zur Druckansicht

DACIA und die Industrialisierung Rumäniens

Die vorliegende DACIA-Geschichte beschreibt die 70jährigen Autoteile- und Autoproduktion (von den 1950er Jahren bis heute) in Rumänien für das Inland und den Export. Es gab auch die Fremdmarken Pobeda (Taxen), Moskwitsch, Volga, später Trabant und Skoda auf den Straßen. Von ungefähr 50.000 Fahrzeugen waren Mitte der 1960er Jahre nur die Hälfte zugelassene PKW. Die ersten Dacia 1100 blieben in guter Erinnerung. Weniger gut (zumindest rein subjektiv) blieb der Dacia 1300 im Gedächtnis, in dem man im Kofferraum gefühlt eine mobile Werkstatt zur Pannenhilfe mitführen musste. Die Zuverlässigkeit wurde mit der Zeit verbessert, mit dem Ergebnis überlanger Lieferzeiten. Dazu passend eine Beobachtung im Sommer 2023: Ein überlanger Güterzug fuhr durch Bruck an der Leitha in Österreich Richtung Westen, zweistöckig beladen mit Autos der Marke Dacia-Duster. Das war ein sichtbarer Erfolg der 55jährigen Partnerschaft mit Renault, 80 Jahre nach der DACIA-Standortgründung Colibași, heute Mioveni.
Der Industriestandort Colibași
Die Geschichte des Standorts des Dacia-Werks in Colibași beginnt im Kriegsjahr 1943. Wegen alliierter Fliegerangriffe wurde die Flugzeugfabrik IAR (Industria Aeronautica România) von Brașov (Kronstadt) in den Eichenwald von Colibași verlegt. Mehrere Privatunternehmer begannen mit dem Neubau der Fabrik, doch der Umsturz am 23. August 1944 beendete das Projekt. Es fand kein Flugzeugbau mehr in Rumänien statt.
Nach einer wechselvollen Geschichte startete 1952 mit 37 Mitarbeitern die Autoteilefertigung der „Uzina de Piese Auto Colibași“ (UPAC – Vasile Tudose). In den Folgejahren wurde die Produktpalette massiv ausgeweitet und Prozesse auf Massenfertigung umgestellt. Innerhalb der nächsten eineinhalb Dekaden entwickelte sich das UPAC-Werk bemerkenswert bis 1965 um mehr als den Faktor 100 auf über 4000 Beschäftigte. Gleichzeitig und danach wurden Wohnungen und Schulen - allgemeinbildende, Berufs-, Meister-, Techniker- und Ingenieur-Schulen mit Ganztags- oder Abendunterricht - und die ganze Infrastruktur einschließlich Gesundheitswesen errichtet. Ab 1996 war Colibași Teil von Mioveni mit mehreren eingemeindeten Ortschaften. Für Berufspendler aus Piteşti, Stefănești und anderen umliegenden Ortschaften gab es Busverbindungen.
DACIA-Produktion
Die Staatsführung wollte durch die Kombination von den Ressourcen und Fähigkeiten des Landes die Straßenmobilität fördern. Der Weg zum Autobau führte weg von der Eigenentwicklung über den schnelleren Weg der Lizenzfertigung des Renault 12 als DACIA 1300. Zur Überbrückung startete der Renault 8 als Lizenzbau unter dem Namen DACIA 1100.
Um den massiven Aufwand, mit dem die Automobilproduktion Rumäniens realisiert wurde, zu verstehen, erscheint es geboten, die politische Entwicklung der Partei- und Staatsführung jener Zeit mit zu betrachten. Nicolae Ceaușescu folgte 1965 als Generalsekretär der Partei dem an Lungenkrebs verstorbenen Gheorghe Gheorghiu-Dej, der aus Galați stammte. Dessen opportunistisches Mega-Projekt war das Stahlwalzwerk Sidex (Combinatul Siderurgic Galați), das allerdings erst 1966 von Ceaușescu eingeweiht wurde.
Wie sich später herausstellte, war der ehrgeizige Ceaușescu weder der Kandidat des Verstorbenen Gheorghiu-Dej noch der der Parteiführung. Doch er setzte sich in einem Blitzkonflikt durch und wurde Parteichef, 1967 Staatsratspräsident und 1974 Staatspräsident, zuständig für Partei, Regierung und Landesverwaltung. Jetzt galt es, der Parteiführung und dem ganzen politischen System, um als legitim zu gelten, segensreiche Wirkungen seines Regierungshandelns zur Wohlstandsmehrung der Regierten zu demonstrieren. Ceaușescu war 17 Jahre jünger als Gheorghiu-Dej und hatte eine Art Heimvorteil. Sein Geburtsort Scornicești liegt nur 70 km von Colibași-Mioveni entfernt. Zusätzlich herrschte eine Aufbruchstimmung, denn die in den 1950er Jahren begonnene Industrialisierung wirkte sich positiv aus. Neue Strukturen wurden errichtet, um der Gesellschaft kollektiven Halt zu bieten. Mit bemerkenswertem Tempo wurden Auto-Fabrik und DACIA–Produktion realisiert.
Ereignisse im Zeitablauf
Im Mai 1966 entschied Ceaușescu den Beginn des Autobaus. Bereits im September wurde Colibași Standort der Autofabrik. Im Juni 1967 wurde bei einem Staatsbesuch in Colibași der Neubau einer Fabrik nordwestlich der UPAC (Uzina de Piese Auto Colibași) beschlossen. Es entstand eine Zentralhalle mit 100.000 Quadratmetern, einem Heizkraftwerk, Lager, Testgelände und Anschlüssen an Straßen- und Eisenbahnnetze für 2400 Arbeiter. Am 20. August 1968 fährt Ceaușescu den ersten DACIA 1100 als Geschenk vom Band. Ein Jahr später, im August 1969, folgt der erste DACIA 1300. Beide Typen, DACIA 1100 und 1300, sind viertürig mit 4-Zylinder-Benzin-Viertakt-Vergaser-Motoren, der 1100er mit Heckmotor und –antrieb, der 1300er mit Frontmotor und -antrieb.
Im Juni 1969 werden die beiden Fabriken in Colibași zur UAPC (Uzina de Autoturisme Piteşti) vereint. Im Dezember 1971 läuft der DACIA 1100 S Nr. 50.000 vom Band. 1980 beendet Rumänien die Zusammenarbeit mit Renault und produziert weitere Varianten des DACIA 1300 mit 20.000 Mitarbeitern. 1989 läuft der Dacia mit der Nummer 2.000.000 vom Band.
Nach der Wende übernimmt im Juli 1999 Renault Group 51 % des DACIA-Aktienkapitals für 50 Mio. US Dollar und integriert den DACIA-Standort in den Produktionsverbund. 2010 läuft die Nr. 1.000.000 DACIA Logan (Preis: 5000 Euro) vom Band. Im April 2022 läuft die Nr. 10.000.000 von Dacia Duster vom Band. Die Produktion hat eine Kapazität 350.000 Stück/Jahr mit 14.000 Mitarbeitern. Seit 2010 gab es (alphabetisch geordnet) folgende DACIA-Typen: Dokker, Duster, Jogger, Logan, Lodgy Stepway, Sandero, Sandera Stepway, Spring und SuperNOVA .
Aufstieg, Höhepunkt, Erschöpfung und Umsturz
1. Leitgedanke: Sein Ziel hätte dieser Artikel erreicht, wenn die Leser sich ein Bild von der dynamischen Entwicklung der rumänischen Automarke DACIA in den vergangenen 80 Jahren (1943 bis 2023) machen konnten. Weil aber die Leser gewiss Rumänien von dessen Inneren begreifen, erscheint es geboten, die oben erwähnte Aufbruchstimmung, durch Kredite des IMF und der Weltbank in 1971 gefördert, an konkreten Beispielen der Industrialisierung Rumäniens in den Blick zu nehmen.
Nach Verstaatlichung von Grundbesitz und Industrie im Jahr 1948 begann der Aufbau einer gigantischen Schwerindustrie nach Sowjetmodell und die Arbeitslosigkeiten sank drastisch. Im Jahr 1958 zog die Rote Armee ab und die Wirtschaft verlegte sich auf Lizenzproduktionen. Eine Lizenzproduktion von Renault war der DACIA 1100, auf den waren sogar rumänische Ingenieure stolz. Ähnlich war es am Eisernen Tor, dem damals weltweit größten Flusskraftwerk mit Bauzeit von 1964 bis 1972. Die sechs Wasserturbinen der rumänischen Seite wurden in Rumänien nach Sowjetlizenz hergestellt, dagegen waren die sechs Turbinen auf der Seite Jugoslawiens Komplettlieferungen aus der UdSSR. Stolz und in guter Stimmung waren die Rumänen auch beim Besuch von Nikita Chruschtschow im Werk Electroputere Craiova im Jahr 1964. Im Werk wurde dem Sowjetchef eine moderne in Sulzer-Lizenz (Schweiz) gebaute Lokomotive gezeigt. Die Überraschung war groß, denn Chruschtschow, in der Jugend ausgebildeter Maschinenschlosser, weigerte sich, in das Fahrerhaus zu steigen. Ein ihm übergebenes Lokomotivmodell als Gastgeschenk, im Minimaßstab hergestellt von Fachwerkern der Fabrik, kommentierte der hohe Besucher mit abwertenden peinlichen Bemerkungen. Die politische Botschaft war klar: Das stolze Rumänien emanzipierte sich von den Sowjets.
Die schnelle Industrialisierung Rumäniens führte über Lizenznahmen hinaus zu gemeinsamen Gesellschaften. Mit zwei Dekreten im Jahr 1972 regelte der Staatsrat Gründung, Organisation und Funktion gemeinsamer Gesellschaften rumänischen Rechts mit Beteiligungen ausländischer Firmen bis zu 49 %. Bei der Unterzeichnung des Vertrags der ersten rumänisch-deutschen Gesellschaft in Deutschland war Ceaușescu anwesend. Diese enge Verzahnung einer Zusammenarbeit mit Kapitalbeteiligung übertraf die einer reinen Lizenzfertigung.
Wirtschaft und Gesellschaft in Rumänien
2. Leitgedanke: Die Darstellung des Aufschwungs am Beispiel DACIA und anderen Industrieprojekten bliebe unvollständig, ohne auf die darauf folgende Stagnation, die „Revolution“ und die schmerzhafte Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft einzugehen. Zurück zu DACIA: Deren Fahrer durften innerhalb der Grenzen das Land erkunden, nicht darüber hinaus. Bald wurden Sprit mengenmäßig und das Fahren zeitlich begrenzt. Im Sommer 1982 erkannte Ceaușescu, dass Kredite die Souveränität einschränkten, und entschied die vorfällige Rückzahlung aller Kredite aus dem Ausland (die letzte Rate erfolgte im März 1989). Daraufhin folgte eine sich stetig steigernde schwere Versorgungskrise mit nachlassender Arbeitsmotivation und getrübter Lebensfreude bei der Bevölkerung. Ohne Kämpfe gaben die Kommunisten in anderen Ländern Schlag auf Schlag ihre Macht ab. In Rumänien kulminierte der Machtkampf verschiedener gesellschaftlicher Gruppen erst 1989 in der sogennanten „Revolution“, der ein Umsturz mit Blutvergießen folgte. Hier ist auch deutlich geworden, dass „der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt“, wie ein deutscher Philosoph vor 25 Jahren feststellte.
Abbau der Industrie und Reindustrialisierung
Nach 30 Jahren intensiver Industrialisierung folgten 15 Jahre rücksichtsloser Deindustrialisierung. Abertausende Bauten, Anlagen, Material, Maschinen und Infrastruktur wurden mutwillig zerstört und Metall als Schrott verkauft. Betonskelette ehemaliger Fabriken blieben auf Ruinengrundstücken, ähnlich Industriefriedhöfen, stehen. Die Folge waren Heere verzweifelter Arbeitsloser und Elend.
Parallel und in der Folge der Zerstörung der vorhandenen Industrie wurde Rumänien durch ausländische Investoren reindustrialisiert. Wegen der gut ausgebildeten Arbeitskräfte verlagerten Westfirmen ihre Zulieferindustrien ins Land. Entgegen dem Versprechen der Politik wurden riesige Agrarflächen an ausländische Investoren verkauft. Das formell nicht EU-reife Land wurde 2007 EU-Mitglied. Die Defizite der Zeit davor wurden nie aufgearbeitet. Gleichzeitig „reparierten“ geburtenschwache West-EU-Länder ihre Demographieprobleme durch Immigration. Rumänien verlor fünf Millionen seiner Bevölkerung, die als Arbeitskräfte ins westliche Ausland gingen. Tausende Kinder blieben allein bei Verwandten zurück. Heute arbeiten ins Land geholte Tamilen aus Sri Lanka als Gastarbeiter, um die durch EU-Gelder geförderte Modernisierung der Infrastruktur zu realisieren. Dem Land fehlen eigene qualifizierte Arbeitskräfte. Es ist demnach auch zu befürchten, dass DACIA zukünftig mit weniger Mitarbeitern auskommen muss.
Anmerkung des Autors
3. Leitgedanke: Hier liegt eine reine Beschreibung der Fakten vor, keine detaillierte Diagnose der (überwundenen) Staatskrise mit Überlegungen, welche andere Politik unter Umständen zu besseren Ergebnissen geführt hätte.
Nach 1989 orientierte sich Rumänien nach Westen und gab sich 1991 eine an Frankreich orientierte neue Verfassung, die Demokratie als Staatsform festschrieb. Fünf Parteien sind zur Zeit im Parlament vertreten, die durch Zellteilung und Zusammenschlüsse einer Politelite eine für das Land unbefriedigende Politik machen, gekennzeichnet durch Kurzsichtigkeit, Verschwendung, Schuldenwachstum und Unzufriedenheit der Bevölkerung.
  

Erich Leitner studierte Ingenieurwissenschaft und Betriebswirtschaftslehre in Berlin. Während der sozialistischen Industrialisierung im Banater Bergland arbeitete er in der Leitung eines rumänisch-deutschen Gemeinschaftsunternehmens der Antriebstechnik.