitrag „Die Vergegenwärtigung des Verlorenen. Heimatbücher im Schnittfeld von Geschichte und Erinnerung“ überraschenderweise mit der Frage „Was ist ein Heimatbuch?“, die vor ihm andere Beiträge in diesem Band bereits gestellt und nuancenreich beantwortet haben. Er vertieft und systematisiert allerdings ideologische und politische Aspekte des Heimatbuchs und unterstreicht, dass Heimatbücher nicht „Segmente historischer Wirklichkeiten, sondern die Totalität von Lebenszusammenhängen in allen natürlichen und kulturellen Dimensionen“ thematisieren. Dies will jedoch nicht ganz zur streckenweise vehementen und pauschalen Kritik Schmolls an Heimatbüchern passen, die nach seinem Eindruck auch „beschweigen, verdrängen, übermalen, retuschieren“ und „Heimat als insuläres Paradies“ darstellen. Wiederholt bezieht sich der Autor auf in diesem Band abgedruckte Beiträge und zitiert daraus. Auch andere Mitverfasser berufen sich auf im Band enthaltene Texte, als ob diese Beiträge in einem Vorabdruck erschienen wären. Eingehend befasst sich der Autor mit der Geschichte des Begriffs Heimat, dessen „Ambivalenzen und Konjunkturen“ und dessen politische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus. Der Begriff habe „durch das Schicksal der Heimatvertriebenen neue Bedeutungsaufladungen“ erfahren. Die damit verbundenen Heimatbücher stehen, wie andere auch, „im Schnittfeld professioneller Historiographie und Amateurgeschichte“.

Eine Zusammenschau der vielschichtigen Hintergründe und einwirkenden Faktoren bei der Entstehung von Heimatbüchern bietet, vorwiegend aus soziologischer Perspektive, der Beitrag „Zur Produktion von Heimatbüchern. Erfahrungen, Beobachtungen, Reflexionen“ von Renate und Georg Weber. Sie begrenzen ihre Untersuchung auf Heimatbücher der Siebenbürger Sachsen, setzen jedoch die Erstellung und den Wert der Heimatbücher in größere erkenntnistheoretische und geschichtswissenschaftliche Zusammenhänge. So erörtert der Beitrag beispielsweise die Frage nach den Quellen der Heimatforscher und unterstreicht die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für das Heimatbuch, der „Oral History“. Die Autoren nennen ihren Zugang zum Gegenstand der Untersuchung „empirisch“, stützen sich auf eigene, weitgefächerte „Erfahrungen, Beobachtungen, Reflexionen“, über die sie als Verfasser eines siebenbürgischen Heimatbuchs, als fachlich ausgewiesene Förderer der Heimatbuch-Produktion der Siebenbürger Sachsen und nicht zuletzt als mit Siebenbürgen verbundene Soziologen und Historiker verfügen. Sie sehen und beschreiben „einen Zusammenhang von Emigration der Siebenbürger Sachsen mit ihrer Produktion von Heimatbüchern bzw. Ortsmonografien“. Der rein statistische Beleg: Von 1866, dem Erscheinungsjahr der ältesten siebenbürgischen Gemeindechronik, bis 1960 erschienen in Siebenbürgen 35 deutsche, ungarische und rumänische Darstellungen zu siebenbürgischen Ortschaften, während in den darauffolgenden 45 Jahren 213 siebenbürgisch-sächsische Ortsmonographien außerhalb Siebenbürgens publiziert wurden. Renate und Georg Weber weisen nach, dass der Zusammenbruch der „Lebenswelt“ als Folge der Auswanderung die Identität des Einzelnen und die seiner Gruppe stark erschüttert, dass in solcher Krisensituation im Rückgriff auf die Herkunftsgemeinde Halt gesucht wird. In diesem Phänomen wie auch in den Auswirkungen des „Individualisierungsprozesses“ – beides wird ausführlich beschrieben – sehen die Autoren entscheidende Beweggründe für die erhöhte Heimatbuch-Produktion bei den Siebenbürger Sachsen.

Mit Heimatpublikationen aus drei niederschlesischen Regionen – den Kreisen Waldenburg und Frankenstein sowie der Grafschaft Glatz – setzt sich Ulrike Frede auseinander in ihrem Beitrag „Unsere Heimat war deutsch. Überlegungen zum Umgang mit Geschichte und Geschichtsbildern in ostdeutschen Heimatbüchern“. Es geht der Autorin zunächst um die besonderen Merkmale der Gattung „Schlesisches Heimatbuch nach 1945“, die im Grunde auch auf die Heimatbücher der anderen ehemaligen deutscher Ostgebiete zutreffen: Bücher als „imaginäre Heimat im Geiste“, „gegen das Vergessen“ und für die Aufklärung der westdeutschen Landsleute über die siebenhundertjährige deutsche Geschichte im Osten. Ulrike Frede beschreibt anhand von 164 niederschlesischen Heimatpublikationen deren Charakteristiken in verschiedenen „Zeitfenstern“, d. h. historischen Abschnitten, wobei der Darstellung des Kriegsendes und der unmittelbaren Nachkriegszeit zentrale Bedeutung zukommt. Aufschlussreich und vorbildlich ist Ulrike Fredes Analyse der Beziehung zwischen der von vielen Einflüssen geprägten Persönlichkeit des Heimatbuch-Autors und seinem Werk. Zu Recht weist die Autorin darauf hin, dass „die vielschichtigen Bedingungen bei der (Heimat-) Buchentstehung“ für eine objektive Bewertung der Heimatbücher, hier insbesondere bezogen auf ostdeutsche Publikationen, zu berücksichtigen sind. Als Werkstattbericht will Elisabeth Fendl ihren Beitrag „Das neue Heimatbuch. Neue Medien, neue Perspektiven“ verstanden wissen. Sie betritt Neuland mit der Analyse von heimat-bezogenen Internet-Auftritten der Vertriebenen und von Heimatpublikationen über ehemalsdeutsche Orte im Osten, die von jetzigen Bewohnern geschrieben wurden. Der Bericht bietet Einblick in die formale, inhaltliche und funktionale Vielfalt von Internet-Präsentationen (Homepages) der Vertriebenen, vorwiegend aus den böhmischen Ländern. Vermerkt wird der Einfluss des neuen Mediums auf die landsmannschaftlichen Organisationen, auf die Aktivierung der jüngeren Generation der „Nachgeborenen“. Mit dem nicht selten „unprofessionellen Erscheinungsbild“ der heimat-bezogenen Homepages geht Elisabeth Fendl kritisch ins Gericht, ebenso mit inhaltlichen Fehlentwicklungen, etwa der unreflektierten Übernahme und Vermittlung veralteter Geschichtsbilder aus überholten Druckschriften. Untersucht wird die „dialogische Struktur“ der ortsbezogenen Internet-Auftritte, der sogenannten „digitalen Heimatbücher“, und deren generationen- und grenzenüberschreitende Nutzung. Positiv kommentiert die Autorin die „Heimatbücher der anderen Seite“, das wachsende Interesse tschechischer oder polnischer Historiker, Künstler, Ausstellungsmacher an der Geschichte ehemals deutscher Orte, die nicht mehr exis-tieren.

In einer sachlich fundierten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und nicht in gegenseitiger Vorwurfshaltung liegt denn auch eine Chance weiterer Heimatforschung und Fortführung der Heimatbücher, hüben wie drüben, sowie deren Einbeziehung in den geschichtswissenschaftlichen Diskurs, hier wie dort. Dafür können vom vorliegenden Sammelband wirksame Impulse ausgehen.