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Die Kraft der Kunst für Toleranz und Verständnis

Die Preisträgerin Ilse Hehn mit der Laudatorin Eva Beylich, stv. Vorsitzende der Künstlergilde Foto: Alexander Hehn

Der viel beachtete Literaturpreis der Künstlergilde Esslingen wird in diesem Jahr an die aus dem Banat stammende Schriftstellerin und bildende Künstlerin Ilse Hehn für ihr Gesamtwerk verliehen. Mit dem nach dem schlesischen Barockdichter Andreas Gryphius benannten Preis werden seit 1957 Autorinnen und Autoren unabhängig von ihrer Nationalität geehrt, in deren Werken deutsche Kultur und Geschichte in Mittel-, Ost- und Südosteuropa reflektiert wird oder die zur Verständigung zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn beitragen. Ilse Hehn steht damit in einer langen Reihe bekannter Persönlichkeiten wie Siegfried Lenz, Wolfgang Koeppen, Otfried Preussler, Horst Bienek, Ota Filip, Janosch, Karl Dedecius sowie in jüngerer Zeit Cătălin Florian Dorescu und Traian Pop.
In ihrer Laudatio würdigte die stellvertretende Vorsitzende der Künstlergilde Eva Beylich – selbst wie Ilse Hehn Autorin und bildende Künstlerin in Personalunion – die herausragende Persönlichkeit und das bedeutende Werk von Ilse Hehn: „Ihre Herkunft ist von einer Vielfalt geprägt, die sich in ihrem Schreiben und ihrer Kunst widerspiegelt. So zeigen ihre Werke eine bemerkenswerte Balance besonders zwischen der deutschen und der rumänischen Kultur und haben eine breite Anerkennung in beiden Ländern gefunden. Es ist unter anderem auch diese besondere Verbindung, die ihre Werke so einzigartig macht und uns in die faszinierende Welt ihrer Texte entführt.“ Wie bei vielen rumäniendeutschen Autoren sei die Biografie Ilse Hehns von der Bedrohung durch den Geheimdienst Securitate geprägt gewesen, die sie nach der Wende und dem Studium ihrer Akte in dem zweisprachigen, vom Rumänischen Schriftstellerverband preisgekrönten Buch „Irrlichter. Kopfpolizei Securitate“ verarbeitete. „Sie kreuzt Wort mit Collage, Zynismus mit Entlarvung, Bild mit Beweis, Projektion mit Destruktion“, schrieb der Verleger Horst Wörner dazu.
Auch nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik, so die Laudatorin, bewahrte sich die Künstlerin und Autorin Ilse Hehn „ein Gespür … für den ‚zweiten Blick‘, den Blick hinter die Kulissen“. Sie kam, jung verwitwet und alleinerziehende Mutter, 1992 in Ulm an und musste sich sowohl lebenspraktisch als auch künstlerisch bewähren: „Ihr Bild von Deutschland fängt realistisch in einem hochentwickelten Industrieland auch dessen Nüchternheit, ja sogar Kaltschnäuzigkeit und Hektik ein. Es ist vor allem dieser unbestechliche Griff hinter die Kulissen der Vorzeigewelt, die ihren Gedichten einen Wirklichkeitsgehalt gibt, wie ihn nur Poesie sprachverdichtend dem Leser – nicht selten schmerzhaft – ins Bewusstsein bringt.“ In diesem Zusammenhang zitiert Eva Beylich eines der ersten Gedichte von Ilse Hehn, die sie nach ihrer Ankunft in Deutschland schrieb: „Nicht zu vergessen / den Glanz abklopfen / die Farben hinterfragen / ansprechen den Tag / und / im Hinterhalt / jeden Zweifel wach halten“.
Ihre Publikationen in Deutschland zeigen, so Eva Beylich, eine „künstlerisch-literarische Doppelbegabung“, vermischen Text und bildnerische Gestaltung auf kongeniale Weise. Viele Bücher sind kommentierte Reiseberichte, der fotografisch dokumentierte kulturgeschichtliche Blick auf die Welt. Als ihr „persönliches Lieblingsbuch“ bezeichnet die Laudatorin Ilse Hehns Reisetagebuch „Diese Tage ohne Datum“, „ein geradezu europäisches Reise-Kunstbuch, welches ein beredtes Zeugnis ihrer Weltläufigkeit und Experimentierfreudigkeit ist.“
Das Oeuvre von Ilse Hehn umfasst heute 22 Bücher und zahlreiche Anthologie- oder Zeitschriftenbeiträge, dazu sieben unikale Kunstbücher. Eva Beylich bezeichnet es als „Gesamtkunstwerk, in welchem kongenial die bildende und die Sprachkünstlerin Ilse Hehn zu Wort kommt. Diese Bandbreite füllt sie mit der besonderen Sensibilität der Malerin für Nuancen. Ihren Texten fügt sie meist eigenwillige Collagen, Malerei, Übermalungen oder Fotografien mit Überschreibungen bei, in denen Einzelwörter in eine ungewöhnliche Farbumgebung sinnintensivierend projektiert werden.“ Mit ihren Werken zeige uns Ilse Hehn, „wie kulturelle und historische Hintergründe die Menschen prägen und wie Erinnerungen in der Gegenwart weiterleben.“
Die Auszeichnung mit dem Andreas-Gryphius-Preis sei eine Anerkennung für eine Botschafterin der Kultur, der Kunst und der Literatur. Konkret trage Ilse Hehn mit der umfangreichen Spannweite ihrer Texte „auch zur Vermittlung donauschwäbischer Kultur und deren Einbettung in die deutsche und europäische Gegenwartskultur bei.“ 
Ihr Werk sei „ein Zeugnis für die Kraft der Kunst, die Unterschiede zu überwinden und Gemeinsamkeiten zu finden. Ihre Worte inspirieren uns, in einer Welt der Vielfalt und Toleranz zu leben. In Zeiten, in denen die Welt von Konflikten und Spaltungen geprägt ist, erinnert uns die Autorin daran, dass Literatur 
und Kunst Brücken sind, die uns verbinden.“
Der Preis wurde im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum der Künstlergilde im Alten Rathaus Esslingen verliehen. Mit einem mehrtägigen Rahmenprogramm und einer Ausstellung von bildenden Künstlern erinnerte die Künstlergilde an ihre Rolle, durch die Förderung von Kunstschaffenden aller Sparten Brücken zu bauen – insbesondere in die durch den kalten Krieg damals abgeschotteten Länder Ost- und Südosteuropas.