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Eine Hommage an die Handwerker von Entre Rios

Gerhard Temari, ein gebürtiger Perjamoscher, legt spannende autobiografische Familiengeschichte vor

Im Januar 2022 feierte die Donauschwabensiedlung Entre Rios in Brasilien ihr 70-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass erschien neben dem zweibändigen „Heimatbuch Entre Rios“, das auf über 600 Seiten die 300-jährige Geschichte der Donauschwaben sowie die Gründung, das Werden und Gedeihen der aus fünf Dörfern bestehenden Siedlung im brasilianischen Bundesstaat Paraná nachzeichnet, ein weiteres Buch mit dem Titel: „Die Handwerker von Entre Rios. Eine Hommage an das Leben und [die] Arbeit der Meister, die Entre Rios kolonisierten“. Dessen Autor Gerhard Temari hat die Entwicklung der Siedlung Entre Rios entlang ihres gesamten Bestehens nicht nur miterlebt, sondern das Gemeinschaftsleben in verschiedenen ehrenamtlichen Funktionen auch aktiv mitgestaltet.

In den in stattlicher Anzahl vorliegenden Publikationen über Entre Rios werden zu Recht die Pionierleistungen der bäuerlichen Siedler und die Entwicklung zu einer mustergültigen Siedlung mit einer genossenschaftlich organisierten, leistungsstarken Landwirtschaft hervorgehoben. Mit seinem Buch stellt Gerhard Temari erstmals die Handwerker in den Mittelpunkt und würdigt den wichtigen Beitrag, den dieser Berufsstand in der Entstehungs- und Aufbauphase der Siedlung geleistet hat. Um die von großen Zentren entfernt liegende und nur über prekäre Straßen zu erreichende Siedlung autark zu machen, wurden Handwerker gebraucht. „Sie leisteten den Landwirten volle Unterstützung, doch wurde die Arbeit der Handwerker in der Geschichte zum Teil vergessen“, schreibt die Journalistin Rejane Martins Pires im Geleitwort. Ohne sie wäre eine gedeihliche Entwicklung der Siedlung nicht möglich gewesen. Die Handwerker errichteten zuerst Gemeinschaftsbaracken als provisorische Unterkünfte für die nach und nach ankommenden Pioniere. Danach wurden zügig Straßen angelegt, 500 Wohngebäude, für jedes Dorf eine Schule und eine Kirche, Läden, Magazine, Gemeinschaftsbauten und ein Sägewerk errichtet. Geschulte Handwerker reparierten die landwirtschaftlichen Maschinen und erbrachten verschiedene Dienstleistungen an die Bevölkerung. 
Gerhard Temaris Buch ist keine wirtschaftsgeschichtliche Arbeit, sondern eine autobiografische Familiengeschichte, in der das Leben und die Arbeit seines Vaters, des Schuhmachermeisters Jakob Temari, breiten Raum einnimmt. Ergänzt wird die Familiengeschichte durch ein umfangreiches Kapitel „Meister von Entre Rios“, in dem der Autor Informationen zu den dort tätigen Handwerkern aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen hat.

Gerhard Temari wurde 1943 in Perjamosch geboren. Er war der dritte von vier Söhnen des Ehepaares Jakob Temari (geboren 1908 in Temeswar) und Elisabeth Temari, geborene Szenaschi (geboren 1912 in Petschka). Sein Vater arbeitete als Schuhmacher in Perjamosch und legte dort auch die Meisterprüfung ab. 1943 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen. Die Mutter flüchtete im Herbst 1944 mit den Söhnen Josef, Georg und Gerhard und landete in Sankt Martin im Innkreis. Dort fand der aus russischer Kriegsgefangenschaft freigekommene Vater nach langem Suchen seine Familie wieder. Nach zeitweiligen Beschäftigungen begann Jakob Temari, „ein Künstler in seinem Handwerk, kreativ und engagiert“, Sandalen aus den Lederbändern von Kriegshelmen anzufertigen. Seine Erfindung hatte einen durchschlagenden Erfolg, sein Ruf als tüchtiger Schuhmachermeister verbreitete sich weithin. Schließlich wurde er von der Internationalen Flüchtlingsorganisation I.R.O. beauftragt, Kriegsversehrten das Schuhmacherhandwerk in Theorie und Praxis beizubringen, eine Aufgabe, die er drei Jahre lang mit großer Leidenschaft wahrnahm.

Mit der Entscheidung, nach Brasilien auszuwandern, ging Jakob Temari, der mittlerweile eine sechsköpfige Familie zu ernähren hatte (der jüngste Sohn, Franz, war 1947 in Sankt Martin zur Welt gekommen), das Wagnis eines weiteren Neuanfangs ein. Die Familie machte sich im Februar 1952 auf den Weg nach Entre Rios; es war der letzte von insgesamt sieben Schiffstransporten, die 2446 Siedler beziehungsweise 500 Familien – die meisten kamen aus Slawonien, viele auch aus Syrmien und der Batschka, ein kleinerer Teil aus dem jugoslawischen und rumänischen Banat – ins zentrale Hochland von Paraná brachten.

Gerhard Temari beschreibt die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten des Neuanfangs und zeigt am Beispiel seiner eigenen Familie auf, wie die Pioniere durch Fleiß und Hartnäckigkeit, durch Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung die großen Herausforderungen gemeistert haben. Sein Vater arbeitete zunächst im Sägewerk, bevor er sich den Traum von der eigenen Schusterwerkstatt erfüllen konnte. Die Anfänge waren bescheiden: Mit Werkzeugen und etwas Material, die er aus Europa in einer alten Holzkiste mitgebracht hatte, begann er, neben Reparaturen auch auf die Kunden zugeschnittene Schuhe und Stiefel anzufertigen. Der Kundenkreis erweiterte sich, das Geschäft florierte. Voller Hochachtung, Warmherzigkeit und Dankbarkeit zeichnet der Sohn das Bild des begabten und vielseitig interessierten Schuhmachermeisters: „Mein Vater reparierte oder fertigte jedes Paar Schuhe mit der gleichen Hingabe. Perfektionistisch und mit der Hand eines Künstlers führte er sein Handwerk aus.“ Er liebte es, „etwas zu erschaffen, er war sehr innovativ“. Durch sein höfliches Auftreten, sein freundliches und kommunikatives Wesen, seine humorvolle Art war er bei seinen Landsleuten sehr beliebt. Gerhard Temari hebt auch die positive Lebenseinstellung seines Vaters hervor: „Mein Vater gehörte nicht zu den Menschen, die Zeit damit verschwendeten, sich zu beschweren. Er fand schnell die einfachsten Lösungen für die Probleme. (…) Selbst inmitten des Chaos sah er die positive Seite der Dinge. Er war vom Wesen her ein optimistischer und liebevoller Mensch.“ Jakob Temari „war ein Meister im Beruf und im Leben“. Seinem Sohn war er nicht nur Freund, Ratgeber und Inspirationsquelle für die eigene Lebensgestaltung, sondern auch erster Lehrmeister. „Eine der vielen Lektionen, die er mich lehrte, war die, wie man arbeitet, aber nicht vergisst zu leben“, so Gerhard Temari.

Temari befolgte den Rat seines Vaters: „Wenn du jemand im Leben sein willst, liegt es an dir. Ich kann dir nichts geben. Und erwarte nichts von niemandem.“ Nach zweijähriger Schuhmacherlehre im Geschäft seines Vaters wurde er Bürogehilfe, später Buchhaltungsassistent bei der Genossenschaft Agrária. Im Alter von 18 Jahren wechselte er als Assistent in ein bekanntes Buchhaltungsbüro in Guarapuava. Fünf Jahre später übernahm er dessen neu eröffnete Niederlassung in Entre Rios, um sich dann – nachdem er den Sekundarstufenabschluss nachgeholt und den Abschluss als Buchhaltungstechniker absolviert hatte – selbständig zu machen. Neben seiner Arbeit als Buchhalter schuf er sich mit dem Kauf eines Bauernhofes und dem Aufbau eines landwirtschaftlichen Betriebs ein zweites Standbein. Auch privat fand Gerhard Temari Erfüllung: Er gründete eine Familie und bekam zwei Töchter.

Mit einem starken Verantwortungs- und Gemeinschaftssinn ausgestattet, übernahm Gerhard Temari im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Aufgaben und Funktionen in der Genossenschaft Agrária (unter anderem Vizepräsident und Vorsitzender des Aufsichtsrates), in der Semmelweis-Stiftung, im Sportclub Entre Rios usw. Er wirkte auch als Friedensrichter und unterrichtete technische Buchhaltung an der Imperatriz Dona Leopoldina-Schule in Entre Rios.

Durch seine berufliche Tätigkeit hatte Gerhard Temari Gelegenheit, die Handwerker in Entre Rios näher kennenzulernen. „Es gab keine Profis in Guarapuava oder sogar in der Region, die so gut wie sie waren. (…) Dank der Meister hatten die Bewohner des Bezirks Zugang zu den besten Produkten, Dienstleistungen und Reparaturen“, schreibt er. Ihnen, den „Meistern von Entre Rios“, widmet er aus tiefem Respekt „für das, was sie für unsere Siedlung getan haben“, ein fünfzigseitiges Kapitel. Obwohl von unterschiedlicher Länge und Informationsdichte, liefern die meist von Familienangehörigen beigesteuerten Porträts der Handwerker dennoch wertvolle Erkenntnisse über ihre Herkunft, ihren Wirkungsbereich, ihre Leistungen und ihre unschätzbare Rolle im wirtschaftlichen Gefüge der Siedlung. Unter den porträtierten Handwerkern befinden sich auch einige aus dem rumänischen Banat stammende, wie der Mechaniker Hermann Pollyak aus Valkan, der Schmied Nikolaus Dreier aus Perjamosch, der Schumacher Michael Weckl aus Schag, der Metzger Karl Sposta aus Lugosch/Perjamosch oder der Friseur Michael Kunst aus Keglewichhausen.

Das zweisprachige Buch (portugiesisch-deutsch) ist grafisch hervorragend gestaltet und reichhaltig illustriert. Gerhard Temari hat damit den Handwerkern von Entre Rios, seinen Eltern und sich selbst ein bleibendes Denkmal gesetzt. 

Gerhard Temari: Aos mestres de Entre Rios. Um tributo à vida e obra dos mestres que colonizaram Entre Rios = Die Handwerker von Entre Rios. Eine Hommage an das Leben und [die] Arbeit der Meister, die Entre Rios kolonisierten. Entre Rios, Guarapuava – Paraná, 2022. 198 Seiten.