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Interview mit Erika Kassnel-Henneberg: „Identität entsteht durch Erinnerung“

Die Künstlerin Erika Kassnel-Henneberg, im Hintergrund das Video: „Garten Eden” mit Filmpassagen aus dem Banat. Foto: Kassnel-Henneberg

Erika Kassnel-Henneberg ist freischaffende Künstlerin und Lehrbeauftragte an der Fakultät für Gestaltung der Technischen Hochschule Augsburg. Sie wurde 1973 in Temeswar geboren, ihre Eltern kommen aus Jahrmarkt. In ihren Werken verbindet sie Handwerkliches mit Multimedia und künstlerischer Intelligenz. Auch ihre Biografie fließt immer wieder in die Arbeiten ein, die im Raum Augsburg in Einzel- oder Gruppenausstellungen zu sehen sind. So hinterlegte sie ein Zeitzeugeninterview mit ihrem Vater mit durchaus kontrastierenden Bildern aus dem Banat. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis des Landkreises Augsburg im Jahr 2022. Halrun Reinholz sprach mit ihr über ihr Kunstverständnis und ihre Auseinandersetzung mit der Banater Herkunft.

Du bist in Temeswar geboren und hast deine ersten Lebensjahre im Banat verbracht. Welche Erinnerungen sind dir an diese Zeit geblieben?
Ich habe sehr viele Erinnerungen an diese Zeit – ich war 5, fast 6 Jahre alt, als wir nach Deutschland ausgewandert sind. Zum Beispiel erinnere ich mich an unser Haus in der Fabrikstadt und den Garten, der mir so groß vorkam, aber in Wahrheit gar nicht so groß war. An unsere ungarischen Nachbarn, die ich sehr gern hatte. Ich erinnere mich auch an rumänische Nachbarskinder, mit denen ich manchmal gespielt habe.

Hast du auch Erinnerungen an Jahrmarkt?
An die Besuche bei meiner Oma in Jahrmarkt erinnere ich mich sehr gut, wo es immer gutes Essen gab und alle „schwowisch“ gesprochen haben. Ich selbst habe ja nie Dialekt gesprochen, nur „herrisch“. Ich erinnere mich an die Zeit, wo geschlachtet wurde und es Bratwurst und Leberwurst in Hülle und Fülle gab. Ich erinnere mich aber auch an die Schreie der Schweine kurz bevor sie geschlachtet wurden. Auch die endlosen Gottesdienste am Sonntag, der lange Heimweg und das reichliche Sonntagsessen sind mir noch gut im Gedächtnis geblieben.
Bestimmt sind manche Erinnerungen sehr idealisiert, aber ich weiß auch, dass manches nicht so schön war. Der rumänische Kindergarten zum Beispiel – hier sind mir nur negative Erinnerungen geblieben: manche Kinder wurden zwangsweise gefüttert, manche mussten in der Ecke stehen.

Wie ist der Wunsch entstanden, Künstlerin zu werden? Wolltest du das immer schon?
Als Kind habe ich immer gerne gebastelt, gemalt und Dinge „erforscht“, z.B. Kassetten aufgeschraubt um zu sehen, wie das geht mit den Tonbandrollen. Erst als Jugendliche habe ich die „klassische“ Kunst für mich entdeckt als wir mit der Schulklasse in der Neuen Pinakothek in München waren. Das war schon sehr beeindruckend! In unserer Familie wurde mehr das handwerkliche Geschick als „Kunst“ aufgefasst, also einen schönen Stuhl zu schreinern oder einen schönen Pulli zu stricken. Einfach „nur“ Bilder malen, das war eher etwas für Träumer.

Und trotzdem hast du Kunst zu deinem Beruf gemacht?
Beruflich bin ich zunächst beim Handwerk geblieben und habe eine Lehre als Vergolderin und Fassmalerin bei einem Kirchenmaler absolviert. Ich wurde sogar Bundessiegerin im Vergolderhandwerk. Danach  habe ich mich der Kunst als Restauratorin angenähert. Auf diese Weise kam ich nach Schweden und später zum Studieren in die Schweiz. Als sich Nachwuchs ankündigte, musste ich eine restauratorische Zwangspause einlegen wegen der giftigen Lösemittel. In dieser Zeit fing ich an zu fotografieren und erste Kollagen anzufertigen. Später habe ich mich zunehmend für das Bewegtbild und digitale Kreativwerkzeuge interessiert, sodass ich mit Mitte 40 beschloss „Interaktive Medien“ zu studieren – das ist eine Kombination aus Design und Informatik. Ich persönlich finde es wichtig, mich weiter zu entwickeln und Neues zu lernen. Das fällt mir leicht und bringt mir Anerkennung, das motiviert mich. Und als Frau habe ich in der Kunst einen wunderbaren Weg gefunden Beruf und Familie zu vereinen.

Du hast einen Film gemacht, wo dein Vater seine Lebensgeschichte erzählt. Seine Worte werden filmisch „untermalt“, wobei ein Kontrast zwischen dem Gestern und Heute entsteht. Ist das eine Suche nach den Wurzeln oder wie kamst du darauf?
In dem Werk „Garten Eden“ erzählt mein Vater (geb. 1932) von seiner Kindheit in Jahrmarkt. Seine Erzählung ist mit Fotos und Videos aus dem heutigen Rumänien unterlegt. Auf diese Weise sollen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fiktion miteinander verschmelzen. Eigentlich geht es hier nicht um mich oder um meinen Vater, sondern eher um eine allgemeine Beobachtung: Da erzählt ein Vater seiner Tochter eine Geschichte. Diese handelt von einer Kindheit während des Krieges, von Entbehrungen und Ängsten, aber auch von schönen Momenten, und von Orten und Menschen, die es nicht mehr gibt. In gewisser Weise ist dies also ein Zeitdokument und die Geschichte einer Generation, die Zeuge eines schlimmen Krieges ist und dessen Auswirkungen am eigenen Leib gespürt hat. Das wollte ich anhand eines Beispiels festhalten, auch deshalb, weil diese Generation allmählich verschwindet.

Spielt deine Biografie also eine wichtige Rolle in deiner Kunst?
Meine Biografie ist oft der Ausgangspunkt einer Arbeit, dennoch versuche ich als Künstlerin eine allgemeine oder universelle Aussage darin zu formulieren, in der sich jeder wiederfinden kann: Wir sind, woran wir selbst und andere sich über uns erinnern. Wer seine Erinnerung verliert, erfährt eine Identitätskrise. Die Wissenschaft hat uns aber auch gelehrt, dass Erinnerung subjektiv, unvollständig und manchmal schlicht und ergreifend falsch ist. Wenn aber Identität durch Erinnerung entsteht, diese aber wiederum fehlerhaft ist – wer sind wir dann?
Dieser Gedanke lässt sich ausweiten: heute gibt es ein Universalgedächtnis: das Internet. Algorithmen sammeln Daten von uns, und künstliche Intelligenzen setzen sie zu einem Persönlichkeitsprofil zusammen, um uns „personalisierte Inhalte“ zu liefern. Sie kennen uns bald besser als wir uns selbst. Können sie uns sagen wer wir sind?

Deine Arbeiten greifen oft auf technische Hilfsmittel zu, bis hin zu künstlicher Intelligenz. Inwieweit findest du Technik hilfreich für den künstlerischen Ausdruck?
Die Entwicklung von künstlicher Intelligenz schreitet so schnell voran – das kann durchaus Angst machen. Ich wirke dem entgegen, indem ich lerne, damit umzugehen. Viele KI-Anwendungen sind für jeden frei verfügbar und leicht zu bedienen. Man muss nicht mehr Experte sein um dies zu können – und hier sehe ich Gefahren.
Zum Beispiel habe ich in dem Werk „Deep Paula“ eine alte Fotografie einer mir unbekannten Frau mit Hilfe von KI animiert – einer Software, die auf der Online-Plattform „MyHeritage“ frei verfügbar ist. Dabei ist ein Video herausgekommen, welches gleichzeitig fasziniert und verstört. Ich frage mich: wozu ist diese Software gut? Erinnern wir uns dadurch besser an eine bestimmte Person? Ist dies überhaupt noch die Person, die ich einmal gekannt habe? Oder kommt sie mir auf einmal fremd und unheimlich vor? Und was hätte „Paula“ dazu gesagt, was wir mit ihrem Andenken machen? Ich versuche, den Betrachter zum Nachdenken anzuregen und Stellung zu beziehen, z.B. durch eine Umfrage  mit dieser einfachen Frage: Wären Sie bereit ein Foto einer geliebten, verstorbenen Person mit Hilfe einer KI-Anwendung „zum Leben“ zu erwecken? Das Ergebnis verwundert nicht: zwei Drittel sagen „nein“, ein Drittel zieht es in Erwägung.

Kürzlich war in einer Augsburger Kirche eine Video-Installation von dir zu sehen. Ist das nicht ein ungewöhnlicher Ort für Kunst?
In der Videoinstallation „Deep Paradise“, die in der Kirche St. Konrad in Augsburg-Bärenkeller zu sehen war, konfrontierte ich den Betrachter mit KI-generierten menschlichen Porträts mit Heiligenschein und Namensaufschriften, wie z.B. „Maria“ oder „Jesus“, die um einen goldenen Apfel kreisen. Auch hier vermischen sich Realität und Fiktion. Denn die Personen und der Apfel sind virtuelle Objekte, im Hintergrund kann man aber reale Orte im Bärenkeller (einem Stadtteil von Augsburg) erkennen. Das mag für viele befremdlich erscheinen, aber für mich ist das ein Ausdruck dieser Zeit: unser Alltag wird zunehmend von künstlicher Intelligenz durchsetzt, sei es als intelligente Haushaltsgeräte, nützliche Apps oder effektive Suchmaschine. Warum also nicht den Betrachter auch mal mit einer KI-generierten Heiligen Familie überraschen? Für mich ist KI nichts weiter als ein Werkzeug, wie ein Pinsel oder ein Schraubenzieher. Man kann sehr viele gute Dinge damit tun, man kann aber auch schaden – es liegt an uns.

Welche Ausstellungsprojekte stehen aktuell oder demnächst bei dir an?
Gerade arbeite ich an einem Kooperationsprojekt zusammen mit einer Malerin aus München. Wir wollen herausfinden, welches kreative Potenzial in einem Dialog zwischen Malerei und KI steckt. Als gemeinsames Thema werden wir uns mit „Träumen“ als Echokammern von Alltagserfahrungen, Erinnerungen und Ängsten beschäftigen. Das Ergebnis wird 2024 der Öffentlichkeit präsentiert – entweder als Publikation oder als Ausstellung im Raum Augsburg-München, da sind wir noch in der Planungsphase.
Aktuell ist die Videoinstallation „Post Mortem“ unter anderem in der „75. Großen Schwäbischen Kunstausstellung“ im Glaspalast Augsburg noch bis zum 7. Januar 2024 zu sehen. Und vom 3. Februar bis zum 7. April 2024 werden mehrere Werke – Kollagen und Videos – in der Stadthausgalerie Sonthofen ausgestellt, gemeinsam mit weiteren GEDOK-Künstlerinnen (das ist die Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen und Kunstfreundinnen). Auf meiner Homepage www.eri-kassnel.de werden die aktuellen Projekte immer angekündigt.

Herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg weiterhin!