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„Wir zogen westwärts“ Ernest Wichners neuer Lyrikband „Heute Mai und morgen du“

Ernest Wichner ist ein vielseitiger Literaturschaffender, in erster Reihe bekannt als Literaturvermittler. Von 1988 bis 2017 war er im Literaturhaus Berlin tätig, ab 2003 als dessen Leiter. Er ist Herausgeber, Übersetzer, Ausstellungsmacher, Kritiker, dennoch ist er immer auch Lyriker geblieben. Als Germanistikstudent an der Universität Temeswar war Wichner 1972 einer der Gründer der „Aktionsgruppe Banat“ zusammen mit Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok und Richard Wagner, neun junge Dichter, die sich gegen die Tradition auflehnten, sich der Avantgarde zuwendeten, Aufsehen auch im Ausland erregten und durch den politisch kritischen Charakter ihrer Werke den Zorn der berüchtigten Geheimpolizei Securitate auf sich zogen. 

2022 erschien im Frankfurter Schöffling-Verlag Wichners Gedichtband „Heute Mai und morgen du“ mit neuen Gedichten und einer Auswahl der alten aus vier Jahrzehnten aus den Bänden: „Steinsuppe“ (Frankfurt am Main 1988), „Rückseite der Gesten“ (Springe 2003), „bin ganz wie aufgesperrt“ (Heidelberg 2010) und „Neuschnee und Ovomaltine“ (Berlin 2010). Bereits die titelgebenden Verse aus dem letzten Gedichtzyklus, in dem eine fiktive Figur namens Further vorkommt, enthalten den Vanitas-Gedanken, der sich durch das ganze Buch zieht: „further singt/ er kehre wieder/ lässt sich nieder/ wo der Flieder/ seine Winzlings-/ blüten über Gräber/ streut heut ist Mai/ und morgen du.“

Den Band eröffnen neue Gedichte, die ins Banat führen, das den Hallraum der Erinnerungen von Ernest Wichner, der 1952 in Guttenbrunn geboren wurde, bildet. Es sind Rückblenden ausgehend vom Todesgedanken der Mutter, Jahre nach der Auswanderung 1975. Eine verletzliche und bedrohte Heimat vermittelt das Bild des Kindes, das 1965 mit nackten Beinen „mittels Zackenschere“ im Blumenbeet steht. Der Ausweg: „…wir zogen westwärts.“ Albträume und konkrete historische Daten vermischen sich in den Erinnerungen an die Zeit im kommunistischen Rumänien: „Verboten waren / Musikerziehung, insbesondere elektrischer Kontrabass… Ansehen genoss allein/ die Trommel: Der Trottel vom Amt durfte sie schlagen… Väterchen Stalin war tot.“  Wichner erinnert an die Enteignung und Rechtlosigkeit der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg: „neue Nachbarn gab es allenthalben, die hatten Wörter/ mitgebracht aus ihren Käffern in den Bergen, nichts/ als Wörter in barfüßigen Kindern…Gott sprach kaukasische/ Dialekte.“ Der alte Matz, ein Dorforiginal, tritt als skurrile Gestalt ins Gedicht. Die Stadt Arad erscheint unheimlich: „spitze Gestalten/ fallen dem Morgen zu, grau/ vor zu viel Angst.“ Der Untergang des deutschen Banats wird schmerzlich dargestellt: „Nenn ich es Haus noch einmal/ ist es Haus ist Fenster blind/ und blinde Tür nichts mehr/ das Einlass böte oder Blick/ Ich nenn es Haus/ von weither blinder Spiegel/ Aberglück“. Im Gedicht „Ein Fragment“ gelangt der Autor zur Schlussfolgerung: „… kein Weg zurück.“

Eine ganze Reihe von Gedichten widmet Wichner den Vorbildern, Freunden und Weggefährten. Dem Dadaisten Tristan Tzara erweist der Autor seine Reverenz. „Da geht einer seine Sprache ab“, heißt es im Gedicht „Tzara“, ein Vers, den Maren Jäger, die ein ausführliches Nachwort geschrieben hat, sogar als Motto für Wichners Gedichtband sieht. Immer wieder klingen auch die Stimmen der beiden Freunde Gellu Naum und Oskar Pastior durch die Gedichte. Ernest Wichner fand schon früh in seiner Lyrik den Weg zu dem Surrealisten Naum, der in seinem Gedicht „Athanor“ über den geistigen Ofen zur Erzeugung des Steins der Poesie spricht. Das Gedicht „Der alte Dichter“ ist eine Hommage an Gellu Naum, der als Bauer dargestellt wird, was er nie war, aber dieser Bauer macht alles, was er anfasst, „unverlierbar“. Oskar Pastior blitzt auch in vielen Versen auf, oft als Zitat. „In den Rolläden die Eifersucht“ ist ein klarer Hinweis auf Pastiors bekanntes Gedicht „Jalousien aufgemacht, Jalousien zugemacht“. „Bausoldat OP“ bezieht sich auf die Russland-deportation von Pastior 1945-1949. Für den Freund Rolf Bossert, der kurz nach seiner Ausreise 1985 Selbstmord beging oder im Wohnheim in Frankfurt aus dem Fenster gestoßen wurde, schreibt Wichner das „Epigramm 1985“, in dem es heißt: „der Staat ist ein verlottert Boot/ wenn überhaupt so trägt er/ eine rote Mütze doch/ wen er greift den schlägt er/ auf der Stelle tot.“

Wichners Gedichte sind poetische Dialoge, in denen ein „du“ angesprochen wird, das ein Gesprächspartner sein kann oder der Autor selbst. Den poetischen Dialog findet man überall im Buch, so etwa mit Hans Bender, Lioba Hoppel, Christoph Meckel, Günter Kunert, Hans Till, Norbert Hummelt, Ulf Stolterfoht. Weitere Freunde, denen Wichner Gedichte widmet oder poetische Übernahmen aus deren Werk macht, sind Adolf Endler, Thomas Kling, Elke Erb, Konrad Bayer u.a. Wichner dichtet aber auch freundschaftliche Unterredungen, die nie stattgefunden haben, so bringt er Gerald Bisinger mit Ion Minulescu zusammen, Heinrich Heine spricht auf einen Anrufbeantworter, Georg Trakl tritt im kalifornischen Exil mit Bertolt Brecht in Verbindung, Further trifft Mircea Vulcănescu, der als politischer Häftling 1952 in Aiud starb. 

Berührend sind die Dialoge mit der Familie, etwa mit der Mutter in „Levkojen“, mit dem Sohn in „Für Benjamin“ oder mit der Ehefrau in „Sehnen und Hören“. Die Liebesgedichte sind bei Wichner oft traurig, einige bedienen sich an Vorlagen von Ovid und Petrarca. Wichners langjährige Archivarbeit beeinflusst auch sein Schreiben. So findet er ein paar Zeilen im Nachlass des Schriftstellers Franz Hessel 1998 im Literaturarchiv Marbach, ein emotionaler und durch Buchenwald politischer Text, den er vollständig ins Gedicht „Desperates Berlin der Zeit 1920“ übernimmt: „Ach aber viel Sehnsucht hab ich/ bei Regenbogen und Wolkentürmen/ und grünem Wasser und braunem Tang/ bei Jasmin und Buchenwald/ und bin ganz wie aufgesperrt/ und zart innen vor Erwartung.“ 

Was die Form der Gedichte angeht, so muss auf die große Vielfalt hingewiesen werden. Prädominant sind die freien Verse mit harten Brechungen, manchmal sogar mitten im Wort. Auch Gedichte mit Reim finden ihren Platz, Epigramme und Sonette, rhythmische Prosa, Blocksätze, Textquadrate. Ganz besonders ist die Spiralform in „Das politische Gedicht“, ein Musterbeispiel für experimentelle Lyrik. Ernest Wichners Werk ist eine Sprachexplosion mit vielen Wortschöpfungen, von denen hier nur einige erwähnt werden sollen: Bedeutungsruinen, Lächeltropfen, schillvergnügt, Sprechmarie, Heuduftdämmer, Aberglück, flipperkugelrund, Grasstacheldraht, Graswörterbuch.

Die Dichtung selbst wird zum Thema in Wichners Lyrik, wenn der Autor alles andere dem Schreiben opfert: „Schlaf dich voran, ich stehe schon/ sechzehn Zeilen tief in deiner Schuld“ schreibt er im Gedicht „Ich dreh mir noch eine“. Über die Qual des Schreibens erfahren wir durch Further: „Further schreibt einen Namen auf/ streicht ihn durch zerreißt das Papier/ und wirft den Kugelschreiber in den Müll“. Die Further- Gedichte sind Sprachakrobatik im wahren Sinne des Wortes, sie schwenken hin und her zwischen Sprachwitz und Albernheit, zwischen tradierter Form und Experiment.

Wichner bringt auf der letzten Seite des Buches einen Zwerg, dessen Haut aus den Seiten von Sigmund Freuds Buch „Das Unbehagen in der Kultur“ besteht. Und er schreibt dagegen an, kritisch, manchmal auch wütend wie in „Vorgang I“: „Aber die Außenseiter! Die Mäander, Buchteln/ und Schluchzer. Die Wolkenmasseure, heim-/ lichen Sinnverklumper und Verquaser, die / honigsüßen Hermeneuter… Wehret den Klunkern!“

Dieses Buch zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen für jeden, der bereit ist, sich der Poesie zu überlassen, sich auch in Bereiche entführen lässt, die unbekannt und geheimnisvoll sind, dorthin, wo die ganze Welt mit ihrer Vielfalt zu Literatur wird.

Ernest Wichner: Heute Mai und Morgen du. Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort von Maren Jäger. Frankfurt am Main: Schöffling & Co., 2022. 288 Seiten. ISBN 978-3-89561-298-5. Preis: 26 Euro