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"Temeswar Kulturhauptstadt 2023 für immer" - Erlebnisbericht zum Finale eines außergewöhnlichen Jahres

Die Kulturhauptstadt Temeswar 2023 wirkt in die Zukunft. Foto: Anita Maurer

Der Temeswarer Weihnachtsmarkt begleitet die Feierlichkeiten zum Finale der Kulturhauptstadt. Foto: Anita Maurer

Die riesige Leuchtkugel „Floating Earth” verlieh der Bega eine zauberhafte Stimmung. Foto: Anita Maurer

Im Temeswar des Jahres 2023 ist zusammengewachsen, was zusammengehört: die Kultur mit der Geschichte der Stadt, die Kunst mit der Architektur und vor allem die Menschen mit der Kulturhauptstadt. Das viel bewunderte „Klein Wien“ war europaweit und gar weltweit (auch mit einem Artikel in der „New York Times“) im Gespräch und hat, zusammen mit dem Land und der Region, vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Laut Projektzentrum und Bürgermeisteramt gab es bei den Veranstaltungen mehr als zwei Millionen Besucher – und zu dem Zeitpunkt standen noch einige an, denn das Jahr war noch nicht zu Ende. Achthunderttausend Übernachtungen wurden registriert und man muss davon ausgehen, dass es noch viel mehr gab, die nicht registriert wurden. 2000 Veranstaltungen in der Stadt lockten Besucher und Einheimische zum Dabeisein, Teilnehmen und Mitmachen. Künstler aus Temeswar, Rumänien, Europa und der ganzen Welt – insgesamt etwas mehr als 800 – gestalteten die Ereignisse, bei denen sich mehr als 350 Organisationen beteiligten. Zusätzlich fanden auch zahlreiche kleinere Ereignisse privat in Galerien und anderen Sälen statt, die nicht finanziert oder gefördert waren: Lesungen, Treffen, Ausstellungen in Schulen und Kirchen. Sie sollten nicht unerwähnt bleiben.

„Welch eine schöne Stadt“
Die Euphorie war groß, das Interesse der Menschen und die Bereitschaft zur Teilnahme noch größer. Nicht selten hörte ich beim Verweilen auf den drei Hauptplätzen der Stadt Besucher ausrufen: „Welch eine schöne Stadt“. Einmal schnappte ich bei zwei einheimischen Besuchern auf dem Domplatz den Satz auf: „Es ist, als wären wir nicht in Rumänien in dieser Stadt!“. Temeswar hatte sich herausgeputzt: Der Domplatz war abends durch tausende Lichterketten mit dem Freiheitsplatz verbunden. Ein Klavier am alten Rathaus lud zum Spielen ein (man musste sich allerdings vorher beim Bürgermeisteramt eintragen. Als der Bürgermeister Dominic Fritz am Nationalfeiertag selbst in die Tasten griff und eine meisterhafte Variation der rumänische Hymne improvisierte, meckerten einige Stimmen und sogar eine Lokalzeitung, dass er sich nicht „angemeldet“ habe!). Der Pflanzenturm am Opernplatz leuchtete auch abends in bunten Lichtern und verzeichnete bis zu seinem Abbau Anfang Dezember rege Besucherströme.

Das große Finale
Am Wochenende des 7. bis 10. Dezember fand der gelungene Kulturcoup in der lebensfrohen Stadt einen feierlichen Abschluss.
Temeswar hatte sich in winterlichem Kleid mit tausenden LED-Weihnachtslichtern geschmückt und im „Kulturpalais“, der altbekannten Oper, fand unter dem Motto „Timișoara 2023 la nesfârșit” („Temeswar 2023 für immer“) eine feierliche Abschlussveranstaltung unter der Schirmherrschaft des Bürgermeisters mit Teilnahme des Kreisrats, der Regierungsvertreter, von 25
Botschaftern und ausländischen
Delegationen sowie Sängern und Tanzgruppen statt, die live übertragen wurde.
Zahlreiche Stimmen kamen zu Wort und äußerten ihre Eindrücke von diesem reichen Kulturhauptstadtjahr: Mitarbeiter des Projektzentrums, Schriftsteller, Künstler, Organisatoren, Gäste, und unter anderen auch der Bürgermeister.
Am Donnerstagabend hatte zum Auftakt bereits die legendäre Rock-Gruppe der 1970er Jahre „Phoenix“ zusammen mit „Cargo“ im Garten des Einkaufszentrums Julius Mall ein Abschlusskonzert gespielt, in dem Mircea Baniciu und Nicu Covaci ihre Fans mit den altbekannten Phoenix-Klassikern „Lume, Lume“ oder „Andrii Popa“ zu Begeisterungsstürmen brachten. 250 Drohnen filmten die Veranstaltung, die live übertragen wurde.

Vorreiter für Freiheit und Fortschritt
Mit der Bekanntgabe, dass an dem Wochenende alle Transportmittel der Stadt gratis genutzt werden konnten, wurde die Nachhaltigkeit und Klimafreundlichkeit unterstrichen, die Temeswar im Zuge des Kulturhauptstadt-Jahres mitfördern und vorantreiben möchte, unter anderem durch den Ankauf von E-Bussen. Als Stadt der zahlreichen „Premieren“ (erste elektrische Beleuchtung, erste Bierfabrik, erste deutsche Tageszeitung u.a.) sieht sich Temeswar selbst schon immer als Vorreiter für Freiheit und Fortschritt.
Das finale Wochenende „Temeswar 2023 für immer“ war, wie schon zur Eröffnung, auf große Besuchermassen eingestellt. Auf dem Domplatz stand eine große Bühne, auf der über die ganze Zeit verschiedene Künstler auftraten: „Klangphonics“ aus Deutschland waren das erste Mal in Rumänien. Sie eröffneten am Freitag die Abschlussfeier, gefolgt von der rumänischen Sängerin Delia sowie von der aus Georgien stammenden britischen Sängerin Katie Melua. Letztere ist bekannt für ihren Song „99 Bycicles“; auf der Bühne sang sie auch zusammen mit dem Schulchor des Temeswarer Musiklyzeums „Ion Vidu”. Auch am Samstag und Sonntag begeisterten weitere international bekannte Künstler mit ihren Auftritten das trotz Kälte und Nässe auf dem Platz versammelte Publikum. Am Samstag hatten Emaa und Roisin Murphy, die vielfach ausgezeichnete britische Künstlerin, ihren Auftritt.

Eislaufbahn und Lichterglanz
Die Schlussveranstaltung integrierte auch den gigantischen Weihnachtsmarkt, „Târgul de crăciun“, der sich mit bunten Lichtinstallationen durch die Theatergasse (Alba Iulia) bis zum Freiheitsplatz hinzog und dort mit einer Eislaufbahn seinen Abschluss fand. Am Freitagabend lief im Deutschen Staatstheater das Stück von Tschechow „Der Kirschgarten“. Immer wieder beeindrucken die Schauspieler des DSTT bei ihren guten Inszenierungen.
Ein Spaziergang zum Domplatz, ließ uns das Konzert von Katie Melua und die italienische Akrobatikshow von Sonics bei 0 Grad Temperatur auf der Bühne und im Nachthimmel verfolgen. José Gonzalez, ein schwedischer Sänger und Songwriter, hat bei seinem Auftritt im Cinema Timiș, dem neuen Kulturort der Innenstadt, das Publikum mitgenommen und elektrisiert. Samstag wurde der Zugang zum Domplatz zum Teil sogar abgesperrt, da sich dort schon mehr als 20000 Menschen versammelt hatten. Die Konzerte wurden auf einer Leinwand am Opernplatz übertragen, so konnte sie trotzdem jeder mitverfolgen.
Auch der letzten Künstlerin Jessi J aus Großbritannien war es offenbar nicht zu kalt, sie sorgte mit ihrer kräftigen Stimme für beste Stimmung auf dem Platz. Trotz des Massenauflaufs verließ das Temeswarer Publikum nach der Veranstaltung sehr diszipliniert den Platz, der sofort geräumt und gesäubert hinterlassen wurde.
Zum ruhigen Abschluss fand am Sonntagabend noch ein symphonisches Konzert im Dom statt – eine Kooperation des katholischen Bistums Temeswar und der Diözese Großwardein mit dem Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Temeswar. Konsulin Regina Lochner hielt die Eröffnungsrede.
Zahlreiche Leute pilgerten über den leeren Domplatz zur Domkirche. Wir stellten 10 Minuten vor Beginn fest, dass wir definitiv früher hätten kommen müssen, da alle Plätze und Gänge belegt waren. Doch ein Gesamtüberblick konnte man auch aus dem hinteren Gang haben und da die Akustik im Dom sehr gut ist, konnte man die Musikstücke trotzdem genießen.

„Floating Earth“ auf der Bega
Auf dem Heimweg lud der immer noch hell beleuchtete Weihnachtsmarkt zum Schlendern ein. Stände mit Handwerklichem sowie Banater und andere Leckereien gab es zu entdecken. Für Weihnachtsstimmung sorgten der riesige Tannenbaum auf dem Opernplatz und die zahlreichen Lichtinstallationen am Fischbrunnen, auf dem Korso, durch die Theatergasse bis zum Freiheitsplatz. Vom Begaufer sah man an  diesem Wochenende ein weiteres Highlight: Eine leuchtende Weltkugel mit 10 Metern Durchmesser, „Floating Earth“, schwamm auf dem Fluss. Die Kreation des Briten Luke Jerram war von der Vereinigung Daisler nach Temeswar gebracht worden, die das Festival „Lights on“ organisiert hat.
Das Fazit: Temeswar strahlt, lebt und bildet. Mehr als 115000 Teilnehmer wurden laut Presseangaben allein am Final-Wochenende gezählt.

Rückblick auf viele Höhepunkte
In guter Erinnerung sind die besucherreichen Ausstellungen von Victor Brauner, Constantin Brancusi, Stefan Jäger im Kunstmuseum, Ingo Glass in der Kaserne, Skulpturen und Biennale-Künstlern in der Bega-Kunsthalle, oder Andrei Ghenie im ISHO-Center geblieben. Doch auch die Tanz- und Kulturveranstaltungen der Banater im Juni, das Minderheitenfestival im Rosenpark im August, die Temeswar-Tage im Sommer, die Auftritte der Riesenpuppen aus Veszprem, das baskische Puppentheater, das Eurothalia-Theater, die Musikauftritte in der Neuen Millenium-Kirche, die Kunst im Stefania-Palast der Fabrikstadt, die beiden neueröffneten Kinos Victoria und Timiș und vor allem der „Pflanzenturm“ mit seinen mehr als 300000 Besuchern begeisterten allseits. Benjamin Neurohr und Astrid Ziegler, die zahlreiche deutsche und andere Gäste bei Stadtführungen mit Freude und unermesslichem Wissen begleiteten, meinten, Temeswar sei gewachsen in diesem Kulturhauptstadt-Jahr, es habe sich selbst erhöht und vor allem auch geschichtlich bemerkbar gemacht. Und: Die Geschichte geht weiter, wie ein Slogan überall in der Stadt verkündete: „Istoria continuă“. Bilder der Geschichte verbinden sich mit zeitgenössischer Kunst, mit Musik, Tanz, Kultur, Sport und auch der Pflanzenkultur. Sie alle sind erfolgreich zusammengewachsen.
Im Frühjahr, im Sommer und auch im Herbst waren die Straßen der Stadt stets gefüllt mit Besuchern. Außenveranstaltungen, Märkte und Künstlerauftritte auf den Plätzen und Gärten der Stadt waren stets gut organisiert und sehr gut besucht – und sie ernteten Applaus. Um nur die Beteiligung der von Deutschland mitorganisierten Veranstaltungen herauszugreifen: Die Konzert- und Theaterdarbietungen der Partnerstadt Gera gehörten ebenso zu den Höhepunkten wie die Beteiligung der ehemals westdeutschen Partnerstadt Karlsruhe. Zu erwähnen wäre auch die Kunstausstellung von Katharina Sigrid Eismann im Stefania-Palast mit begleitenden Lesungen der Stafette-Literaturgruppe, die Lesungen im Adam-Müller-Gutenbrunn-Haus während der Banater Kulturtage, die Lesungen in der Lenauschule bei der 150-jährigen Jubiläumsfeier. Der Trachtenzug der Banater Schwaben durch die Innenstadt, die von Freddy Kafka organisierten Konzerte beim Bega-Brass-Festival, die Kunstausstellungen zu Stefan Jäger und Franz Ferch im Kunstmuseum, die Ulmer Schachtel und die Banater Geschichtstafeln vor dem Barockpalast während des Sommers, die Banater Künstler Walter Andreas Kirchner, Magdalena Binder, Alfred Zawadzki, Ottilie Scherer, Corinna Ebbinger im Projektzentrum – die Liste zeigt, wie groß die Anteilnahme und Beteiligung auch der „ehemaligen“ Temswarer an der Kulturhauptstadt war. Viele andere kleinere Kulturveranstaltungen, die keine Finanzierung - weder vom Projektzentrum noch von anderen Organisationen erhalten hatten, zeugen von unglaublichem Engagement. Ehrenamtlich waren auch Hunderte von Helfern tätig, die alle Kulturveranstaltungen begleiteten und mit ihren gelben Aufdrucken auf Hemd und Jacke („Our work is priceless“) informierten und jeden bei Bedarf freundlich berieten.

Der Stadtschreiber und Sidy Thal
Einer der Höhepunkte des Herbstes war die Theateraufführung „Sidy Thal“ des Deutschen Staatstheaters Temeswar, in der Inszenierung des Gastregisseurs Clemens Bechtel aus Deutschland, in Koproduktion mit dem Bukarester Jüdischen Theater, geleitet von Maia Morgenstern. Der aus Oberwischau stammende Thomas Perle, der vom Deutschen Kulturforum östliches Europa für das Jahr der Kulturhauptstadt zum ersten Stadtschreiber Temeswars ernannt worden war, hatte mit Unterstützung und Dokumentation von Maria Mădălina Irimia vom Wilhelm-Filderman-Zentrum für das Studium der Geschichte der rumänischen Juden sowie mit Unterstützung der Moses-Mendelsohn-Stiftung das Theaterstück über den Granatanschlag in der Temeswarer Oper am 26. November 1938 verfasst, bei dem vier Menschen starben und zahlreiche andere verletzt wurden. Das Dokumentarstück wurde mit dem Ensemble von „Motl der Kantorssohn“ von Scholem Alejchem sowie Stimmen in einem Audiowalk (durch die Innenstadt in Temeswar) mit Maia Morgenstern auf die Bühne gebracht. Sie spielte die Doppelrolle von Sidy Thal, der bukowinischen Sängerin, sowie auch die des faschistischen Legionärs Codreanu, der diesen Anschlag mitzuverantworten hatte. Großartig auch alle weiteren Schauspieler, wie Olga Török als Zelma, Oana Vidoni als Elisabeth oder Katia Pascariu als Bombenleger Ghedeon. Die Uraufführung in der Synagoge mit musikalischer Begleitung und dem anschließenden Audiowalk durch die Straßen zum Festsaal des Theaters war sehr innovativ und voller Überraschungen. Das Publikum war, trotz des tristen Themas, feierlich gestimmt und zeigte Empathie. Der Autor Thomas Perle verfolgte die gelungene Aufführung seines Werks mit Spannung, mit dem Auftragsstück „Sidy Thal“ sah er seine Mission als Stadtschreiber zum Endpunkt hin erfüllt. Im Interview betonte er, dass er vor allem darin den Kern seiner Aufgabe als Schreiber für die Kulturhauptstadt gesehen hatte.
Zwischendurch hatte es  genau zu dieser Frage Turbulenzen gegeben, denn mit einigen seiner Blogeintragungen zum Thema Trachten und Traditionen der Banater Schwaben hatte er viele der Banater Literaturfreunde enttäuscht. Zwar zeigen sich nun viele versöhnt, aber bei etlichen Temeswarern, Besuchern und Banatern bleibt eine gewissen Unzufriedenheit angesichts der recht kargen Eintragungen im Stadtblog und dem mangelnden Interesse an den Kulturereignissen der Stadt. Immerhin wurde ihm während des Kulturhauptstadt-Jahres der renommierte „Nestroy“-Theaterpreis für sein Stück „karpatenflecken“, verliehen, was seine fachliche Qualifikation jedenfalls auszeichnet.

Temeswar 2023 lebt weiter
Wir, die Autorinnen dieses Erlebnisberichts, haben in diesem Jahr viel Zeit in der Kulturhauptstadt verbracht. Wir haben beide – nicht erst jetzt – das Banat als Heimat wiederentdeckt und als bevorzugtes Besuchsziel gewählt.
 Bei den Veranstaltungen der Stadt waren wir immer wieder eifrig dabei und konnten einige Eindrücke gewinnen. Das Bild der „blühenden Kulturhauptstadt“ birgt zwar immer noch einige Paradoxien, aber das zu Ende gehende Jahr hat bewiesen, dass Temeswar, die multiethnische Stadt der Gegensätze und Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen, Religionen und Ethnien, seine Aufgabe als Kulturhauptstadt, mit dem deutschen Bürgermeister Dominic Fritz an der Spitze, sehr gut gemeistert hat. Zwar gab es auch zahlreiche Kritiker, auch solche, die ein Versagen der Mission herbeiwünschen wollten. Aber wer dabei war, wer, wie wir, die Stadt seit der Eröffnung des Festjahres am 17. Februar, dauernd und immer wieder besucht hat, kann diese Kritik nicht nachvollziehen. Viele Besucher waren begeistert. Bürgermeister Fritz, der seine Abschlussrede zwar nicht dreisprachig hielt wie bei der Eröffnung, hatte während der Feierlichkeiten stets betont, dass die Kulturhauptstadt keine abgeschlossene Sache sei.

Der Impuls der Kultur bescherte den Temeswarern den Mut und die Kraft, Temeswar 2023 „unendlich” weiterzuführen. Wir werden jedenfalls auch weiter vor Ort sein, die Entwicklung aufmerksam beobachten und gerne auch mitmachen. Änderungen wird es geben und auch die Kritiker stehen schon in den Startlöchern, denn schließlich sind im nächsten Jahr Regionalwahlen.