zur Druckansicht

Skurrile Rückblicke der Rumäniendeutschen - Vor zehn Jahren ist der Sammelband „Jein, Genossen!“ erschienen

Das Erinnerungsbuch habe ich mit dem vielseitigen, rührigen Dr. Hans Gehl zusammengestellt, als er noch befürchtete, nach seinem Eintritt ins Rentenalter zu versauern. Es umfasst siebzig Beiträge und berichtet über die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes, in einigen Fällen auch über den schweren Anfang in der neuen Heimat. So ein Buch gab es damals noch nicht.

Gehl und ich waren von Geburt her Banater, hatten aber den Ehrgeiz, dass die Beiträge alle deutschen Siedlungsgebiete vertreten und natürlich auch die Hauptstadt als kulturelles Zentrum der Rumäniendeutschen. Aus diesem Konzept ergab sich ein Hindernis für die Veröffentlichung, denn weder die Landsmannschaft der Banater Schwaben noch jene der Siebenbürger Sachsen fühlte sich zuständig. Während die Intellektuellen der Schwaben und der Sachsen im kommunistisch regierten Rumänien vortrefflich kooperiert hatten, gingen sie in Deutschland getrennte Wege. Also wandte ich mich an den IKGS-Verlag in München. dessen damaliger Direktor Dr. Stefan Sienerth hat das Projekt akzeptiert. Das Typoskript wurde vom ehemaligen Lenau-Schüler und NBZ-Redakteur Eduard Schneider lektoriert.

Die Mitautoren

Wir sprachen ehemalige Mitschüler an, ehemalige Kollegen, dann Personen, die wir bei Seminaren in Sindelfingen und Bad Kissingen kennengelernt hatten. Wir nahmen Verbindung auf zu Lehrern, Geistlichen, Künstlern, Ärzten, Ingenieuren und Agronomen, zu Handwerkern und Bauern, auch zu ehemaligen Funktionären, zu Männern und zu Frauen. Vornehmlich aus Alters- und Krankheitsgründen erhielten wir zahlreiche Absagen.

Der Deutschlehrer Nikolaus Horn, den ich von der Temeswarer Pädagogischen Lehranstalt und von der Germanistik-Fakultät her kannte, verfasste einen Text über seine Beschattung durch den Geheimdienst, der Titel lautet: „Eine Vorladung zur Securitate“. Mein vormaliger Klassenkollege Karl Wambach war Maschinenbau-Ingenieur in einem Forschungsinstitut, als er im November 1976 an der Grenze aus dem Kleinbus geholt wurde, in dem er sich versteckt hatte. Nach dem Prozess verbrachte er ein Jahr im Temeswarer Gefängnis „Popa Şapcă“, siehe den Bericht „Von den Grenzern ertappt“. Ein anderer ehemaliger Mitschüler im Lenau-Lyzeum, Rudolf Kastel, Entwicklungsingenieur im Temeswarer Institut für hydroenergetische Ausrüstungen, ist nach wochenlangem heimlichem Training im August 1981 über die grüne Grenze nach Jugoslawien gelangt und von dort nach Nürnberg. Seine Erlebnisse sind in der Reportage „27 laufen über die Grenze“ zusammengefasst. Ich sprach Frau Magdalene Rotaru an, die 1992 in Gießen im selben Übergangswohnheim an der Marburger Straße gewohnt hat. Von ihr stammt der Beitrag „Zweimal deportiert: im Donbass und im Bărăgan“.

Als mein ehemaliger „Neuer Weg“-Kollege Heinrich Lauer, der in München lebte, von dem Projekt erfuhr, bot er sich als Mitarbeiter an: „Braucht ihr keinen Außenminister?“ Aber dann ereilte ihn eine tückische Krankheit. Mein ehemaliger NW-Kollege Franz Heinz steuerte einen umfangreichen Text bei – die Erinnerungen an seinen Militärdienst bei den Schaufel-Soldaten in Tagebuch-Form: „Steinbruch und Ölfeld“. Er gestand später, er sei stolz darauf, in diesem Kontext veröffentlicht zu werden. Auch mein ehemaliger NW-Kollege Edmund Höfer steuerte einen Text bei: „Wie ich Igor Markewitsch fotografierte“. Markewitsch war ein russischer Dirigent, an den der Geheimdienst niemanden heranlassen wollte. Mein ehemaliger NW-Kollege Hans Steiner schickte zwei Texte: „In der Donautiefebene ausgesetzt“ und „Freudentränen oder Der Fall der Mauer“.

Ernst Zehschnetzler, vormals auch beim „Neuen Weg“, schickte mir Hintergrund-Informationen zur Aufklärung des Mordfalls Nikolaus Fasekasch im Jahre 1970. Die mutige Recherche von Ernst Zehschnetzler und Martin Mühlroth führte zur Bestrafung der zwei Milizmänner, die den Spenglermeister aus Darowa umgebracht hatten – die nicht von der Zensur abgesegnete Veröffentlichung im „Neuen Weg“ aber hatte um ein Haar zur Folge, dass die gesamte Chefredaktion abgesetzt wurde („Ein Mordfall in der Zeitung“).

Zu den Autoren gehören außerdem: Arthur Braedt, vormals Direktor des Bukarester Kulturhauses „Friedrich Schiller“ – Benno Wermescher, einst Apotheker im Bukarester Zentrallabor für Arzneimittelkontrolle – Dr.-Ing. Josef Pitzer, bekannt als Direktor der Temeswarer Maschinenbaufabrik „6. März“ – Alfred Hans Mühlroth, erst Baustellenleiter in der LPG und anschließend Bürgermeister von Lenauheim – Hedi Hauser, Kinderbuchautorin und Cheflektorin des Kriterion-Verlags – Olga Katharina Farca, die Tochter einer Hochzeitsköchin – Wilhelm Binder, ehemals Bürgermeister von Scharosch – Angela Falk, Schauspielerin am Temeswarer Deutschen Staatstheater – Michael Fredel, ein Kronstädter Rechtsanwalt, der sich um die Rückgabe der enteigneten Häuser bemühte – der einstige Zensor Georg Schuller – der Arzt Ferenc Báranyi, der von 1960 bis 1965 als Kreisarzt in der Ortschaft Socol an der jugoslawischen Grenze tätig war (dort wo die Nera in die Donau mündet) – Hans Taugner, vormals Angestellter der Lenauheimer Konsumgenossenschaft – Herbert Weiss, einer der Dirigenten des Schubert-Chors (in dem Gehl Mitglied war). Der Arzt Werner Niederkorn erläutert die schrecklichen Auswirkungen des Dekrets, welches von heute auf morgen die Schwangerschaftsunterbrechung verbot („Die misslungene Geburtenplanung“).

Erinnerungen von Zeitzeugen

Die ersten fünf Texte geben die Erinnerungen alter Menschen wieder, die mein ehemaliger NW-Kollege Walther Konschitzky unter dem Rubrik-Titel „Dem Alter die Ehr“ in der Zeitung veröffentlicht hat. Ihre Aufnahme in das Erinnerungsbuch wird durch den Umstand gerechtfertigt, dass die alten Menschen in der Zeit nach dem Krieg, als es noch kein Fernsehen gab, am Abend erzählten: was man über die Einwanderung wusste – über den Ozeanflieger Georg Endresz – die Bräuche der Handwerker – Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg – vom Weinbau in Tirol – ehemalige Hochzeitsbräuche. Diese Texte waren nur in der Zeitung erschienen, nicht aber in der gleichnamigen Anthologie.

Bei der Illustration für den Buchdeckel entschieden wir uns für ein Gemälde von Franz Ferch, welches die Heimkehr einer jungen Frau aus der Russland-Deportation darstellt und alle Rumäniendeutschen ansprechen würde.

Als eine Art Reklame für das Erinnerungsbuch sollte eine unglaubliche, sensationelle Story in dem von Dr. Walther Konschitzky herausgegebenen „Banater Kalender 2008“ dienen: die Geschichte der vom Radiotechniker Günter Istok eingefädelte Flucht auf dem Luftweg von Warjasch nach Stuttgart im August 1982, die „Flucht im Privatflugzeug“. Kein Mensch konnte sich vorstellen, dass von 2008 bis zur Veröffentlichung sage und schreibe noch sechs Jahre vergehen würden … Vermutlich wurde unser Buch von potenten Mitgliedern des Aufsichtsrates zugunsten eigener Projekte immer wieder auf die lange Bank geschoben – bis es dem Direktor endlich gelang, es „durchzuboxen“ (sein Ausdruck).

Magdalene Rotaru, Wilhelm Binder und Edmund Höfer haben die Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Die Auflage belief sich auf 300 Exemplare. Jeder Mitautor erhielt ein Exemplar, etwa ein Drittel der Auflage gelangte in den Handel. Der Rest befindet sich in Bibliotheken.

Möbel für IKEA, Schokolade für die Schweiz

Seither habe ich bei diversen Gelegenheiten Geschichten erfahren, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen, aber die Sache war gelaufen. Die von der Ceauşescu-Clique verschuldete Misswirtschaft wurde von manchen Deutschen, gar nicht wenigen, als Unfähigkeit des rumänischen Volkes ausgelegt, man sprach geringschätzig von einer „walachischen Wirtschaft“. Sicher wäre die Einschätzung differenzierter ausgefallen, wenn breiten Kreisen bekannt gewesen wäre, wie viele rumänische Erzeugnisse, insbesondere Produkte der Leichtindustrie, in den Westen verkauft worden sind, u.a. Textilien, Kleinkinder-Bekleidung, Schuhe, Handschuhe, Hüte, Glaswaren, Möbel, Schinken, Schokolade. Von der Produktion der Temeswarer Textilfabrik „1. Juni“, die auf Baby-Konfektion spezialisiert war, wurden 99 Prozent zwecks Anschaffung von Valuta zu Schleuderpreisen in den Westen exportiert. Die Temeswarer Strumpffabrik lieferte in die Bundesrepublik und nach Italien. Die Heltauer Teppichfabrik lieferte nach England. Manche Produkte wurden von ausländischen Firmen angekauft und als im Westen hergestellte Waren abgesetzt. Auf den Strümpfen klebte ein Etikett Made in Germany bzw. Made in Italy. In den Möbelfabriken hat man die für IKEA bestimmten Garnituren mit der Aufschrift Made in Sweden versehen. Die Temeswarer Bonbons- und Schokoladenfabrik „Kandia“ lieferte an ein Schweizer Unternehmen, man hat die Schokolade in ein Papier mit der Aufschrift Made in Switzerland verpackt. Das waren hervorragende Zeugnisse für die in Rumänien lebenden Arbeiter, Techniker und Ingenieure, unter ihnen Rumänen, Ungarn, Deutsche, Ukrainer, Serben, Bulgaren.

Eines Tages kaufte ich im Bukarester Universal-Kaufhaus „Obor“ unverhofft zwei Bücherregale mit dem Aufkleber IKEA, die man aus irgendeinem Grund vom Export zurückgewiesen hatte. Auf diesen Fund konnte ich mir keinen Reim machen. Kollegen aus der Wirtschaftsabteilung des „Neuen Wegs“ haben mich aufgeklärt. Sie schilderten, wie die Kontrolle durch IKEA-Spezialisten vor sich geht: Zwei Kontrolleure lassen hundert bereits verpackte Garnituren – willkürlich ausgewählt – wieder auspacken und zusammenbauen. Dann sehen sie sich die Stücke genau an. Falls sie einen Kratzer, eine gebrochene Schraube, ein falsch sitzendes Scharnier, ein klemmendes Lädchen oder sonst einen Fehler finden, weisen sie alle hundert Garnituren zurück. Die verteile der Handel auf das ganze Land.

Der Etikettenschwindel konnte nicht geheim bleiben, zu viele Leute wussten davon, er sprach sich herum. Die Geschichte von den Strümpfen weiß ich von meiner Frau, die in der Strumpffabrik angestellt war. Die Geschichte von der Schokolade hat meine Familie von ehemaligen Kollegen meines Großvaters erfahren, der dreißig Jahre lang in der „Kandia“ arbeitete.

Mit Freude und Genugtuung

Die insgesamt 21 Mitautoren, die sich nach Versand des Freiexemplars bei mir gemeldet haben, wollten vor allem ihre Freude und Genugtuung über das gelungene Projekt mitteilen. Der älteste noch lebende Zeitzeuge, Herr Richard Mildt, 92 Jahre alt, hat mich angerufen. Frau Ilse Wanek, 91 Jahre, hat mir mit ihrem Brieflein hundert Euro geschickt, was mich in große Verlegenheit versetzte. Ich erklärte ihr das Missverständnis: Was soll ich dem heiligen Petrus sagen, wenn er mit dem Finger auf mich zeigt, weil ich schamlos die Unwissenheit einer lieben alten Frau ausgenützt habe? Aber von einer Rückgabe wollte sie nichts wissen. So und so, alles in bester Ordnung. „Soll ich das dem Petrus sagen?“ – „Das können Sie machen.“

Das Sammeln der Texte hat rund zweieinhalb Jahre gedauert. Gehl und ich waren dann so in Schwung, wir hätten es in anderthalb Jahren auf hundert Texte gebracht. Das wären freilich zwei Bände gewesen, und die hätte niemand finanziert. Der IKGS-Direktor Dr. Stefan Sienerth unterstützte das Projekt. Wie viel Zeit bis zur Veröffentlichung vergehen würde, konnten die Herausgeber sich damals nicht vorstellen. In den Kurzbiografien der Autoren ergab sich nach und nach eine Lücke von acht Jahren.

Natürlich haben nach dem Erscheinen manche Landsleute gleich gezählt: so viele Schwaben, so viele Sachsen usw. 51 Männer und nur 18 Frauen! Aber die nackte Statistik führt irre. Aus den Texten geht die Komplexität der Beziehungen zwischen Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen hervor: Sie waren Schulkollegen, Arbeitskollegen, waren zusammen verschleppt, zusammen eingesperrt, in einigen Fällen verheiratet. Mithin laufen die Beziehungen zwischen Banatern und Siebenbürgern kreuz und quer durch das Buch, so wie sie – nach dem Zweiten Weltkrieg – kreuz und quer durch das Land gelaufen sind. Das von den Herausgebern nicht beabsichtigte zahlenmäßig Übergewicht der Banater geht in erster Linie darauf zurück, dass die Herausgeber Banater sind und mehr Banater kennen. Leider ist es uns nicht gelungen, einen Siebenbürger Sachsen als Mitherausgeber ins Boot zu holen. Natürlich spielte auch der Zufall mit. Wir haben mehr als doppelt so viele Personen wegen eines Beitrags angesprochen und eine Reihe von Absagen erhalten, ein öfter genannter Grund waren körperliche Leiden. Wenn wir einen guten Beitrag bekommen konnten, haben wir ihn natürlich genommen.

Der Historiker Michael Kroner wollte das Vorwort schreiben, wir haben in diesem Sinne intensiv korrespondiert. Er kannte viele Beiträge. Doch eines Tages wurde er scharf angegriffen. Man warf ihm vor, er habe mit dem kommunistischen Regime paktiert, sonst wäre es nicht möglich gewesen, dass er in Rumänien als Historiker promovierte. Die Vorwürfe haben ihm stark zugesetzt, deshalb sah er sich nicht in der Lage, das Vorwort zu verfassen. Er befürchtete auch, es würde dem Projekt schaden, wenn er das Vorwort unterzeichnet. Der ursprüngliche Titel lautete: „Alles selbst erlebt. Was die Rumäniendeutschen erzählen / Vom Zweiten Weltkrieg bis nach dem Fall der Mauer“. Der tatsächliche Titel ist ein Kompromiss wie vieles andere im Leben.