„Banater Familienchronik“ heißt es im Untertitel des 2021 im Berliner Anthea Verlag erschienenen Romans „Unter den Akazien“ der in Deutsch-Sanktpeter geborenen Schriftstellerin Magdalena Binder. Die Familienchronik setzt literarische Themen in der Tradition Banater Autoren wie Cătălin Dorian Florescu, Nadine Schneider, Franz Heinz oder Johann Lippet fort. Sie hält historische Ereignisse authentisch fest und schildert in einem Rahmen zwischen der Ansiedlung der Familien Pfaffenrad und Renault 1772 und der Gegenwart in 24 Kapiteln die bewegende Geschichte von fünf Generationen einer Banater Familie in Deutsch-Sanktpeter, Triebswetter, Perjamosch und Großdorf. Im Nachwort nennt die Autorin ihre Hauptfigur Marianne Pfaffenrad, ihre Großmutter, als diejenige, die die Geschichte des Romans weitgehend bestimmt. Aus den Erzählungen ihrer 90-jährigen Mutter hat sie die Ereignisse fiktiv erweitert und fiktional erhöht.
Magdalena Binder, die Gedichte, Prosa und Theaterstücke schreibt, debütierte 1975 in der „Neuen Banater Zeitung“. Sie war Mitglied im Adam-Müller-Guttenbrunn-Literaturkreis und bis zu ihrer Ausreise 1987 unter anderem für das Deutsche Staatstheater Temeswar (DSTT) tätig. In ihrer Familie wurde Theatertradition großgeschrieben: Am DSTT wirkten ihre Schwiegermutter Margot Göttlinger als Schauspielerin, ihr Schwiegervater Gustav Binder als Bühnenbildner, ihr Ehemann Wolfgang Binder als Musiker und ihr Schwager Raimund Binder als Schauspieler und Regisseur. 2003 veröffentlichte Magdalena Binder den biografischen Roman „Abschied für ein Jahr“ über „das ungewöhnliche Schicksal der Margot Göttlinger“.
„Unter den Akazien“ ist ein persönliches Buch, das die Autorin ihrer Großmutter widmet, deren authentische Geschichte atmosphärisch das Leben auf den Banater Dörfern im vorigen Jahrhundert einfängt. Es ist eine Welt, die so lange noch nicht zurückliegt und trotzdem Vergangenheit ist. Mit unerschöpflicher Detailfülle versucht sie, das Dorfleben auch für Jüngere anschaulich zu machen.
Die Geschichte beginnt mit der Auswanderung des aus dem Elsass stammenden Georg Pfaffenrad ins Banat 1772. In Regensburg, wo er die Reise auf einer Ulmer Schachtel antritt, trifft er Maria Forgeron aus Trimbach, die zusammen mit ihrer Schwägerin das gleiche Ziel hat. Georg Pfaffenrad ist Wagenbauer und möchte sich in Großdorf, bei seinem Bruder, niederlassen. Maria will jedoch nach Triebswetter zu ihrem Bruder. Sie überzeugt Georg, nach Triebswetter zu kommen, wo sie später heiraten. Im nächsten Kapitel macht die Geschichte einen Sprung ins Jahr 1898, als Marianne Renault einen Georg Pfaffenrad aus einer Schlosserfamilie aus Triebswetter heiratet und mit ihm nach Deutsch-Sanktpeter zieht. Mit genauen Beschreibungen der Trachten, der Essgewohnheiten und der Ausstattung der Bauernhäuser entführt uns die Autorin geschickt in die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Pfaffenrads bauen ein neues Haus neben der Dorfkirche und dank einer Dreschmaschine erzielt die Familie ein gutes Einkommen. Als aber 1902 der Erstgeborene stirbt, dringt erstmals Leid in die Familie. Diese bekommt jedoch weitere Kinder: Gyuri, Anna, Niklos und später Marie (die Mutter der Autorin). Das Haus füllt sich mit Leben, der Hausherr ist zufrieden und erfreut sich an den blühenden Akazien vor dem Haus: „Der Duft der blühenden Akazien zog am Abend viel betäubender in die Häuser durch die offenen Fenster…“ Die Akazie, Symbol und Metapher der Banater Vergänglichkeit, durchzieht die Geschichte des Romans von Anfang bis zum Ende.
Der nächste Bruch kommt 1914, als die Zeitungen das Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar melden. Alle Männer bis zum 40. Lebensjahr wurden zum Kriegsdienst eingezogen, so auch der 36 Jahre alte Georg Pfaffenrad. Der Krieg hatte begonnen. Nachrichten über Kriegsopfer gelangen ins Dorf. Marianne, die ein weiteres Kind erwartet, fürchtet nach dem Verlust ihres Bruders Jakob, dass auch ihr Mann nie mehr wiederkehrt. Mit dem Kapitel „An der Front“ wechselt die Erzählperspektive und die Kriegserlebnisse von Georg stehen im Mittelpunkt: die Front, der Kampf gegen die Serben, die Feldlazarette – realistische Bilder des Krieges. Die Beschreibungen des Dorflebens wie auch die Kriegsbeschreibungen sind dicht und spielen sich vor den Augen des Lesers wie eine Filmkulisse ab. Man erkennt hier die Theatererfahrung der Autorin, die ihre Geschichte geschickt zu inszenieren vermag.
Binder hat auf 440 Seiten keinen historischen Roman geschrieben, aber sie beschreibt realistisch die Kriegsorte, den Frontverlauf, den Fall der Bomben, das Leid der Soldaten. All diese erschütternden Bilder des Krieges, der Not, des Grauens – Geschehnisse, die gar nicht so lange zurückliegen und sich nach einem Jahrhundert heute so schrecklich wiederholen. Georg bleibt verwundet beim Rückzug durch Serbien zurück, während sein Halbbruder Matthias den Weg nach Hause antritt. Um die Geschichte der Marianne Pfaffenrad reihen sich zahlreiche weitere Geschichten von Familienmitgliedern, die jedoch immer etwas schematisch bleiben und nicht ausführlich dargestellt sind. Ihr Mann bleibt verschollen.
Es kehrt Frieden ein, das Banat wird aufgeteilt und Marianne findet sich im rumänischen Banat wieder. „Den Frieden hatten sich die Männer anders vorgestellt. (…) Was blieb, war Verbitterung, Sinnlosigkeit, Ungerechtigkeit und Wut über den Tod, die Verluste und die Mächtigen, die den Krieg angezettelt hatten. Sie fühlten sich betrogen um die Jahre ohne Familien und die gefallenen Freunde…“, schreibt die Autorin. Aber in der Welt gibt es nicht nur Böses, und so wird die Nachkriegszeit, als Georgs Kinder die Welt für sich erobern, in all ihren Facetten deutlich. Die Tochter Anna, auch Ami genannt, reist nach Amerika zum Geldverdienen und ihr Bruder Gyuri, der nicht zum Militär wollte, wandert ebenfalls aus. Die Ereignisse verdichten sich wieder: Ami kehrt zurück, Niklos heiratet, die Großeltern sterben, Wohlstand kehrt ein. Mit dem erwirtschafteten Geld werden neue Weingärten gekauft. 1930 bekommt die Familie Pfaffenrad Nachwuchs in der dritten Generation: Franzl, Tochter von Niklas und Klara, wird geboren. Auch aus Montreal kommt eine Nachricht über Nachwuchs in der Familie von Gyuri.
Die Wirtschaftskrise der 30er Jahre macht sich bemerkbar, Arbeit und Versorgung werden knapp. Ami wandert daraufhin wieder nach Amerika aus. Die „Zeichen der braunen Gefahr“, so der Titel eines weiteren Kapitels, sind im Dorf erkennbar. Eine Zeit der Unsicherheiten bricht an: „Marianne starrte auf die Zeilen der Zeitung und konnte es nicht fassen. Wieder Krieg? Das ganze wieder mitmachen?“ Die Maschinerie des Todes wird wieder in Gang gesetzt. Die Deutschen aus dem Dorf ziehen in den nächsten Krieg, „eine gewaltige Welle des Nationalbewusstseins ergriff die braven Leute aus diesem vergessenen Dorf“. Die Angst wächst, denn russische Soldaten kommen ins Dorf, sie plündern und die Frauen werden „Opfer der brutalen und gewaltsamen Übernahme der Dörfer“.
Ein Leid folgte dem anderen, denn im Januar 1945 werden viele der deutschen Bewohner des Dorfes nach Russland deportiert, so auch Mariannes Kinder. In klarer Sprache schildert die Autorin in mehreren Kapiteln die Verhältnisse während der Deportation, die Arbeit in den Lagern, die Not und Kälte, die Gesundheitsprobleme der Lagerinsassen. Wie Erlebnisberichte lesen sich die Geschichten über und aus dem Lager. 1947 werden die Deportierten auf den Heimtransport geschickt, aber einige treten die Heimreise zu Fuß an. Hier gelingt Binder eine lebendige Orts- und Umstandsbeschreibung einer Flucht durch verschiedene Länder. Zu Hause wartet das nächste Unheil: die Enteignung. „Neubeginn“ titelt das letzte Kapitel, das die Verhältnisse nach der Heimkehr der Russlanddeportierten schildert, als die Kollektivwirtschaft die Felder, die Weingärten und das Vieh verwaltet. Es herrscht Not und es gibt Aufruhr. Martin, der Mann von Mariannes jüngster Tochter Marie, wird zum Bürgermeister des Dorfes gewählt. Eine Art Aufbruch. Aber diesen Aufbruch erlebt die Hauptperson Marianne nicht mehr, denn „Marianne war gegangen, das Schlosserhaus zerfallen“. Der Roman endet mit dieser Erzählung.
Unvergessliche Eindrücke mehrerer Generationen in ihrer Heimat Banat wurden hier literarisch verdichtet. Die alte Zeit wird nicht glorifiziert, sondern es wird darüber erlebnisaktuell berichtet. Es sind Geschichten, wie wir sie in vielen Banater Familien antreffen. Binder hat mit ihrem biografischen Roman ein Allgemeinschicksal der Banater thematisiert. In breit angelegtem Erzählfluss mit vielen Dialogen, die dem Text einen Schwung geben, hat sie ein schönes Erinnerungsbuch hinterlassen. Da die Familienkonstellationen breit ausgelegt sind, wäre vielleicht eine tabellarische Übersicht am Ende hilfreich gewesen. Hoffentlich findet das Buch viele Leser, um die Vergangenheit des Banats einem breiten Publikum nahezubringen. Denn wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Zukunft nicht bewältigen.
Magdalena Binder: Unter den Akazien. Banater Familienchronik. Roman. Berlin: Anthea Verlag, 2021. 448 Seiten. ISBN 978-3-89998-378-4. Preis: 22,90 Euro