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Das Leben rückwärts aufgerollt in „Lichtungen“ - Katharina Kilzer bespricht den neuen Roman von Iris Wolff

„Zugehörigkeit, sagte Ferry, ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.“ – ein Leitmotiv des Romans „Lichtungen“ von Iris Wolff, das in neun Kapiteln immer wieder  thematisiert wird. Die Geschichte der Familien von Lev und Kato, zwei Randfiguren aus einem Maramurescher Dorf an der Iza spricht von Zugehörigkeit, Abstammung, Anpassung, Zuneigung, von inneren und äußeren Grenzen, Mut und Freiheit. Die in Siebenbürgen geborene, in Semlak im Banat großgewordene und in Freiburg im Breisgau lebende Iris Wolff hat in ihrem neuen Buch, das 2024 im Klett-Cotta Verlag erschienen ist, eine neue Region für die Handlung aufgetan: die nördliche Maramuresch, das Land der Wälder und Berge, der Holzkirchen und Traditionen. Während sie in ihren bisherigen Romanen („Halber Stein“, 2012; „Leuchtende Schatten“ 2015; „So tun, als ob es regnet“, 2017; „Die Unschärfe der Welt“, 2020) hauptsächlich Siebenbürgen und das Banat durchstreifte, zieht sie nun in eine Randregion, wo einst eine deutsche Minderheit zu Hause war, die Zipser Sachsen. Aber das ist nicht der Grund für Wolffs neuen Romanstoff, vielmehr bewegt sie sich von Rumänien, dem Land ihrer Kindheit, über andere Länder hinweg durch Europa – Österreich, Frankreich, Slowenien, Italien – bis in die Schweiz, nach Zürich, wo ihr Buch einsetzt. Ihr Roman ist rückwärts erzählt, was seinen besonderen Charme ausmacht. Der Leser ist nicht neugierig auf die Fortsetzung, auf das Ende, da die Gegenwart mit dem 9. Kapitel beginnt, sondern auf die Vergangenheit. Was war davor? Jedes Kapitel wird mit einem Zitat - aus Märchen, Songtexten, Kinderreimen, einem ungarischen Sprichwort, einer Fabel,  einem Gedicht oder der Bibel - eingeführt. Dies lässt Raum für Interpretationen. Es wird die Geschichte von Lev und Kato erzählt, die in dem Dorf an der Iza in den Waldkarpaten aufwachsen. Durch einen Zufall werden sie Freunde aus Leidenschaft, die sie für immer verbindet. Als Lev als Kind ans Bett gebunden ist, ist es die Schülerin Kato, die ihm die Hausaufgaben nach Hause bringt und ihn mit den Schularbeiten unterstützt. Bei diesen Besuchen, denen Lev, der mit seinen zwei Halbbrüdern, seiner Halbschwester Bredica und der Mutter Lis zusammenlebt, anfangs skeptisch gegenübersteht, entwickelt sich eine feste Zuneigung zu dem Mädchen, das mit dem Vater, einem Imker, allein am Dorfrand lebt. Kato ist unkonventionell, klug und sehr begabt, sie malt, singt und liebt die Natur – aber vor allem ihre Unabhängigkeit. Bis eines Tages Tom aus Hamburg im Dorf auftaucht und Kato beschließt, mit ihm wegzufahren. Sie lässt alles zurück, denn die historische Wende bot endlich die Möglichkeit, die Grenzen zu überschreiten. Kato zieht mit Tom durch zahlreiche europäische Städte und landet in Zürich, wo sie als Straßenmalerin in ihrem Rover lebt.
Hier beginnt die Autorin die Geschichte der Freundschaft rückwärts aufzurollen. Kato schickt Lev immer Postkarten, bis eines Tages eine Karte mit drei Worten ankommt: Wann kommst du? Es ist, als hätte Lev auf diese Aufforderung gewartet. Er lässt seine Arbeit im Sägewerk liegen, das er zusammen mit seinem Chef Imre übernommen hatte, als dieser ihm sagt, er dachte schon, er würde ihn nie fragen, ob er weggehen kann. Lev reist nach Zürich, wo er seine Freundin trifft. Sie lebt inzwischen getrennt von Tom und verdient ihren Unterhalt mit Straßenkunst. Das Vertraute zwischen ihnen ist noch immer da. Lev ist der Sohn einer siebenbürgischen Mutter und eines rumänischen Vaters, sein Großvater war Wiener, wie er immer erzählt, und die Großmutter stammte aus Schässburg. Nach ihrem Tod zog der Großvater Ferry zurück nach Wien, da er meinte: „Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“ Liebevoll, fast schon nostalgisch erzählt Iris Wolff von der „Bunica“, der Mutter des Vaters, die auch in dem Dorf der Maramuresch lebt. Bunica hieß eigentlich Maria Aurica Costin, und war Witwe, nachdem sie Mann und Sohn verloren hatte, und doch war nichts „unvorhersehbar in ihrem Leben gewesen … Bunica sah die Spur eines Vogels in der Luft, noch bevor er dort flog.“ „Bunica war immer in Bewegung, zwischen Küche, Stall, Scheune. Sie hatte Hühner in wechselnder Zahl, ein Dutzend Schafe …und einen staubgrauen Esel, den sie măgăruş, Eselchen, nannte … Für Bunica waren die Toten nicht tot … ihr Mann, ihr Sohn, ihre Eltern, Großeltern und auch deren ganze Paraputch, alle konnten schließlich die Welten wechseln.“ Sie stellte immer ein zusätzliches Gedeck bei den Mahlzeiten auf den Tisch und war nicht nur hellseherisch, sondern auch abergläubisch.
Ins Banat gelangt man schließlich auch wieder. Nach etwa 217 Seiten im vorletzten Kapitel beschreibt die Autorin detailreich den Kuraufenthalt des Großvaters Ferry mit seinem Enkel Lev in Busiasch (Buziaş). Hier entfaltet sich fast eine „Zauberberg“-Atmosphäre der Tischgesellschaft im Kur-Speisesaal mit den anderen Gästen verschiedener Herkunft. Geschichtliches sowie literarische und zeitgenössische Probleme tauchen auf. Lenau wird zitiert, Kaiser Franz Josef, der im Kurbad Gast war, ein Kinoabend mit dem bekannten rumänischen Märchen „Tinerețe fără bătrânețe“ wird erzählt, die Bädertradition detailliert geschildert sowie Spaziergänge im Kurbad, entlang der „Kolonnade, am Kaffeehaus und der ehemaligen Kaiservilla vorbei, durch den Park mit seinen Platanen“. Aber hier geschieht ein tragischer Unfall und Lev erleidet eine Beinlähmung. Das letzte oder erste Kapitel ist dem Vater gewidmet, den Lev kaum kannte, da er früh bei einem Bergrutsch ums Leben kam. Trotzdem hat Lev später auch die Arbeit als Waldarbeiter gewählt, nachdem er die Schule nicht weiterführte, da ihm Freiheit und Unabhängigkeit wichtig waren.
Der Roman von Iris Wolff hat in wenigen Wochen Platz 2 der „Spiegel“-Bestsellerliste erreicht. Die zahlreichen Preise, die die Autorin bereits mit ihrem vorigen Buch „Die Unschärfe der Welt“ erhalten hat, das bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde, zeugen von internationaler Anerkennung über jene Grenzen hinweg, die sie in ihren Geschichten immer wieder erzählerisch aufhebt. Sie erzählt spannend in einem unaufgeregten, realistischen Stil vom Gehen und Bleiben in verschiedenen politischen Systemen, von inneren und äußeren Grenzen im Leben. Raffiniert mischt sie in die Erzählung Traditionen, Landschaftsbeschreibungen, Aberglauben, Religion und Dorfriten ein. „Lichtungen“ erhält verschiedene Bedeutungen, „der am weitesten entfernter Ort“ (166) oder in Erinnerungen, die „waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen“ (76) sowie konkret in den Waldlichtungen der Waldkarpaten. Häufig erwähnt sie auch traditionelle Speisen des Landes, wie „Zakuska“ oder „Maisbrei“. Die Begegnungen, bei denen eine an die andere rührt, sind nicht nur die mit Menschen, sondern auch jene mit den Tieren: Von dem Hund Khalil, der Katze Pax oder den Hühnern von Bunica ist die Rede. Wolff entfaltet nicht nur eine vielfältige bunte Familiengeschichte mehrerer Generationen in verschiedenen Gesellschaftssystemen und Ländern, sondern auch Szenen eines filmreifen Road-Movie (Lev radelt mit Kato durchs Iza-Tal, Kato fährt mit Tom durch europäische Städte, Kato und Lev fahren mit dem Schiff sechs Wochen lang von Paris bis Montpellier und weiter, Lev fährt mit dem Rad durch Siebenbürgen, besucht Schässburg und zahlreiche Dörfer). Die Schriftstellerin taucht auch in die Lebensgeschichte ihrer Nebenfiguren ein, sei es die des Großvaters Ferry und von Christa in Wien, von Bredica in der Maramuresch, des Waldarbeiters Imre oder Fabiu, seines Schulfreundes, die der Familie Radu in Busiasch, Lonja, jene der Krankenschwester sowie Helgas aus Siebenbürgen, beschreibt sie präzise und konkret, lässt jedoch vieles offen. Ein Rezensent (NZZ) nannte sie „die Jongleurin vibrierender Worte“. Der Leser kann seine Fantasie weiterspinnen lassen oder auf eine Fortsetzung der Geschichten dieses fesselnden Romans hoffen.

Iris Wolff: „Lichtungen“. Roman. Verlag Klett Cotta Stuttgart, 2024, 256 Seiten, 24 €, ISBN 978-3-608-98770-6