Elke Schütz wurde 1975 in Arad geboren, verbrachte ihre Kindheit in Traunau und wanderte als Vierzehnjährige nach Deutschland aus. Diese Biografie teilt sie in der einen oder anderen Abwandlung mit Zehntausenden aus der Nachkriegsgeneration der Banater Schwaben oder Rumäniendeutschen allgemein. Eine Biografie, die oszilliert zwischen der Geborgenheit in einer Gemeinschaft mit überlieferten Regeln, Erfahrungen der Repression und schließlich dem kompletten Umbruch in einem neuen Leben.
Als die Pandemie Elke Schütz an der geplanten Rumänienreise hindert, nutzt sie die Zeit, um ihre Geschichte aufzuschreiben. Es ist keine larmoyante Nostalgie-Geschichte in der Tonlage: „Früher war alles besser.“ Es ist auch nicht die Erkenntnis, dass die „alte Heimat“ auch nach Jahrhunderten noch Heimat ist. Es ist der zuweilen sehr dornige Weg einer Jugendlichen, die ihren Platz erkämpfen und herausfinden musste, wer sie wirklich ist und wo sie hingehört. „Lange dachte ich, ich müsste mich doch endlich mal entscheiden, damit ich einen roten Faden für mein Leben hätte, der mir die Richtung zeigt. Ich musste feststellen, dass das so nicht funktioniert, denn ich trage alles, was ich erlebt habe, in mir.“ Zu dieser letztlich nüchternen Erkenntnis führt die Reflexion, die sie den Stationen ihres zerrissenen Lebens aus dem Rückblick einer Erwachsenen mit zweifellos auch schmerzhaften Erfahrungen widmet.
„Woher kommst du nochmal“, die nervige Frage, mit der alle Aussiedler einst konfrontiert waren oder immer noch sind, ist für Elke Schütz Anlass, sich tatsächlich die Frage zu stellen, woher sie kommt und was an ihr anders ist als an den Menschen, mit denen sie nach der Ausreise vermeintlich als „Deutsche unter Deutschen“ zusammenlebt. Da ist einerseits die unbeschwerte Kindheit in einer funktionierenden Dorfgemeinschaft, „die von ihren Ritualen sicher durch das Jahr getragen wurde, vorhersehbar, tröstend, Zugehörigkeit fördernd.“ Aber schon als Kind erkennt sie, dass die Gemeinschaft auch soziale Kontrolle bedeutet, konformes Verhalten, das keine Abweichung duldet. Eltern und die Institutionen wie Schule und Kirche prägen und überwachen den kindlichen Verhaltenskodex. Gleichzeitig erlebt sie Geborgenheit und Zuwendung in der Großfamilie, wird geprägt vom bäuerlichen, selbstbestimmten Alltag, wo das Essen unmittelbar aus Hof und Garten kommt. Diese private Selbstbestimmung schirmt auch in hohem Maße die reellen Repressionen des sozialistischen Alltags ab, die von der Heranwachsenden nur am Rande wahrgenommen werden. Doch sie schimmern immer wieder durch und schließlich kommt die Revolution der Familie sehr nahe. Wie so viele, entscheidet sie sich zur längst geplanten Auswanderung.
Die bisherige Heimat wird symbolhaft in Holzkisten verpackt oder verscherbelt. Für das Haus in Traunau erhält die Familie gerade so viel Geld, dass sie sich eine schicke Lampe kaufen kann, die später in ihrem Heim in Bremen hängen wird. „Da hängt unser Haus“, werden sie ironisch sagen. Aber es braucht Zeit, bis ein so flotter Spruch über die Lippen der Traumatisierten gehen kann. Bis die tiefen Wunden vernarbt sind, die eine solche Umsiedlung, ein Umkrempeln des Lebens, bei jedem auf seine Weise hinterlässt. Und bis das, was man verloren hat, weniger schwer wiegt, als das, was man gewonnen hat.
Die Vierzehnjährige erfährt Ablehnung und Fremdheit in der Schule. Ihre Fähigkeiten, etwa beim Schreiben eines Aufsatzes, werden in Zweifel gezogen. Zähigkeit und Resilienz sind gefragt auf dem Weg zur Selbstbestimmung – das kostet auch den Bruch mit dem Vater, der sich mit seinem konservativen Weltbild im neuen Leben nicht zurechtfindet und seinen Frust auf die Tochter überträgt.
Im Rückblick zeigt sich Elke Schütz zutiefst dankbar für den „viel größeren Lebenshorizont“, den sie durch den Wechsel der Welten gewonnen hat, auch wenn sie davor gefühlt eine „Lebenskatastrophe“ erlebt hat. Den Horizont verdankt sie jedoch auch nur der Tatsache, dass sie aus diesem anderen Leben kommt, das sie nicht missen möchte: „Ohne diese Welt wäre ich nicht ich.“
Elke Schütz, die beruflich Erzieherin geworden ist, blickt psychologisch reflektiert und sachlich auf ihren Lebenslauf und auch auf die Lebensentwürfe in ihrer Umgebung. Diese können, wie sie feststellt, sehr unterschiedlich sein. Wie man als Betroffener mit diesem Erbe, mit den zwei Welten, umgeht, bleibt letztlich jedem selbst überlassen. Manche suchen die Gemeinschaft, fahren in ihre Heimatorte, spenden Geld für Kirchen und Friedhöfe und versuchen, auch ihre Kinder an der Welt der Vergangenheit teilhaben zu lassen. Andere verdrängen ihre Herkunft wie einen Makel, von dem sie nichts wissen wollen. Die meisten jedoch, stellt sie fest, bewegen sich irgendwo dazwischen. Elke Schütz plädiert dafür, die individuelle Prägung so anzunehmen, wie sie ist. „Ich bin nicht deutsch, nicht rumänisch und nicht beides. Ich bin ich und versuche das zu leben, wonach mein Innerstes sich sehnt.“ Regelmäßig sehnt sich ihr Innerstes danach, den Heimatort aufzusuchen, oder auch in andere Regionen Rumäniens zu reisen. So bewältigt sie immer wieder den Spagat zwischen den zwei Welten, die nun mal in ihr angelegt sind.
„Es ist gut so, wie es ist“, endet das einprägsame Essay von Elke Schütz. Eine aufbauende und erkenntnisreiche Lektüre für alle, die die Erfahrung der Migration, des Wechsels der Lebenswelten, auf die eine oder andere Weise erlebt haben. Und letztlich eine Bestätigung, dass es so ist, wie es ist, denn die Uhren können nicht zurückgedreht werden und die Geschichte der Banater Schwaben wird eher früher als später ihr Ende finden. Was noch eine Weile nachwirkt, ist die Prägung durch die Welt der Kindheit, der Jugend, der Gemeinschaft.
Elke Schütz fügt ihrem Essay als Epilog ein Gespräch mit ihrer einzigen noch lebenden Großmutter hinzu. Sie hat es aufgezeichnet, um die Oma über ihre Jugend zu befragen, und sie erfährt so einiges – über die arrangierte Heirat, die nicht zustandegekommen ist, die nicht akzeptierte Ehe mit einem Rumänen, die Zweitfamilie des Vaters, der nach dem Krieg in Deutschland geblieben war. Geschichten, wie es sie außerhalb der „heilen Welt“ des Banater Dorflebens überall gab und gibt. Jeder trägt seine eigene in sich und erst aus allen Teilchen entsteht das bunte Puzzle der Banater Wirklichkeiten. Es ist gut so, wie es ist.
Elke Schütz: Heimat in Holzkisten. Meine Kindheit in Rumänien. Berlin (biografie Verlag ruthdamwerth) 2023. ISBN 978-3-937772-43-1, 13,90 €.