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Märchenhafte Erinnerungen an die Kindheit

„Mei Engscht vor dem Spezich – oder Banater Kindheit mit Brüder Grimm Märchen in Mundart“, geschrieben und vorgelesen von Claudia Balthasar.
Die Hörbuch-CD ist für 15 € über claudia@balthasar.ws beziehbar.

Mit neun Jahren war meine Cousine Claudia Balthasar eines der Kinder, das mit ihrer Familie in den 80er Jahren die Heimat im Banat verließ, um in die Heimat der Vorfahren, nach Deutschland, „zurückzukehren“. In ihrem Hörbuch erzählt sie von dieser Erfahrung, aber vor allem auch davon, was ihr von ihrer geliebten Heimat an innerem Reichtum geblieben ist, von den lebendigen Erinnerungen an eine im Großen und Ganzen unbeschwerte Kindheit, geprägt von ländlichem Idyll, Zusammenhalt und Gemeinschaftssinn.
Claudia lebte mit ihren Eltern, Groß- und Urgroßeltern, im damals so typischen kleinbäuerlichen Familienhaushalt im Herzen von Tschanad. Ein Dorf im Banat, unmittelbar an der Grenze zu Ungarn. Ihre kleine Welt reichte gerade mal bis zum Nachbardorf „Nikloos“ (Großsanktnikolaus), dahinter die große weite Welt, die sie nicht so sehr interessierte, die sie mehr von Erzählungen kannte. Sie war glücklich in ihrem Nest und fühlte sich pudelwohl und genau dort beginnt auch das Hörbuch von Claudia. Sie nimmt mich als Hörerin mit bis an die „Gassepoord“ ihrer Kindheit. Die Straße baut sich vor meinem inneren Auge auf, ich rieche die Düfte und kann mir das Tschanad während der Kindheit von Claudia immer besser vorstellen. Ich kann zumindest teilweise empfinden, was mir nicht gegeben war: eine Kindheit auf dem Land, von der auch meine Eltern immer wieder mit leuchtenden Augen erzählen. Als Vorstadtkind hörte ich immer ein wenig neidisch zu, habe ich das doch gerade knapp verpasst, da ich bei unserer eigenen Umsiedlung nach Deutschland erst im Baby-Korb lag.
Deshalb freue ich mich heute umso mehr, gemeinsam mit Claudia die Stille eines heißen Sommertages zu genießen, dem Zirpen der Grillen an einem lauen Sommerabend zu lauschen oder die absolute Dunkelheit einer mondlosen Winternacht zu erleben. Ich laufe mit ihr über die unasphaltierten Gassen, pflücke Maulbeerblätter, sammle Schnecken und habe den wundervollen Geschmack der ersten Banane ihres Lebens auf der Zunge. Ein unvergessliches Geschenk für sie, mit dem sie ihr Vater damals mitten in der Nacht überraschte.
Nebenbei bekomme ich einen lebhaften Eindruck vom perfekt aufeinander abgestimmten Alltag innerhalb der Familie, in dem jeder seinen Platz und seine Aufgaben hatte. Claudia erzählt farbenfroh, liebevoll und wohlwollend von den Menschen und Eindrücken Ihrer Kindheit und blickt immer noch dankbar auf den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft zurück, den sie nie wieder so erlebt hat wie damals.
Musikalisch hält das Hörbuch so manches Schmankerl für Heimatmusik-Liebhaber bereit. Nicht selten sind Claudias Worte durch Blasmusik untermalt. Doch einmal spielen sich schleichend Orgelklänge ein und ich befinde mich mitten im Geschehen einer Hochzeit in der fast das halbe Dorf Tag und Nacht fröhlich miteinander feiert. Diese von so vielen Händen gemeinsam gestemmten Hochzeiten waren pure Freudenfeste. Vergleichbares habe ich bis heute nicht erlebt, selbst in meiner wildesten Partyzeit nicht. Von Freitag bis Sonntag feierten die Tschander genauso, wie sie arbeiteten: unermüdlich und ausdauernd. Doch jedes Fest hat auch mal ein Ende und so musste Claudia am Montag danach wieder in die Schule gehen und „wackriche Aun machen“.
Eine besondere Rolle spielen in Claudias Erinnerungen die Märchen der Brüder Grimm, die ihre Mutter ihr abends vor dem Schlafengehen so oft vorgelesen hatte. Durch diese Märchen war auch der „Spezich“ in Claudias Leben allgegenwärtig. Es handelte sich hierbei um den Wolf, dessen „speziche“ Ohren sie überall, besonders des Nachts, zu sehen glaubte. Auch die Angst vor diesem Bösewicht zog sich wie ein roter Faden durch ihre Kinderzeit.
Anekdoten und Geschichten aus der Kindheit wechseln sich mit Märchen in ihrem Hörbuch ab und fließen harmonisch ineinander über. Sehr bemerkenswert finde ich daran, dass die Märchen von Claudia humorvoll ins „Tschandrische“ übersetzt wurden. Aus meiner Sicht hat sie sie dadurch zu einem neuen Kulturgut veredelt. Es ist für mich immer wieder ein Riesenspaß, den Märchen in einer solch besonderen Form zu lauschen. Nicht zuletzt auch, weil Claudia das Hörbuch selbst in waschechtem Tschanader Dialekt vorliest.
Wenn zum Beispiel der Wolf an de Gassepoord dubbert, weil er die Geißlein fressn well oder de Miller so verschreckt, dass er in de Fraß fallt, bekomme ich Bauchweh vor Lachen. Und ich freue mich genauso sehr wie am Ende die Geißlein, die ghupst sen und sich gedrillt han wie de Zickoschn (Kreisel) vor lauter Freed, weil se ausm Panz vom Wolf rausgschnied senn gen. Wer sich Claudias Hörbuch gerne anhören möchte, darf sich auf die besonderen, lustigen Versionen der Märchen vom Rotkäppchen, den sieben Geißlein, dem Froschkönig oder Hänsel und Gretel freuen.
Nach dieser bunten, lustigen und schönen Reise der Erinnerungen und der märchenhaften Fantasie mündet das Hörbuch in liebevoll gewählten, ergreifenden Worten der Dankbarkeit und Demut gegenüber den früheren Generationen, begleitet von der Sehnsuchtsmelodie von Walter Scholz. Worte und Musik verstummen schließlich und ich fühle mich von Stille, Frieden und großer Dankbarkeit erfüllt. Denn langsam verblassen die Erinnerungen, es wird immer weniger von früher erzählt und die jüngeren Generationen schauen verständlicherweise mehr nach vorne als zurück. Und so finde ich es umso wichtiger, ein solch wertvolles Kulturgut in den Händen zu halten, das uns Claudia mit ihrem Hörbuch schenkt. Gerade weil auch die älteren Generationen ein viel schwereres Schicksal erleiden mussten, dessen Gewicht ihre Erinnerungen oft dominierte, tragen die Worte von Claudia dazu bei, dass wir uns an die schönen und leichten, stärkenden und nährenden Seiten der Vergangenheit erinnern können und die eigenen Wurzeln nicht vergessen. Sie sind es, die uns Kraft und Stärke geben für ein aufrechtes Wachstum. Sie nähren uns im Inneren und machen uns stark für all die Herausforderungen da draußen. Auch und vor allem in Zeiten von Krisen.
Wir Banater Schwaben wissen was es bedeutet, sich heimisch zu fühlen, wo man streng genommen nicht so ganz dazugehört. Und dass es dort, wo man dazugehören sollte, mitunter lange dauern konnte, bis dieses Gefühl sich dann auch endlich einstellte. Das betraf sogar mich, ohne bewusste Erinnerungen an „dähem“. Und deshalb bin ich so dankbar für die vielen kleinen Steine von Claudia, die das Mosaik meiner Vergangenheit auf bunte Weise vervollständigen.