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400 Zwergen-Sagen geknackt

Diese Sagen berichten mehr oder weniger verschwommen über einen Brauch, der in Mitteleuropa bis ins frühe Mittelalter lebendig war: Die herangewachsenen Knaben und Mädchen wurden aus dem Elternhaus weggeführt und an einem Ort in der Nähe des Dorfes auf das Leben als Erwachsener vorbereitet. Dazu gehörte das Verrichten von allen möglichen Arbeiten, die weder Kraft noch Übung erforderten: Sie beaufsichtigten die kleinen Kinder. – Sie versorgten alleinstehende alte Menschen. – Sie trugen das Essen zu den auf dem Acker beschäftigten Männern. – Sie brachten Wasser herbei. – Sie sammelten Brennholz und zerkleinerten es. – Sie fütterten das eingestallte Vieh. – Sie schärften den Mühlstein. – Bei Bauarbeiten leisteten sie Handlangerdienste. – Sie jäteten das Unkraut aus dem Korn. – Sie wendeten und harkten das Heu. – Sie schnitten (mit der Sichel) das Getreide. – Sie pflückten die Kirschen. – Sie suchten die verlaufenen Rinder. – Auf den Almen halfen sie der Sennerin beim Buttern und Käsen. – Sie kalfaterten das Schiff. – Sie brachten die nicht mehr gebrauchten Geräte an ihren Platz.

Schließlich absolvierten sie einzeln eine Art soziales Praktikum, zum Beispiel als Dorfhirte, und erhielten bei der Entlassung ein Gewand in roter Farbe. Das gilt für die Sennengehilfen in Tirol genauso wie für die Schiffsjungen von der Ostsee, die als Klabautermänner bekannt sind. Da es praktisch unmöglich ist, dass die Erzähler sich abgesprochen haben, können diese Überlieferungen nicht erfunden sein.

Bis die Sagen aufgezeichnet worden sind, und das bedeutet mehr als tausend Jahre, haben die späteren Erzähler Einzelheiten aus ihrem Alltag auf die Protagonisten übertragen, die den aufmerksamen Zuhörer verblüffen: Sie laden Kartoffel aus einem Wagen beziehungsweise kochen Kartoffeln für die Knechte und Mägde. – Sie sammeln Lumpen für eine Papiermühle. – Bei Hochzeiten schenken sie dem Brautpaar Geld. – Sie erledigen die Schulaufgaben. – Um zu erreichen, dass die fremden Mädchen die Spinnstube nicht schon um elf Uhr verlassen, verstellt ein Bursche die Uhr.

In der Ballade „Die Heinzelmännchen“ von August Kopisch, die von einer Kölner Sage ausgeht (veröffentlicht 1836), erledigen die Protagonisten sämtliche Arbeiten: Für den Zimmermann bauen sie die Häuser, für den Bäcker backen sie das Brot, für den Fleischer schlachten sie das Schwein, für den Schneider nähen sie die Kleider, während die genannten Handwerker sich auf die faule Haut legen – alles maßlos übertrieben. Dann ist die Frau des Schneiders darauf erpicht, die heimlichen Helfer zu sehen, was auch nicht stimmt, weil die Hausleute Bescheid wussten, noch mehr – die Helfer verköstigten.

Nun liegt ein Buch über den Brauch vor, der diesen Erzählungen zugrunde liegt. Sein Verfasser Hans Fink widerspricht der offiziellen Forschung, deren Vertreter die Sagen als Erfindungen abgetan und die geschilderten Dienstleistungen als „Wunschvorstellungen agrarischer Gemeinschaften“ definiert haben.

Die männlichen Protagonisten heißen Zwerge, Heinzelmännchen, Wichtel oder Hollen; regional Aulken, Sgönauken, Hütchen, Lutken, Schrazen, Orgen, Schrätteli. Die weiblichen Protagonisten heißen Zwerginnen, Salige, Wilde Fräulein, Gute Leute, Elfen, Hadachfrauen, Nonnen. Nach dem tatsächlichen oder angeblichen Aufenthaltsort heißen die Protagonisten Unterirdische, Erdmännlein, Seemännlein, Moosmännlein, Bergmännchen beziehungsweise Erdweiblein, Holzweibchen, Buschweibchen, Wasserfrauen, Seejungfrauen, Meerfräulein, Nixen, Moorjungfern. Außerdem gibt es Bezeichnungen, aus denen hervorgeht, wie und wo sie sich nützlich machten: Futtermännchen, Buttermännchen, Dreschmännel, Kasmandl, Sennenzwerg, Kohlenmandl, Stollenmandl beziehungsweise Nachtfräulein (weil die Mädchen in die Spinnstuben kamen).

Schon diese Vielfalt an Namen, meint der Verfasser, hätte die Forscher davor warnen müssen, die überlieferten Geschichten als Erfindungen abzutun. Ebenso die Verbreitung der alten Flurnamen mit Bezug auf die hilfreichen Zwerge. In Frankreich hießen die Höhlen von einem Ende bis zum anderen nach den (jungen) Feen.

Nebenbei sei vermerkt, dass im Erzählgut der Banater Schwaben so gut wie keine Heinzelmännchen anzutreffen sind. Von den 117 Sagen im Sammelband „Märchen, Sagen, Schwänke“ (Kriterion Verlag Bukarest, 1979) enthält nur ein aus Saderlach stammender Text ein spezifisches Motiv: Unsichtbare Helfer machen sich beim Abladen eines Wagens nützlich und tränken das Pferd (S. 149). Die Vorfahren der Saderlacher lebten im Schwarzwald, wo man viel über die hilfreichen Zwerge zu berichten wusste.

Im Banater Bergland stand es nicht besser. In der Sammlung von Alexander Tietz „Wo in den Tälern die Schlote rauchen“ (Literaturverlag Bukarest, 1967) kommen nur zwei Texte mit spezifischen Motiven vor („Die Kohlenmandl“ und „Dir einen Kreuzer – mir einen Kreuzer“). Sie stammen aus der Heimat der Facharbeiter, die von der Wiener Hofkammer für die Montanindustrie in verschiedenen Teilen der Monarchie angeworben wurden – in der Zips, in Tirol, Steiermark, Salzburg und Böhmen.            

 

Hans Fink: Heinzelmännchen im Heuboden. Halbstarke im Dienste der Dorfgemeinschaft. Zum Hintergrund der Sagen über hilfreiche Zwerge und Salige Fräulein. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2022. 290 Seiten. ISBN: 978-3-7562-1104-3. Preis: 9,99 Euro.