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Ilse Hehn - ein Phänomen

Ilse Hehn im Gespräch mit Horst Göbbel. Foto: Edda Probst

„Direkt, radikal und kraftvoll, oft sinnlich, zärtlich und nachdenklich“ resümiert treffend Thomas Zehender, Verleger von danubebooks, in seiner Kurzrezension zum Buch Sandhimmel von Ilse Hehn. Dem können sich die beeindruckten Zuhörer der Lesung von Ilse Hehn am 23. Oktober im Nürnberger Haus der Heimat restlos anschließen. Scheinbar spielerisch, zugleich sehr präzise und durchgehend ausdrucksstark begeisterte sie uns bei der Vorstellung ihrer neueren Bücher „Diese Tage ohne Datum“ (2022) und „Roms Flair in Flagranti“ (2020). Ilse Hehn ist viel gereist, hat viel gesehen, viel gelesen, viel erfahren, viel erlebt. Ihre Lebens-, ihre Reiseerfahrungen, ihre besondere Sichtweise fasst sie in unnachahmliche sprachliche Bilder. Ilse Hehn kann so richtig kreativ Worte, Wortschöpfungen, Metaphern, Wortspiele, Vergleiche, Sachverhalte historischer oder sonstiger Art, Szenen, Abbildungen, Fotos, Collagen, Notate, ihre Prosa, ihre Lyrik in Szene setzen. Förmlich reisetrunken vorwiegend im europäischen, vermehrt dabei im mediterranen Raum, im Osten oder im Westen, auch im Norden oder Süden, in der Eiseskälte nordischer Gebiete (Lappland) oder in der brütenden Hitze des Südens (Ägypten), an antiken Stätten oder an mittelalterlichen Orten, im urbanen oder im ländlichen Raum, überall schafft sie es, durch akribische Information, Details neu zu sehen, zu interpretieren, zu beschreiben, ihnen dynamische Lyrikflügel zu verleihen. Die „stilistische Vielfalt“ in ihrem „Tage ohne Datum“, dieses eigenwillige poetische Reisetagebuch (Franz Heinz) mit ihren dichterischen und fotografischen und zugleich künstlerisch verfremdeten Facetten, die „ironische Brechung“, die zahlreichen „kulturhistorischen Exkurse“ (Herbert Bockel), produktiv generiert in der Pandemiezeit, überzeugt rundum. „Capri also. Vor mir. Teuer. Tatsache. Für mich nicht mehr ortloser Ort, atopischer Topos. Die Insel hat sich in einen grauen Hitzeschleier gewickelt. Nichts als Grau. Eine schreckliche Grisaille, trüb, kläglich. Werde im Schiff eingekeilt von unzähligen Neapolitanern, Neptun schaukelt uns gewaltig, schwierig, die Balance zu halten, übergebe mich fast, nichts mit bella figura …“ Und immer wieder fein eingestreut, lässt Ilse Hehn jeden wissen, wie Sozialismus und Postkommunismus im südosteuropäischen Land ihres Ursprungs tickte bzw. sich anfühlt. Etwa im Abschnitt Landung: „Mein Land kommt als Überraschung von Osten her ins vergessene Licht der Demokratie, runter geht's rauf gehts doch immer runter, der Hofgarten der Politiker frisch gemäht, man zählt die Euros aus dem Westen, kippt Zahlen über falsche Köpfe, ich denke an Menschen, Gespräche, unheroisch, notwendig, senke den Kopf, seh die Baumwurzeln an, vor dem Flughafen ausgeschlagen in Schatten, Spätnachmittag, April.“

Ilse Hehn, die Banater Schriftstellerin und bildende Künstlerin, absolvierte 1964 das Studium an der Fakultät für bildende Kunst der Westuniversität in Temeswar und war danach bis zu ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland 1992 als Gymnasiallehrerin für Kunst und Kunstgeschichte in Mediasch in Siebenbürgen tätig. Sie debütierte 1973 mit einem Gedichtband (Soweit der Weg nach Ninive). Seither hat sie regelmäßig und vielfältig eine große Anzahl von Büchern hauptsächlich in deutschsprachigen Publikationen sowohl Rumäniens als auch ihrer neuen Heimat hier in Deutschland veröffentlicht. Sie lebt heute als Schriftstellerin, bildende Künstlerin und Kunstdozentin in Ulm und veröffentlicht vorwiegend Lyrik und Prosa, wobei ihre Prosa eindeutig starke lyrische Züge aufweist. Ihre Gedichte wurden ins Französische, Englische, Russische, Rumänische, Serbische, Ungarische und Japanische übersetzt. 

Unter ihren zahlreichen Auszeichnungen seien hier nur drei genannt, der Literaturpreis für Lyrik der Künstlergilde Esslingen 2012, der Literaturpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes, Sparte Lyrik 2014 und der Donauschwäbische Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg 2017. Selbstbewusst, spielerisch, aufmerksam, beweglich im Gespräch, kein bisschen unnahbar, locker, ohne jedwelche Verbissenheit, klar in der Diktion, einfühlsam wie ihre Lyrik, mitunter humorvoll – so erfuhren wir Ilse Hehn im Haus der Heimat. Ihre Lesung, ein apartes Geschenk, hat uns in diesen dunklen Zeiten gut getan.     

Danke, Ilse.