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Musik in Lied und Leben - Vor 150 Jahren wurde der Temeswarer Philharmonische Verein gegründet (Folge 3)

Zweisprachige Ankündigung des Konzertes von Gustav Walter in Temeswar (1885)

Zweisprachiges Plakat zur Aufführung des Oratoriums „Paulus“ von Mendelssohn durch den Temeswarer Philharmonischen Verein (1891)

Temeswar bei Nacht, oder: Mitglieder eines Männergesangvereins auf dem Heimweg (kolorierte Postkarte, um 1910) © für sämtliche Illustrationen: Südosteuropäisches Musikarchiv, München

Der Verein im Kontext seiner Zeit

Die Archivdokumente des Temeswarer Philharmonischen Vereins stammen aus den Jahren 1850-1950. Sie widerspiegeln 100 Jahre südosteuropäische Musikgeschichte und Zeitgeschehen.

Die ältesten Musikdokumente wurden in den Jahren 1846/47 verfasst, also in der Zeit, in der die Musikwelt von der letzten Konzertreise eines Franz Liszt durch Südungarn, die rumänischen Fürstentümer und Russland in Staunen versetzt wurde. Die politischen Spannungen, welche den Anbruch eines neuen Zeitalters erahnen ließen, waren selbst in den entlegensten Banater Dörfern zu vernehmen. Das Volk Ungarns war gespalten: Die einen wünschten den Rákoczi-Marsch von Liszt, die anderen den Erlkönig als Zugabe. Während die einen auf revolutionäre Erneuerungen hofften, setzten die anderen auf eine starke kaiserliche Macht in Wien. Die Trennlinien waren aber damals nicht so einfach auszumachen.

In der Zeit des Vormärz entstanden hier die ersten Liedertafeln und Männergesangvereine, mit deren Hilfe die ersten Musikschulen errichtet wurden. Die Musikkultur wollte nicht nur, wie bisher, von der wohlhabenden Klasse gepflegt werden. Es begannen sich die ersten wirtschaftlichen Erfolge in dem unterschätzten und, von Wien aus gesehen, provinziellen Südungarn bemerkbar zu machen. In den Dörfern dieser Region wurden die gestampften Lehmwände vieler Kolonistenhäuser durch regelrechtes Mauerwerk ersetzt. Das Gewerbe begann auch in Temeswar, Werschetz, Arad und Orawitza Fuß zu fassen und die neuen Einwohner wünschten in ihrer Freizeit eine kulturelle Betätigung. So waren die ersten Gesangvereine der dreißiger und vierziger Jahre aus eigenem Antrieb entstanden. Diese Idee konnte mit Hilfe der in Pressburg, Wien, Pest oder Arad ausgebildeten jungen Lehrkräften verwirklicht werden.

Um Herr über die kulturelle Vielfalt der „fremdsprachigen“ Einwohner Südungarns zu werden, entsandte man junge deutsche Lehrkräfte in diese Gebiete. In einigen Jahren musste man mit Erstaunen feststellen, dass diese oft selbst bedeutende Förderer der dort existierenden nationalen Kulturen wurden: Sie harmonisierten die ersten ungarischen, rumänischen und serbischen Volksmelodien und verbreiteten den ersten „philharmonischen“ Gesang. Viele dieser deutschen Lehrer und Musiker schrieben nur mehr ungarische oder serbische Chormusik oder magyarisierten selbstbewusst ihren Namen.

Mit dem österreich-ungarischen Ausgleich des Jahres 1867 änderte sich vieles auch in der Kulturszene Südungarns. Nicht nur die nationalen, sondern auch die deutschen Gesangvereine mussten nun ihre Existenz rechtfertigen. Es kam bereits in den siebziger Jahren zu ersten Spannungen dieser Art im Rahmen des Temeswarer Philharmonischen Vereins. Man stellte sich immer häufiger die Frage: Was heißt nationale, ungarische oder magyarische Kultur? Aus Budapest kamen immer strengere Anweisungen zur Förderung der ungarischen Musik. Wie sollte man damit in einer vielsprachigen Stadt wie Temeswar umgehen? Der politische Einfluss und der Druck aus der ungarischen Hauptstadt auf die kulturellen Belange Südungarns wurde nach 1880 immer stärker.

Der Erste Weltkrieg bedeutete für die meisten Gesangvereine die Einstellung ihrer Aktivitäten. Zahlreiche Sänger fielen auf den Schlachtfeldern und es mussten noch einige Jahre vergehen, ehe die Männergesangvereine ihre Tätigkeit wieder aufnehmen konnten. Die neuen Grenzziehungen im südöstlichen Europa führten gleichzeitig zu neuen kulturellen Hoheiten. Diesmal wurde der deutsche Männergesangverein aber nicht mehr von Wien oder Budapest aus, sondern von Berlin aus politisch instrumentalisiert. Der Temeswarer Philharmonische Verein fand sich in dieser neuen Welt nicht mehr zurecht: Die einzelnen Mitglieder nahmen selbst Abstand zum völkischen Denken jener Zeit, das die meisten deutschen Gesangvereine geprägt hat.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kam der Männergesang in Südosteuropa endgültig zum Erliegen. Nach 1945, mit der Gleichschaltung des ganzen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens durch das kommunistischen Regime, gehörten die südosteuropäischen Gesangvereine bereits der Geschichte an. Sie wurden als reaktionäre Gruppierungen, als Rückstände einer veralteten bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft betrachtet und verboten. Mit dem Jahr 1950 endet auch die Dokumentation des Temeswarer Philharmonischen Vereins.

Das Banat − eine harte Nuss aus politischer Sicht

Die Musikdokumente des Temeswarer Philharmonischen Vereins beziehen sich auf den Raum zwischen Wien und Schwarzem Meer, also auf die Kultur entlang der mittleren und unteren Donau. Das Gebiet des historischen Banats war schon immer, ob man es von Wien, Budapest, Belgrad oder Bukarest aus betrachtet, eine Provinz im wahren Sinne des Wortes. Politik war den vielsprachigen Einwohnern dieser Landschaft fremd, man war viel zu sehr um die tägliche Existenz und um die eigenen kulturellen Interessen bemüht. Vielleicht hat gerade das Fehlen einer politischen Struktur die Grenzziehungen durch die Mitte dieses Gebietes nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusst.

Ungarisch nannte man diese Region „Délmagyarország“, also Südungarn, was mehr als ein geographischer Begriff bedeutete. Diese Region galt sowohl für die Politiker in Wien als auch später für jene in Budapest, Berlin oder Bukarest als eine harte Nuss. Man hat die ethnischen und seit Jahrhunderten bestehenden multikulturellen Strukturen dieses südosteuropäischen Raumes unterschätzt. Die zahlreichen Dokumente des Philharmonischen Vereinsarchivs in Temeswar bestätigen dies.

Treufest Peregrin, der Herausgeber des Banater Liederbuchs, schreibt 1863 in seinem Vorwort, dass es auf der Welt keinen zweiten Ort gibt, wo seit so langer Zeit so viele Völker meist friedlich nebeneinander wohnen, ausgenommen einige Hafenstädte, von wo aus aber die Schiffe die Fremden nach kurzer Zeit wieder in die weite Welt zerstreuen. Kennt man diese Aussage, so kann man auch die Welt um den Temeswarer Philharmonischen Verein besser verstehen.

Ende des 19. Jahrhunderts verfolgte man von Budapest aus eine harte Magyarisierungspolitik gegen die verschiedenen Nationalitäten der ungarischen Reichshälfte der Doppelmonarchie. Auch die Kultur der deutschen Bevölkerung Südungarns befand sich dadurch in Gefahr. Dies beweisen die vielen Zeitungsberichte und Protokolle im Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins. Die Unterschätzung der kulturellen und politischen Belange der Menschen dieser Region war auch einer der Gründe, weshalb man nach dem Ersten Weltkrieg lieber eine Eigenständigkeit als eine weitere ungarische Herrschaft bevorzugte.

Auch mit der politischen und administrativen Wende nach dem Friedensvertrag von Trianon konnte die Bevölkerung der Stadt Temeswar wenig anfangen. Die ehemalige habsburgische Disziplin und Ordnung wurde nun, nach den neuen Grenzziehungen, durch eine andere Mentalität ersetzt, die in die Geschichte als „Balkanismus“ eingegangen ist. Erstaunlich, dass dadurch das Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturen im Großen und Ganzen nicht getrübt wurde. Toleranz spielte im polyglotten Temeswar schon immer eine wichtige Rolle.

Während der Zeit des Nationalsozialismus kam diese Einstellung bei den Bewohnern dieser Region am deutlichsten zum Ausdruck. Selbst die Einstellung gegenüber den jüdischen Mitbürgern war nicht die, welche sich die Berliner Machthaber erhofft hatten. Wieder wurde diese Region von einer Diktatur unterschätzt. Politik wurde weit weg von Pantschowa, Werschetz, Arad und Orawitza gemacht, hier musste man im täglichen Leben mit den allgemeinen Interessen und Sorgen seiner Nachbarn selbst zurechtkommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam diese südosteuropäische Region unter sowjetischen Einfluss. Die Richtung der Kultur wurde nun nicht mehr von Wien, Budapest oder Berlin, sondern von Moskau aus bestimmt. Man sang nicht mehr Die Wacht am Rhein, auch nicht mehr den ungarischen Kölcsey-Himnusz, sondern russische Volkslieder. Liest man die nach dem Zweiten Weltkrieg verfassten Berichte und Protokolle des Philharmonischen Vereins, stellt man staunend fest, mit welcher Naivität man sich den neuen, „progressiven“ Weltanschauungen widersetzte. Noch 1949 verlangten die Mitglieder des Philharmonischen Vereins die Selbständigkeit ihres Chores und das Recht auf Selbstbestimmung. 1944 war der Verein der Ungarischen Volksunion einverleibt worden, die als selbständige Organisation von der neuen rumänischen Regierung anerkannt wurde. Die Einschüchterungsmaßnahmen der Regierung durch Internierung in Arbeitslager und Schauprozesse machten selbst vor den Gesangvereinen nicht halt: Die Chöre wurden von „reaktionären Elementen“ gereinigt, das Programm wurde zensuriert und die Vorstände mussten Fragebögen zur Tätigkeit ihrer Sänger ausfüllen. Staat und Partei bestimmten, welche Chorwerke wann und wo gesungen werden durften. Viele Mitglieder traten aus Angst aus den Chören aus, die noch verbliebenen konnten oder wollten nicht den Untergang ihrer bisherigen Welt begreifen.

Die Einstellung der Mitglieder des Philharmonischen Vereins gegenüber den Machtwechseln und den politischen Einflüssen zwischen 1919 und 1945 kann man anhand der Konzertprogramme deutlich erkennen. Dieselben deutschen, ungarischen, rumänischen, serbischen oder jüdischen Musiker musizierten 1918 noch unter dem österreichischen Doppeladler für „Gott, König und Vaterland“, nach 1919 unter dem Bildnis des rumänischen Königs, 1936 wurde die Bühne mit Hakenkreuzfahnen geschmückt und nach 1945 hing das Portrait Stalins über den Köpfen der Musiker. Selbst die Titel einzelner Kompositionen mussten der jeweiligen politischen Ideologie angepasst werden. Hintereinander finden wir in den Stimmheften des Archivs die verschiedensten Gesänge: Gott erhalte Franz den Kaiser, den Kölcsey-Himnusz, die rumänische Königshymne Trăiască Regele wie auch die kommunistische Internationale.

Das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins widerspiegelt deutlich die politischen Veränderungen im Laufe der Geschichte. Als 1866, ein Jahr vor dem österreich-ungarischen Ausgleich, anlässlich der Fahnenweihe des Werschetzer Männergesangvereins, die Fahnennägel eingeschlagen wurden, sprach ein Sänger den Wunsch aus: „Zum segensreichen Ausgleich des Landes mit Sr. Majestät dem König.“ Die versammelte Masse antwortete begeistert mit stürmischen Hochrufen.

Die Einwohner Temeswars konnten ihre eigenartige politische Einstellung meist erfolgreich durchsetzen. Dies beweisen die meist mehrsprachigen Programme der Konzertveranstaltungen. Es gab kein einziges Sängerfest, bei welchem nicht auch anderssprachige Vereine anwesend waren.

In den Vereinssatzungen wie auch in den Protokollen des 19. Jahrhunderts wurde oft unterstrichen, dass in den Reihen der Mitglieder keine Politik gemacht werden dürfe. Die liberalen Satzungen des 19. Jahrhunderts wurden aber nach 1945 von den kommunistischen Politikern verworfen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verlangte man, dass jeder Sänger durch seine Tätigkeit als Chormitglied das revolutionäre neue Lied unterstütze und somit die neue fortschrittliche Politik fördere. Wer sagt, er mache keine Politik, sei ein Reaktionär und unterstütze die Kulturpolitik der bürgerlichen und kapitalistischen Ausbeutergesellschaft. Mit diesen neuen ideologischen Anschauungen fand sich der Temeswarer Philharmonische Verein, laut zeitgenössischen Berichten, nicht mehr zurecht.

Die Eigenart der sozial-politischen Strukturen dieser Region beeinflusste auch die Zusammensetzung des Temeswarer Philharmonischen Vereins. Im Jahre 1871 galt dieser Verein als der erste Verein Ungarns, der in seiner Mitte Mitglieder ohne ethnische oder religiöse Unterschiede vereinigt hat. 1950 versuchte man mit allen möglichen Mitteln, dieser Einstellung treu zu bleiben, was aber durch den politischen Druck nicht mehr möglich war.