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Literatur im regionalen Kontext betrachtet

Dr. Walter Engel. Foto: Archiv BP

Dr. Walter Engel zum 80. Geburtstag - Der Literaturwissenschaftler, Publizist und Kulturwissenschaftler Walter Engel ist allseits bekannt. Aus den Würdigungsartikeln zu seinen runden und halbrunden Geburtstagen gehen seine beruflichen Stationen wie auch die Vielfalt seines Wirkens hervor. Diese können auch in Lexika und auf Internetseiten nachgeschlagen werden. Aus seiner Hand stammen nicht nur Übersichtsdarstellungen, sondern auch pointierte Analysen und einordnende Essays zu grundlegenden Forschungsthemen und zu Autoren, die sich den Banat- und Südostdeutschen zugehörig fühlten. 

Wissenschaftliches und kulturpolitisches Wirken waren im Schaffen des langjährigen Leiters der Düsseldorfer Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus stets eng miteinander verbunden. Die Themen, denen er sich zuwandte, weisen eine beachtliche Spannweite auf. Die repräsentativsten sind in einem beachtlichen Sammelband zusammengefasst: Blickpunkt Banat. Beiträge zur rumäniendeutschen Literatur und Kultur. Studien – Aufsätze – Gespräche – Rezensionen (1968-2020), München 2013 (Banater Bibliothek, Band 11), 566 Seiten. Im Folgenden wollen wir lediglich einen kursorischen Blick auf einige Aspekte seines literaturwissenschaftlichen Werks und die ihm zugrunde liegenden Auffassungen und Methoden werfen.

Quellenarbeit

Walter Engel wandte sich früh wichtiger periodisch erscheinender deutschsprachigen Druckpublikationen zu, für die er Anthologien vorlegte, in denen Texte von hoher literarischer Qualität souverän und unterhaltsam zusammengetragen wurden. 1978 veröffentlichte er gleich zwei Bücher: Von der Heide. Anthologie einer Zeitschrift und Romänische Revue. Monographischer Abriss und Anthologie.

Die Monatsschrift „Romänische Revue“ (1885-1894) behandelte weitgespannt wissenschaftliche, literarische, kulturelle und kulturpolitische Themen und verstand sich als Tribüne der Rumänen des Banats und Siebenbürgens für den deutschen Sprachraum. Durch Übersetzungen aus der rumänischen Literatur sollte die Monatsschrift für kurze Zeit zur wichtigsten Kulturbrücke zum deutschen Sprachraum werden. Später hat er das Thema in mehreren Ausätzen, in deren Mittelpunkt der Herausgeber der Zeitschrift Constantin Diaconivich und der Übersetzer Ludwig Vinzenz Fischer stehen, vertieft.

Dagegen ist die „mit Bildern geschmückte Monatsschrift für deutsche Kultur und Kunst“ „Von der Heide“, die mit Unterbrechungen von 1909 bis 1926 erschienen ist, eine Zeitschrift, die sich schwerpunktmäßig kritisch mit Literatur auseinandersetzte, literarische Werke abdruckte und damit entscheidend zur Entwicklung der banatdeutschen Literatur beitrug. Vor allem die frühen und Kriegsjahrgänge der Zeitschrift stellten auf regionaler Ebene einen entwicklungsgeschichtlichen Wendepunkt dar. Die Zeitschrift initiierte einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs über die Identität der Banater Deutschen.

Zur Einführung in seine Anthologien bietet Engel viel kulturgeschichtliches und literaturwissenschaftliches Grundwissen. Seine Grundlagenrecherche ist breit angelegt. Für seine Darstellung hat er ziemlich alles herangezogen, was vorlag. Er zeigt die zu diskursiven Muster geronnenen Erzählungen auf, die dem Lesepublikum kommuniziert und als kollektives Identifikationsangebot unterbreitet wurden. Gefragt wird auch nach der Rezeption der Zeitschriften oder einzelner Autoren und Texte, danach, wie sich der Textsinn im kollektiven oder individuellen Rezeptionsprozess konstruiert. Daneben geht er auf die Produktionsbedingungen für Literatur, aber auch auf die Lebensbedingungen der einzelnen Leser ein. Das sind alles Fragestellungen, die den Rahmen einer herkömmlichen Literaturgeschichte sprengen und auf eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte hinauslaufen. 

In der langen Dauer angelegt ist seine Dissertation Deutsche Literatur im Banat (1840–1939). Der Beitrag der Kulturzeitschriften zum banatschwäbischen Geistesleben, Heidelberg 1982. Die Darstellung, ein solider Grundstein der regionalen Literaturgeschichtsschreibung, bietet einen Problemaufriss im historischen Überblick. Sie zeichnet die Entwicklungslinien der banatdeutschen Literatur und arbeitet ihre Narrative und literaturgeschichtlichen Merkmale heraus. Als Hauptquelle dienen auch hier Kultur- und Literaturzeitschriften. Zudem wird die umfangreiche Primär- und Sekundärliteratur ausgewertet. Aus Engels Überlegungen ergibt sich die gesamte Problematik der Definition, Standortbestimmung und Besonderheiten der banatdeutschen Literatur bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Er beleuchtet den gesellschaftlichen und kulturpolitischen Kontext, die Beziehungen zu den Literaturen des deutschen Sprachraums wie auch ihr Verhältnis zur eigenen Tradition.

Literaturgeschichtliche Analyse

Engels Darstellungen liegt eine traditionelle hermeneutische Konzeption zugrunde – „die Literatur selbst, der Autor und sein Werk muss im Mittelpunkt der Literatur bleiben.“ Ästhetisch-stilistische Analyse und literaturhistorische Zuordnung einzelner Werke oder des Gesamtwerks einzelner Autoren stehen im Vordergrund. Theoretische Beschreibungsmodelle und Wertungsmaßstäbe hingegen sind nur reflektiert und kritisch zu übernehmen. Er fragt, welche Autor-Intentionen sich hinter einem Text vermuten lassen und greift bei der Erschließung dieser Intention auf Erkenntnisse zurück, die sich aus historisch nachweisbaren biographischen Elementen und dem gefühlten Gesellschaftszustand ergeben. Dabei erweist es sich generell als schwierig, Literatur von ihrem Entstehungskontext, von der Geschichte abzulösen. Die Erzählung ergibt sich letztendlich aus dem Zusammenspiel von Fiktion, Wahrheit und Wirklichkeit. 

Der Literaturwissenschaftler richtet den Blick nicht nur auf die Autoren, sondern auch auf den Empfänger von Literatur, auf den Leser. Damit entfernt er sich zunächst von dem, was sich allein aus dem Text ermitteln lässt, und skizziert den sozialen und kulturellen Kontext der untersuchten literarischen Kommunikationshandlung. Seine oft modellhaften Analysen sind kulturgeschichtlich orientiert, indem er Texte primär als Ausdrucksformen historischer und sozialer Zusammenhänge begreift und nach der gesellschaftlichen Funktion der Literatur und ihrer Rolle in der Identitätsbildung fragt.

Die literarische Region

Walter Engel hat den Begriff der Literatur im regionalen Kontext betrachtet und die regionalen Ausformungen des Literarischen als Prosa, Dichtung, Poesie usw. untersucht. Ziel der wissenschaftlichen Erfassung und Beschreibung der banatdeutschen Literatur ist für Engel die Dokumentation literarischer Zeugnisse auf regionaler Ebene und deren „angemessene Bewahrung und Vermittlung […] als Spiegelung der eigenen Identität“. Sinn der regionalen Literaturgeschichtsschreibung sei es, „die Eigenart eines literarisch-kulturellen Raumes in seinen historischen Entwicklungslinien zu erfassen, eine literarische Produktion und Rezeption, die Komponenten des literarischen Lebens zu beschreiben in organischer Verknüpfung mit den historisch-politischen Entwicklungsbedingungen“.

Mehrere Aufsätze widmen sich den Entwicklungsvoraussetzungen und Merkmalen der literarischen Region Banat. Dies schließt den multikulturellen Kontext und die kulturellen Kontakte der deutschen Bevölkerung zu anderen regionalen Sprachgemeinschaften und ethnischen Gruppen mit ein. Dabei warnt er vor „Modetrends, die eine heile Welt anpreisen“, vorhandene Spannungspotenziale verkennen und Konfliktsituationen völlig ausblenden: „Nicht unsere Wunschvorstellungen von der multikulturellen Harmonie, sondern eine möglichst objektive, auf gesicherten Quellen beruhende Erforschung der realen Situation und historischen Entwicklung in einem Raum mit multikulturellem Gefüge sollte in die Darstellung des Umfelds deutscher Literatur des Banats angemessen einbezogen werden.“ 

Multiethnizität wird von ihm sowohl als Bereicherung als auch als Konfliktpotenzial verstanden. Überlegungen zu den literarischen und kulturellen Berührungspunkten und den gegenseitigen Einwirkungen der Banater Deutschen mit anderen Ethnien (Austausch, Übersetzungen, Literaturkritik) bilden eine zentrale Fragestellung in seinen Publikationen.

In Walter Engels Blickfeld stehen Texte, die in das Schema einer regionalen Literatur passen. Er versucht auf Aussagen zu kommen, die auf mehrere Texte zutreffen, somit strukturelle Gemeinsamkeiten und Entwicklungskonstanten aufzuzeigen. Dafür arbeitet er die Grundstruktur der Erzählsituation in verschiedenen literarischen Gattungen und die Deutungsperspektive der Autoren heraus, die für mehrere Erzähltexte gültig ist. 

Der Kulturraum Banat

Das Banat ist ein multiethnisches Kulturareal, das von der deutschen Minderheit mitgeprägt wurde und dem zeitlichen Wandel unterliegt. Die Region hat in ihrer Entwicklung mehrere alte und neuere Narrative (Ödland und Kulturlandschaft, friedlicher europäischer Vielvölkerraum, aufstrebende Entwicklungs- und Wohlstandsregion, politische Fortschrittslandschaft) hervorgebracht. 

2007 erschien als Ergebnis einer von Walter Engel konzipierten wissenschaftlichen Tagung der repräsentative und multidisziplinär ausgerichtete Sammelband Kulturraum Banat. Thematische Schwerpunkte bilden dabei der multiethnische und europäische Charakter der Region und die kulturellen Wechselwirkungen zwischen den im Banat lebenden Hauptethnien – Deutsche, Rumänen, Ungarn, Serben und Juden – vom beginnenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Ohne die Region ideologisch zu verklären, bezeichnet der Herausgeber den Kulturraum Banat „als beispielhaftes Phänomen für das friedliche Nebeneinander und das kreative Miteinander verschiedener Ethnien in einer überschaubaren Region“. Dabei entwickelte jede Ethnie ihre kulturelle Identität weiter „bei gleichzeitiger Toleranz und Achtung der anderen Kulturen“. Damit wird der regionale Kulturraum in die Nähe dessen gerückt, was man sich mit Vorsicht und Einschränkungen als Modell auch für andere, ähnlich gestrickte europäische Kulturräume vorstellen könnte.

Der Literaturwissenschaftler Engel hat sich den Geschichten zugewandt, die das literarische Leben der Banatdeutschen bestimmten. In faktenbasierten Untersuchungen hat der empirische Forscher neue Teilbereiche der banatdeutschen Literaturgeschichte erschlossen und damit einen bedeutenden Forschungsbeitrag geleistet.

Am 13. November ist Walter Engel achtzig Jahre alt geworden. Mögen uns sein Wissen, seine Kompetenz und sein analytisches Erzähl- und Rednertalent noch lange erhalten bleiben.