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Eine Stadt von einer seltenen Offenheit - Stadtführer auf den Spuren des jüdischen Temeswar

„Die Alt-Temeswarer haben noch die österreichisch-ungarische Mentalität“, zitiert Getta Neumann den Physiker und Schriftsteller Peter Freund, der 1936 in Temeswar geboren wurde, als Österreich-Ungarn längst Vergangenheit war. Gemeint ist die Denkweise von Solidität, Ordnung, Ehrlichkeit und Respekt, die der jüdische Schriftsteller Joseph Roth in seinem Monumentalwerk „Radetzkymarsch“ so umschrieben hatte: „Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert“.

Getta Neumann, 1949 geboren, ist noch ein Stück jünger als Peter Freund. Sie ist die Tochter des letzten Temeswarer Oberrabbiners Dr. Ernest Neumann und sie hat Temeswar ebenso verlassen wie einst Peter Freund und wie viele, die meisten, der Juden aus Temeswar. Und genau wie die vielen, die meisten, Deutschen, die einst in dieser Stadt gelebt haben. Auch in ihnen lebt das kakanisch geprägte „Alt-Temeswar“ als nostalgische Erinnerung weiter: als Ort des selbstverständlichen Zusammenlebens von Sprachen und Religionen, von Gemeinsamkeiten und Unterschieden – und vor allem als Ort der Toleranz, wo die Devise „leben und leben lassen“ den Alltag bestimmte.

Nostalgische Gefühle sind es aber nicht allein, die Getta Neumann dazu veranlasst haben, auf den Spuren des jüdischen Temeswar zu wandeln. Vielmehr geht es ihr um die Dokumentation der über dreihundertjährigen Geschichte jüdischen Lebens in dieser Stadt in der Form eines „Stadtführers“. Sie lädt ganz explizit zu Spaziergängen ein, zeigt Routen auf, markiert die Objekte in kleinen Plänen. Die Informationen gehen weit über jeden Stadtführer hinaus, führen in die Geschichte und lassen Persönlichkeiten lebendig werden, die das Kultur- und Wirtschaftsleben der Stadt maßgeblich geprägt haben. Im Vordergrund stehen natürlich die Orte und Gebäude, die direkt mit dem Judaismus verbunden sind: die Synagogen, das Gemeindehaus, der Friedhof, das jüdische Gymnasium. Doch in einer Stadt wie Temeswar ist das jüdische Leben nicht immer klar abzugrenzen von dem der deutschen, der ungarischen, der rumänischen, der serbischen Stadtbevölkerung. Je nach den politischen Gegebenheiten wechselten die Juden ihre Muttersprache, nahmen teil am Schul-, Kultur- und Gesellschaftsleben der anderen, pflegten anderseits auch ihren eigenen Zusammenhalt. 

Auf ihrer Spurensuche findet Getta Neumann ein „ethnisch-linguistisch-religiöses Mosaik“ als fruchtbaren Nährboden für eine Geisteshaltung, die das Anderssein als „reziprok befruchtendes Beobachten, Lernen und Nacheifern“ nutzt. Das kakanische Flair von „Klein-Wien“ äußert sich nicht nur in der nacheifernden Architektur von Barock bis Jugendstil, sondern auch in einem „respektlosen Geist von freudiger Ausgelassenheit, … von Vitalität und Kreativität.“ Diesen Geist nimmt sie trotz aller Veränderungen heute noch wahr in der Stadt, die vor gut 30 Jahren die Wende in Rumänien „angezettelt“ hat und deren Bewohner erst kürzlich einen zugewanderten Deutschen zum Bürgermeister gewählt haben.  Deshalb ist das Buch ganz bewusst (auch) als „Stadtführer“ für die Touristen von heute, für die Besucher der künftigen Kulturhauptstadt konzipiert.

Dennoch legt Getta Neumann gleichzeitig eine umfassende Dokumentation jüdischen Lebens in Temeswar vor, das sich bis in die römische Zeit zurückverfolgen lässt. Eine einheitliche Gruppe waren die Juden in der Stadt nie, weder von ihrer Herkunft noch von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Zunächst kamen sephardische, später aschkenasische Juden in die Stadt. Letztere spalteten sich im 19. Jahrhundert wiederum, wie in den meisten europäischen Städten, in Orthodoxe, Neologen und die „Zwischenströmung“ Status-quo ante. Sie alle verteilten sich auf die fünf Temeswarer Gemeinden und nahmen in unterschiedlichem Ausmaß am gesellschaftlichen Leben der Stadt teil. Die Innenstadt war von den integrationsfreudigen, bürgerlichen Neologen geprägt, während in der Fabrikstadt und der Josefstadt starke orthodoxe Gemeinden bestanden. 

Das älteste Zeugnis der Anwesenheit von Juden in der Stadt ist das Grabmal von Azriel Assael aus dem Jahr 1636. Doch auch in Temeswar begann die Blütezeit des Judentums mit dem Toleranzpatent von Joseph II. im Jahr 1792 und dann mit der Gewährung bürgerlicher Rechte in der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie nach 1867. Juden brachten sich auf den Gebieten des Handels, der Wirtschaft und der Kultur in das Stadtleben ein, wurden Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten und Künstler. Als Besonderheit des jüdischen Lebens in Temeswar konstatiert Getta Neumann, dass, trotz vorhandener Turbulenzen, die Bedrohungen der Juden durch Nationalsozialismus und Faschismus diese Stadt wie durch ein Wunder weitgehend verschont haben. Von den Deportationen durch das Horthy-Regime waren nur die Gebiete des Wiener Schiedsspruchs betroffen, die Deportationspläne Antonescus für die Temeswarer Juden wurden (aus welchem Grund auch immer) im letzten Moment gestoppt. Vor den Repressionen der kommunistischen Diktatur – Enteignung von Privatbesitz, Gleichschaltung, politische Verfolgung – waren die Juden in Temeswar freilich ebenso betroffen wie die anderen Volksgruppen. Nach und nach nutzten sie das Schlupfloch zur Auswanderung nach Israel oder in andere Länder und sind nun deshalb auf der ganzen Welt verstreut.

Mit ihrem kurzweiligen „Stadtführer“ gelingt Getta Neumann die Sicherung der letzten Spuren, die man von den Temeswarer Juden findet. Zwar gibt es auch heute noch eine kleine jüdische Gemeinde, doch die Synagogen verfallen und die prachtvollen Stadtpalais, von denen viele einst in jüdischer Hand waren, bröseln vor sich hin. Umso wichtiger, daran zu erinnern, welche „ungeheure Eleganz“ einst in dieser Stadt herrschte. Getta Neumanns Stadtführer ist bereits 2019 in rumänischer Sprache erschienen. Für die von dem profunden Temeswar-Kenner Werner Kremm hervorragend übersetzte deutsche Ausgabe hat sie noch einige Erweiterungen und Bearbeitungen beigesteuert. Ergänzt wird das Buch im Anhang von einem (sicher nicht vollständigen) Personenregister und ein paar traditionellen Rezepten, von denen auch jeder andere Temeswarer so manche zu seinen Traditionen zählen würde. Das weist wieder auf das „Temeswarer Spezifikum“ von Offenheit, Toleranz und ausgewogenem Zusammenleben hin – den Geist, den Getta Neumann mit diesem Stadtspaziergang wieder aufleben lässt. 

Getta Neumann: Auf den Spuren des jüdischen Temeswar. Mehr als ein Stadtführer. Aus dem Rumänischen übersetzt von Werner Kremm. Bonn-Hermannstadt: Schiller-Verlag, 2021. 288 Seiten. ISBN 978-3-946954-92-7. Preis: 17,90 Euro.