Leben heißt Werden und Vergehen, Sprießen und Blühen, Samen und Früchte tragen, aber auch Welken und Fallen. Im vergangenen Jahr brachten wir einen umfassenden Beitrag über das Werk und Leben des Künstlers Ingo Glass zu dessen 80. Geburtstag. Diesen Text hat er noch mit großer Freude gelesen und in seinem Atelier in Budapest eingerahmt ausgestellt. Nun erreichte uns die traurige Nachricht, dass dieser seltene Mensch am 27. Oktober in Frieden mit sich und der wankenden Welt in Budapest verstorben ist.
Mit dem am 9. April 1941 in Temeswar geborenen Ingo Gerhard Glass verlässt einer der letzten „der aus dem Land Getriebenen“ die Schaubühne unserer Zeit. Viele Landsleute haben ein ähnliches Schicksal geteilt, und wir wissen nur allzu gut, wie es den Aussiedlern ergangen ist. Nicht wenige haben dabei ihr Selbstbewusstsein verloren, sind gar daran gescheitert. Sie haben ihre Sehnsüchte und Träume nie erfüllen können. Denn eine Flucht, aus welchen Gründen auch immer diese erfolgt, zerteilt den Menschen in ein „Vorher“ und ein „Nachher“. Die beiden Hälften passen oft nicht mehr zusammen, selbst wenn man unbewusst eine der Hälften später verklärt. Man schafft es nicht mehr, die innere Ganzheit zu finden. Dabei verliert man allmählich den Lebenssinn, verkrustet und vereinsamt. Es traf besonders die empfindsamsten Menschen, welche aus ihrem Biotop gerissen worden waren: Künstler, Musiker und Poeten, eben die Kreativen.
Ungebrochener Elan, wenn es um Kunst ging
Ingo Glass hat uns gezeigt, dass es auch andersrum geht. Er hat sich nicht verbiegen oder wegschieben lassen. Er hat, wo immer er stand, einfach angepackt. So etwa in Bukarest, wo es ihm als künstlerischem Leiter des „Friedrich Schiller“-Kulturhauses gelang, 1977 die erste und einzige Ausstellung deutscher Künstler aus Siebenbürgen und dem Banat stattfinden zu lassen. Ein von den Potentaten gerade noch geduldeter vager Versuch, die Russland- und Bărăgan-Verschleppungen aus dem Gespräch zu nehmen. Aber dieser gewissermaßen schon rebellische Akt allein sorgte für eine erhöhte Beobachtung durch den Geheimdienst. Die omnipräsenten wachsamen Augen beäugten argwöhnisch nicht nur die hier ausstellenden Künstler, sondern gleichwohl auch die Besucher.
Ingo Glass strotzte vor Kraft, wenn es um Kunst ging, sein Elan war nicht zu bremsen. Er konnte den letzten Zaghaften, der schon gar nicht mehr an sich selbst glaubte, davon überzeugen, wie wichtig das Bekenntnis zur Gruppe sei. Ähnlich hat er auch alle Künstler in Deutschland, Freunde und Studienkollegen, im Verein der Banater Künstler um sich geschart. Es folgten gemeinsame Ausstellungen in Pforzheim, München, Augsburg, Nürnberg, Landshut usw., ja sogar in Ungarn und Rumänien sind die Werke ausgestellt worden. Die Ausstellung „50 Jahre danach“ war eine Sensation. Wer kannte diese Menschen noch? Es war Glass gelungen, die Vorkriegsgeneration und die jungen aufstrebenden Künstler zusammenzubringen. Es waren für uns ergreifende Momente, auch wenn die Bildbetrachter oft die alten Motive überall suchten und kaum oder nur sehr spät einen Blick für die zeitgenössische Szene fanden und dabei auch neue Namen kennenlernten.
Ingo Glass ist im deutschsprachigen Umfeld, eingebettet in der (magyarischen) alten k.u.k.-Tradition und Kultur, aufgewachsen. Ähnlich verliefen seine Kindheit in Lugosch und sein Studium in Klausenburg, wo er von ungarischen Kollegen umgeben war. Dennoch entschloss er sich, nach dem Abschluss an der „Ion Adreescu“-Kunsthochschule nach Galatz zu ziehen, um eine Stelle am Museum für Moderne Kunst im rumänischen Umfeld anzunehmen.
Dies, obzwar sein Großvater, der Kaufmann Johann Kratochwill aus Deutschsanktmichael, 1950 in einem Bukarester Gefängnis in U-Haft verstorben und sein Vater (Geiserich) Geza Glass nach seiner Heimkehr aus der amerikanischen Zone (1947) verhaftet, wegen Spionage lebenslänglich verurteilt und erst später, durch eine allgemeine Amnestie, freigekommen war. Ingo aber musste aus diesem Grunde das Lugoscher Deutsche Gymnasium verlassen und wurde ins rumänische Abendgymnasium versetzt, um tagsüber arbeiten zu können (zu dürfen).
Die Mutter Eva aber mit den drei Kindern – das Haus war schon von den Russen zur Kommandantur gemacht und später enteignet worden – konnte sich bis dahin nur notdürftig durchschlagen. Bei Verwandten untergekommen, war sie auf die Hilfe befreundeter Kaufleute angewiesen, wie etwa die jüdischen Freunde Imre Blum und Toni Popper, welche in ihrem Haus die bitteren Jahre über versteckt überlebt hatten. Ja, die Mama war die Heldin der Familie. Sie hielt den Vater nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis tagelang vor den Kindern versteckt, denn sein skelettierter Anblick wäre für sie unzumutbar gewesen.
Auch wir standen uns nahe, denn Eva Kratochwill (geboren 1910 in Saderlach, gestorben 1999 in München) stammte aus meiner Heimatgemeinde und stand sozusagen unter meiner Obhut als Redmann der HOG. Obzwar sie schon nach der Volksschule nach Temeswar kam, wollte sie immer noch alemannisch mit mir reden, war doch die Kindheit so ungetrübt und schön: das Dorf, die Kirche und sogar die „Litt“ (Leute). Zum Glück wohnten wir später am Ostbahnhof unweit vom Üblacker-Häusl, wo die Oma die Kinder betreuen durfte. Und Gyöngyike wollte immer ungarisch mit mir und meiner Frau Gerlinde reden.
In Galatz den Stahl als Werkstoff entdeckt
Noch vor dem Abschluss der Kunsthochschule in Klausenburg hatten Maria Gyöngyvér Kozma und Ingo Glass den Bund der Ehe geschlossen. Sie hatten sich während eines Sommer-Praktikums von Ingo in Ungarn kennengelernt. Er half bei Bildhauern aus und sie war zur gleichen Zeit als Solopianistin unterwegs. Auch sie studierte in Klausenburg an der Musikhochschule.
Tochter Krista kam 1969 schon in Galatz zur Welt. Es war für die Familie zunächst ein erfülltes Leben: Die Kollegen, die Wohnung, sogar die Umgebung – alles war stimmig. Und der emsige Schöpfer und Sammler reiste zu den Kollegen, um neueste Werke für das Museum anzukaufen. Ingo begegnete in Galatz dem ihn später nicht mehr loslassenden, Erfolg bringenden Material: dem Stahl. Die gewaltigen, im Stahlwerk angefertigten Schiffsplanken faszinierten ihn. Es begann mit dem Glockenturm (1970), setzte sich mit den Kathedralen fort und führte zum 25 Tonnen schweren und 13 Meter hohen „Septenarius“ in Galatz (1976), ein Werk, dessen sieben Streben symbolisch für die angrenzenden Staaten des Donauraumes stehen. Vage erkennt man schon die gotischen Torbögen, womit sein Weg donauaufwärts begann, als wäre dieser schon für den Künstler vorbestimmt. Es fehlte nur noch ein kleiner Schritt, die puristische Findung des filigranen, „gotisch anmutenden“ Bogens.
Als junger Bildhauer Anerkennung erworben
Die Pianistin Maria bewarb sich für eine Anstellung an der Oper in Bukarest und wurde angenommen. Damit stand ein erneuter Umzug an, denn Ingo folgte ihr ein Jahr später als Assistent an die Hochschule für Architektur. Die Familie vergrößerte sich, Sohn Ingmar Arne erblickte 1972 das Licht der Welt. Dann wurde Ingo die Leitung der Abteilung für Kultur am Deutschen „Schillerhaus“ (1976-1979) angetragen. Inzwischen war er als junger Bildhauer längst anerkannt und durfte sogar eine persönliche Ausstellung in der Bukarester Galerie Simeza zeigen. Seine solitären Werke standen inzwischen in vielen Museen, auch wenn sich Glass stetig vom „sozialistischen Realismus“ spürbar entfernt hatte. Seine Kunst entwickelte sich mehr und mehr zum Abstrakten hin, verzichtete schließlich ganz auf die Darstellung des Menschen und bewegte sich im Geistigen. Der Künstler schildert auch kaum noch die Errungenschaften der „neuen Ära“. Er ist verdächtig westlich orientiert, denn es fließen ihm über die Bukarester Botschaften der westlichen Länder stets neue Informationen über die europäische Kunstszene zu.
Nach einem längeren Abendgespräch mit dem Wiener Journalisten Paul Lendvai und etwas später mit belgisch-französischen Journalisten im „Schiller“-Haus folgen im Herbst 1978 deutliche Presseberichte über das Kunstgeschehen in Rumänien in Wiener und anderen westlichen Medien. Alsbald wurde Glass vorgeladen und schließlich aufgefordert, den Ausreiseantrag zu stellen.
Monumentalplastiken entlang der Donau
So kam Familie Glass nach München. Man kümmerte sich auch bald um den agilen Künstler. In Haidhausen stand das Üblacker-Häusl gerade vor Abschluss der Sanierungsarbeiten und man suchte für das alte Heimatmuseum nach einem Leiter, der in die sehr beengte Wohnung im Obergeschoß einziehen sollte. Die Glass’ kamen gerade zur rechten Zeit, nutzten die Chance und zogen ins Üblacker-Häusl ein. Damit begann Ingos Tätigkeit als Kurator im Münchner Kulturamt.
Es war die Erfüllung eines Traumes, denn jetzt saß er an der Nahtstelle des Ost-West-Geschehens, war doch München Anlaufstelle für Künstler aus Prag und Danzig, Budapest und Wien, abgesehen von den vielen Emigranten, die eh schon hier lebten. Das Haus wurde bald zum Treffpunkt der Künstler, vor allem jüngerer Generationen, die aus dem bröckelnden südöstlichen Europa langsam heraussickerten.
Das Geschehen aber in diesem Häuschen geriet gelegentlich zum Alptraum für die Familie: ein ständiges Kommen und Gehen, verlängerte Vernissagen bis in die Nacht hinein – Künstlerbetrieb, wie man es sich eben vorstellte. Auch Ingos Tätigkeitfelder erweiterten sich um die Städtische Lothringer Galerie mit laufenden Ausstellungen der geförderten jungen Arrivierten, um die Banater Künstler, die Freunden und Kollegen aus der Studienzeit, welche nach Ungarn emigriert waren usw.
Wenn man all dies weiß, kann man sich Ingos eigenen Künstlerweg, den er stetig ausgebaut hat, kaum noch vorstellen. Den jetzt kommen erst die Kathedralen: die Schwarze Kathedrale (1973), Quadratur (1974, Mexiko, ähnlich in Oberhausen) und als krönender Abschluss die Sonnenpyramide/n (1981), Alpha & Omega (1987) in Dunaújváros, Strebe in Ulm (1993-98), Trilogien usw. – alle, soweit möglich, entlang der Donau. Daran anfügend die Gedenkorte: die Opfer-Stelen in Temeswar (1992), die Gedenkstätte der Banater Schwaben in Göppingen (1996), das DADA-Denkmal bei Moinești in der Moldau (1996), das Gefallenen-Denkmal in Lugosch (1999) usw. Alle Werke haben einen deutlichen Bezug zum Ort, an dem sie stehen: Standort und Ausrichtungsachsen sind genau vom Künstler bestimmt. Wenn man sich vorstellt, welche Mühen allein schon die Berechnungen der nötigen Gewichtsverlagerungen bereiten, welche organisatorischen Maßnahmen dazu erforderlich sind, ahnt man vielleicht, welchen enormen Arbeitsaufwand die Ausführung der Werke vom Künstler forderten. Dabei hatte jedes Projekt eine andere topographische Ortslage und ein besonderes ethnisches Umfeld. Entscheidend blieben stets die ideellen Hintergründe und die angestrebten Aussagen.
Kleinformatige Plastiken in unzähligen Variationen
Es war auch unvermeidlich, dass Ingo Glass über die Farben herfiel. Denn er hatte sich ja auf die drei Grundfarben Blau – Gelb – Rot konzentriert. Nach einem Besuch am Bauhaus in Dessau (1993) begann seine Auseinandersetzung mit Johannes Itten und Wassily Kandinsky, denen er eine falsche Zuordnung vorwarf. Für ihn war der Kreis niemals blau, sondern rot, und das Viereck hatte blau zu sein. Gelb war klar die Farbe des Dreiecks. Aber da ich auch gerne im blauen Dunst schwelge und ins Blaue träume, konnte ich meinem Freund in dieser Sache nicht zustimmen. Die Kunstgeschichte wird wohl weiter darüber streiten.
Glass’ letzte Schaffensphase kennzeichnet sich durch multiple, kleinformatige, in spielerischer Form umgesetzte Gebilde (ca. 1x1 Meter), die nunmehr der intimste Gestaltungsraum des Künstlers werden. Es sind dies faszinierende Kombinationen der Grundformen Dreieck, Viereck und Kreis, jeweils in den ihnen zugeordneten Farben, segmentiert, durchdrungen, in unzähligen positiven oder negativen Formen. Es sind beinahe kindliche Spiele, und dennoch steht man verblüfft vor den Ergebnissen. Das Spiel ist sehr anregend und schön. Diese Kunstwerke finden großen Anklang bei Sammlern und nicht selten bei Privatpersonen, denn sie sind zerlegbar und einfach zu handhaben.
Kunst als Bindeglied − ein wahrhaftiger Europäer
Die spielerischen Objekte verteilen sich allmählich in die europäische Kunstszene, und Ingo sucht einen ruhigen Sehnsuchtsort als Alterssitz. Die Wahl fällt, wie hätte es auch anders sein können, auf Budapest, wo inzwischen Studienkollegen aus Klausenburg lebten. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin aus den frühen 90-er Jahren Ursula Anna Thull – 2004 hatten sie in Lájoskomáron, umringt von Freunden, geheiratet –wohnte er schon ab 2011 in Budapest. 2013 bezogen sie eine eigene größere Wohnung, und Ingo richtete sich ein eigenes behindertengerechtes Atelier ein. In München residierte inzwischen Tochter Krista im Üblacker-Häusl, man konnte stets zum Besuch „heimkehren“. Die ungarische Metropole wurde für Ingo zum Drehkreuz nach Temeswar und ins Banat, der alten Heimat, nach Siebenbürgen, der zweiten Heimat, und nach Deutschland, dem dritten Sehnsuchtsort mit dem nahen München.
Dr. Ingo Glass – er hatte 1993 in Bukarest mit einer Arbeit über Constantin Brâncuși promoviert – erhielt unzählige Kunstpreise und staatliche Auszeichnungen: den Rumänischen Verdienstorden (2004), das Ungarisches Ritterkreuz (2011), das Bundesverdienstkreuz (2013). Ein wahrhaftiger Europäer aus dem Banat, auf den wir stolz sein können, ja für immer stolz sein müssen.
Die Banater Schwaben haben mit Ingo Glass einen beispielhaften Bekenner zu seinem Volksstamm und einen großartigen Künstler verloren. Wir trauern mit seiner Ehefrau Ursula, den Kindern Krista, Ingmar Arne und Ingrid, seinen Brüdern und der gesamten Familie sowie seinen Künstlerfreunden. Sein geistiges Erbe wollen wir stets pflegen und würdig bewahren. Ingo Glass wird in unseren Erinnerungen weiterleben.
Ich habe einen wertvollen Freund verloren, der in seinem stetigen Kampf um die wahren künstlerischen Werte oft wenig Zeit übrig hatte. Die Kunst hat uns beide zusammengeführt, denn wir glaubten beide an das „Edle und Gute“ im Menschen. Wir haben uns gleichzeitig von der Gegenständlichkeit gelöst und befreit. Doch während ich im stillen Kämmerlein meine Meditationen auf die Leinwand umsetzte, kämpfte er unermüdlich mit wuchtigen Kolossalplastiken um die Aufmerksamkeit in der großen Öffentlichkeit. Jeder Mensch sucht und geht seinen Weg. Und jedem sind glückvolle Stunden zugedacht. Ich glaube, Ingo hatte viele glückliche Stunden und Tage, auch wenn er, wie ich hier darzustellen versucht habe, bis zum Schluss tapfer dafür kämpfen musste. Möge er nunmehr im Frieden des Herrn ruhen!
Seine Werke werden uns überleben und noch lange an ihn und uns erinnern.