Die Schriftstellerin Iris Wolff wurde 1977 in Hermannstadt in Siebenbürgen geboren. Sie behandelt in ihren Büchern häufig die Erfahrungen von Ausgesiedelten und Entwurzelten. Für ihre Romane, zuletzt „Die Unschärfe der Welt“ (2020), wurde sie mit namhaften Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Neuerscheinung „Lichtungen“, deren Schauplätze auch wieder in Rumänien liegen, steht auf den Bestsellerlisten. Katharina Kilzer sprach mit der Autorin über ihren neuen Roman.
Dein neuer Roman „Lichtungen“ führt uns Leser wieder einmal in die Landschaft Deiner Kindheit und in die Regionen unserer Herkunft oder der unserer Eltern in Rumänien. Grenzen spielen darin auch eine wichtige Rolle. Landes-, Sprach- oder Kulturgrenzen? Welche dieser Grenzen sind für dich die entscheidendsten für unser Dasein?
Der Roman fächert die Lebensgeschichte des Protagonisten Lev anhand von neun Kapiteln auf, und zwar rückwärts: Von dem Erzählanlass in der Gegenwart bis zu einer der frühesten Kindheitserinnerungen Mitte der Sechziger Jahre im Norden Rumäniens. Lev wächst während des Kommunismus auf, erlebt als Jugendlicher die Revolution und die Öffnung der Grenzen, und als Erwachsener die Abwanderung großer Teile der Bevölkerung. Die Landesgrenzen und auch die Grenzen zwischen den verschiedenen Nationalitäten haben sein Leben bestimmt. Nach und nach merkt er, dass die engsten Grenzen jene sind, die er sich selbst auferlegt; am schwersten ist es, sich von den Traumata der eigenen Vergangenheit zu befreien.
Ins Banat gelangt man wieder ausführlich ab S. 217 bei dem Kurbesuch in Buziaș. Hast Du vielleicht selbst einmal jemand zur Kur nach Buziaș begleitet und wie ordne ich den Vorspann zu diesem Kapitel „Zwei“ dazu? (Zitat Leopold Zunz Bibel)
In jedem meiner Romane gibt es Erinnerungs-Einsprengsel, also Erlebtes, Beobachtetes oder auch Geschichten, Lebenserinnerungen anderer Menschen (die im Dank genannt werden). Die Schwester meiner Großmutter mütterlicherseits war auf Kur in Buziaș und wir besuchten sie – das Bild, wie wir im Kurpark Eichhörnchen füttern, hat sich mir eingebrannt und war der Auslöser für das Kapitel. Es sind diese lebendigen Bilder, die mir den Weg in eine Szene ermöglichen; und was das Zitat anbelangt: Am Tisch des Speisesaals werden nationale Besitzansprüche verhandelt. Levs Großvater ahnt den Verlust, die schiere Unausweichlichkeit der Auswanderung und zitiert in diesem Kapitel jene Bibelstelle aus dem Propheten Daniel.
Die Frage der Zugehörigkeit, die wir Banater (und vielleicht auch Siebenbürger) uns oft stellen, steht immer wieder zur Diskussion. Ist es wirklich eine eigene „Entscheidung“ (S. 233), wie Großvater Ferry im Buch meint, oder eine politische Zuteilung?
Gerade aus dieser Spannung heraus leben und handeln die Figuren. Politische Zuteilung und eigenes Identitätsgefühl standen sich vor allem im letzten Jahrhundert gegenüber. Nationalität und Staatsangehörigkeit waren zwei verschiedene Dinge; und während erstere blieb, wechselte letztere mitunter mehrmals im Leben. Die Frage nach Zugehörigkeit stellt sich immer wieder neu, immer wieder anders. Ich bewundere Ferry um die Antwort, die er für sich gefunden hat.
Die „Lichtung“ der Waldarbeiter (S. 166) erhält im Roman immer weitere Bedeutungen, freiheitlich, sozial, emotional? Eine schöne, erweiterte Worterfindung? Wie kamst Du darauf? Oder warum ist dieser Titel so wichtig?
Die Lichtung ist durch Grenzen definiert, von Wald umgeben, sie ist ein freier, von Bäumen geborgter Ort – ein Ort auf Zeit, inmitten der Dunkelheit. Sie hat im übertragenen Sinn mit Aufbrechen zu tun, mit Losgehen, mit Finden. Die Lichtung ist für mich zu einem Bild des Erzählens und Erinnerns geworden. Während ich schreibe, lasse ich mich darauf ein, nicht zu wissen, wohin die Geschichte mich führen wird. Unsere Erinnerung wiederum ist nicht linear, kein Kontinuum, wir erinnern einzelne Erlebnisse und Erfahrungen, die uns zu denjenigen gemacht haben, die wir sind. Im siebten Kapitel reflektiert Lev: „Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.“
Ich fragte mich bei dem Namen des Hauptprotagonisten Lev, welche Zugehörigkeit Lev (Abkürzung von Leonhard) noch zugeschrieben wird. Lev ist eher eine slavische Form (etwa Lev Tolstoi) oder hebräisch? Lev ist aber der Sohn einer siebenbürgischen Mutter und eines rumänischen Vaters? Diese Abkürzung wird doch wohl eher selten in Rumänien verwendet?
Ich gehe frei mit den Namen meiner Figuren um. Ob es Sine im Halben Stein, Florentine in Die Unschärfe der Welt oder Lev & Kato in den Lichtungen ist – mir ist der symbolische Gehalt der Namen ihr Klang, ihre Musikalität wichtiger als die eindeutige ethnische Zuordnung. Lev heißt im hebräischen Herz, Kato auf indisch „Das Zeichen“. Diese Bedeutungsfelder helfen mir, den Charakter dieser Menschen zu fassen, sie vor meinem inneren Auge zu sehen. Es mag seltsam klingen, doch ich könnte ihre Namen nicht ändern, das würde bedeuten, dass ich eine andere Geschichte schreiben müsste.
Wunderbar sind Deine Einbindungen von Namen, Geschichten, Märchen, Legenden der rumänischen, ungarischen oder sonstiger Kulturgemeinschaften, die im Land lebten oder noch leben. Eine wahre Bereicherung des Textes. Recherchierst Du diese Geschichten, Ausdrücke, Sprichwörter vor dem Schreiben?
Ich glaube an den Zufall im schönsten Sinne des Wortes: Dass einem die Dinge zufallen, lenkt man die Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen. Auf einer Recherchereise durch die Maramuresch besuchten wir einen ruthenischen Gottesdienst, dann wusste ich: Auch dieser Dialekt muss ins Buch. Fund und Fortgang der Geschichte bedingen einander, etwa bei dem siebenbürgischen Märchen “Der Federkönig” – ein Junge erhält von einer Katze einen Mantel aus Federn. Dieses Märchen spiegelt die Verbundenheit zwischen Lev und jener Katze, die ihm Kato schenkt. Und so sind Ende und Anfang verbunden: Kato schenkt ihm Flügel; ohne sie hätte er nie den Mut gehabt, aufzubrechen.
Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.