zur Druckansicht

Musik in Lied und Leben - Vor 150 Jahren wurde der Temeswarer Philharmonische Verein gegründet (Teil 2)

Zwei der knapp vier Meter hohen Notenschränke, in denen das Archiv des Philharmonischen Vereins bis 1981 untergebracht war

Das städtische Franz-Josef-Theater war für viele Jahre Sitz des Temeswarer Philharmonischen Vereins. © für sämtliche Illustrationen: Südosteuropäisches Musikarchiv, München

Konzert des Temeswarer Philharmonischen Vereins in Herkulesbad 1882, Plakat

Das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins

Das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins gehört zu den wenigen fast vollständig erhaltenen Musikarchiven Südosteuropas. Es legt nicht nur Zeugnis ab von einer bewegten Zeit europäischer Musikgeschichte, sondern wurde selbst zum Gegenstand politischer Anschauungen und Interessen.

Bereits vom ersten Vereinstag an, das war der 21. Oktober 1871, wurden alle Gespräche, Sitzungen, Konzerte und sämtliche Aktivitäten, die in irgendeiner Form mit dem Vereinsleben in Zusammenhang standen, dokumentiert und für die Zukunft festgehalten. Mit einer peinlichen Genauigkeit wurden die Protokolle der Versammlungen und Besprechungen geführt. Die Sprache, in der diese Protokolle verfasst wurden, war anfangs deutsch, später ungarisch. Von den Protokollregistern sind viele erhalten geblieben.

Die gefährlichste Zeit für dieses Archiv stellten die Jahre 1945-1949 dar. Sämtliche bürgerlichen Vereine Rumäniens mussten ihre Tätigkeit einstellen, alle Schulen und kulturellen Einrichtungen wurden dem Staat unterstellt. Da der letzte Vorsitzende des Philharmonischen Vereins Abtpfarrer Karl Géza Rech war, konnte das ganze Inventar des Vereins auf der Empore der Millenniumskirche in der Temeswarer Fabrikstadt gelagert werden. Paul Wittmann (1900-1985), der letzte Sekretär des Vereins und Kantor der Millenniumskirche, wusste als einziger, was sich in den vier riesigen Schränken verbirgt. Es war die Zeit politischer Verfolgung und Diskriminierung: Ein Teil der deutschen Bevölkerung Temeswars wurde in sowjetische Arbeitslager verschleppt, Geistliche wurden eingesperrt und jedwelche Vereinsaktivität wurde verboten.

Nach 1948 wurde das Archiv noch gefährlicher für jenen, in dessen Besitz es sich befand. Erstens enthielt es Dokumente aus der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, zweitens wurden die Gesangvereine von der kommunistischen Regierung als bürgerlich und deshalb als reaktionär eingestuft. Wenn die Schriften ab 1948 nur mehr mit „Es lebe die Rumänische Volksrepublik“ unterzeichnet wurden, hieß es bis dahin am Ende eines jeden Briefes meist „mit sangesbrüderlichem Gruß.“

Dazu kam in den späteren Jahren eine weitere Gefahr: Sämtliche Dokumente waren in deutscher und ungarischer Sprache verfasst. Die Geschichte des Banats wurde neu beziehungsweise umgeschrieben, diesmal rumänisch. Der Hass richtete sich nicht nur gegen das Deutsche der Nazizeit, sondern auch – trotz der dazwischen liegenden fast drei Jahrzehnte – gegen alles Bürgerliche aus der Zeit Österreich-Ungarns.

Unterbringung in der Millenniumskirche 

Die dritte Gefahr bestand in der rechtlichen Frage der Besitzverhältnisse dieses Archivs. Die staatlichen Behörden beschlagnahmten nach 1945 zahlreiche wertvolle kirchliche Bibliotheken. Dies geschah oft willkürlich, auf Anordnung der Partei, die alles kontrollierte. Geschichtliche Dokumente, wie Matrikelbücher, speziell die Kirchengeschichtsbücher (Historia Domus) sowie die Protokollbücher ehemals wichtiger Vereinigungen, wurden bevorzugt beschlagnahmt. Viele Pfarrer oder Vereinsvorsitzende haben damals diese wichtigen Zeitdokumente aus Angst vernichtet oder durch Vernichtung bestimmter Teile verstümmelt. Beschlagnahmte Bestände kamen in Staatsarchive, wo sie der Öffentlichkeit und der Forschung vorenthalten wurden. Ihr Inhalt wurde bis zum Fall der Diktatur (1989) als „staatsfeindlich“ und „geheim“ eingestuft. Solche Bestände liegen auch heute noch in entlegenen Ecken rumänischer Archive und Bibliotheken.

In den siebziger Jahren mussten in allen Kirchen Rumäniens sämtliche Gegenstände, die älter als 50 Jahre galten, von Experten für nationales Kulturgut (Direcţia de Patrimoniu) untersucht und inventarisiert werden. Dies geschah mit Altären, Gemälden, Statuen, Kelchen, Kruzifixen, Büchern usw. Dabei wurde das Archiv des Philharmonischen Vereins – zum Glück – übersehen.

Beschlagnahmung durch den Staat

Im Jahre 1980 übernahm ich von Kantor Paul Wittmann die Kantorenstelle der Temeswarer Millenniumskirche und damit auch jenes Inventar, von dem nur er allein wusste. Im Herbst jenes Jahres bat ich meinen Vorgänger, mir den Inhalt der hohen Schränke hinter der Wegenstein-Orgel zu zeigen. Mit kleinen verrosteten Schlüsseln öffneten wir die eisernen alten Schlösser der Schränke. Mir bot sich ein schrecklicher Anblick: Auf allen Musikalien lag fingerdick Staub. Die undichten Schränke waren mehr als 30 Jahre lang nicht mehr geöffnet worden. Wittmann zeigte mir das „Fremden-Buch“ des Philharmonischen Vereins mit den Unterschriften von Brahms, Joachim, Wieniawski, die vergoldeten Pokale, die der Verein von Kaiser Franz Joseph I. bekam, sowie die erstaunlich gut erhaltene Fahne aus schwerem Samt und mit Goldfaden genäht.

Eines war mir sofort klar: Falls dieses gesamte Material von den staatlichen Behörden und der berüchtigten Staatssicherheit beschlagnahmt wird, verschwindet damit für immer die Möglichkeit, die Musikgeschichte des Banats zu erforschen und zu verstehen. Nach den Osterfeiertagen des Jahres 1981 geschah das, wovor ich mich fürchtete: Parteifunktionäre, Vertreter der Philharmonie, des Museums und der Stadt beschlagnahmten mit Genehmigung des Pfarrers das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins.

Die Gründe für die Beschlagnahmung dieses Archivs sind vielfältig und kamen erst nach einiger Zeit ans Licht. So gab es damals einen gewissen Druck auf die staatlichen Philharmonien, bedingt durch die Sparmaßnahmen der Regierung: Sämtlich philharmonische Orchester des Landes, die nicht älter als 50 Jahre waren, sollten aufgelöst werden. Und dies führte dazu, dass die Leitungen der Philharmonien begannen, sich mit der Geschichte ihrer Institutionen zu beschäftigen. Selbst von Historikern aus Kronstadt kamen Anfragen zu diesem Thema. Damals gab es im Temeswarer Philharmonischen Chor noch ältere Aushilfen, die parallel auch in Kirchenchören der Stadt sangen und vom Standort des Archivs des Philharmonischen Vereins wussten. Man wollte durch die Erforschung dieses Archivs eine institutionelle Kontinuität vom Philharmonischen Verein zur Temeswarer Philharmonie beweisen, was historisch falsch ist: Die staatliche Philharmonie in Temeswar wurde durch einen Erlass von König Michael I. erst 1947 gegründet. Natürlich führt diese Institution die musikalischen Traditionen des Philharmonischen Vereins fort wie auch jene der Gesellschaft der Musikfreunde aus der Zwischenkriegszeit oder des Deutschen Symphonieorchesters 1939-1944. Aber auch die Musikhistoriographie in der Zeit des Kommunismus wurde „von oben“ diktiert. 

Sicherung und Erforschung des Archivs mit deutscher Hilfe

Der Bestand wurde 1981 zerlegt, teilweise im Banater Museum, teilweise auf dem Dachboden der Philharmonie untergebracht. Einige wichtige Dokumente gingen durch Unachtsamkeit verloren. Zum Glück kam es nicht so, wie man es mir gegenüber 1981 angedeutet hat: Man wolle das ganze Material in einem Bukarester Geheimarchiv unterbringen. Erst nach 1990 wurde, bedingt durch die neuen politischen Verhältnisse, eine Sicherung und Erforschung dieses Archivs möglich. Durch ein vom damaligen deutschen Bundesministerium des Innern finanziertes Projekt – es handelte sich um die Sicherung und Bewahrung von deutschen Kulturgütern in Rumänien – konnten die Dokumente an einem zentralen Ort zusammengetragen, inventarisiert und erforscht werden. 1995 wurde das Archiv des Philharmonischen Vereins in Anwesenheit eines Vertreters des Innenministeriums der Bundesrepublik Deutschland seiner vorläufigen Bestimmung übergeben. Bis zur endgültigen Lagerung der gesamten Dokumentation sollte das Archiv im Banater Museum seinen Platz finden.

Der Wert dieser einzigartigen Dokumentensammlung liegt nicht nur darin, dass sich anhand der Protokolle, Berichte und anderer Dokumente das Vereinsleben dieser Institution rekonstruieren lässt. Die Sammlung enthält darüber hinaus Briefe, Konzertprogramme und Jahresberichte vieler Gesang- und Musikvereine des südosteuropäischen Raums. Durch die beiden Weltkriege und deren Folgen sind viele dieser Vereinsarchive verlorengegangen. Somit stellt das Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins auch einen bedeutenden Fundus für die Erforschung der Musikgeschichte dieser ganzen südosteuropäischen Region dar.

Quelle für  südosteuropäische Musikforschung

Auch für die zukünftige südosteuropäische Kulturforschung ist dieses Archiv besonders interessant, zumal in den meisten südosteuropäischen Kulturzentren solche kompakten Archive wegen der in den letzten 100 Jahren vorherrschenden zentralistischen Systeme nicht mehr vorhanden sind. Die wichtigsten Dokumente wurden nach Wien, Budapest oder Bukarest gebracht. Mit der Errichtung des neuen Archivs des Temeswarer Philharmonischen Vereins konnte das Interesse einer wissenschaftlichen Erforschung dieser europäischen Provinz gesteigert werden.

Für die von mir im Jahre 2005 veröffentlichte Monografie wurden sämtliche Dokumente dieses Archivs erforscht und ausgewertet. Durch die Vielfalt dieser geschichtlichen Zeugnisse ist deren Auswertung auch für die allgemeine Südosteuropaforschung von größter Bedeutung. Es wurde nicht nur auf die musikhistorische Bedeutung des jeweiligen Dokumentes geachtet, sondern auch auf den allgemeinen kulturpolitischen Wert jedes einzelnen Schriftstückes.

Die meisten der Musik- und Gesangvereine, die im Archiv des Temeswarer Philharmonischen Vereins vertreten sind, existieren heute nicht mehr. Auch die Dirigenten, Komponisten und deren Werke sind der Vergessenheit anheimgefallen. Die ethnischen und sozialen Strukturen der beschriebenen südosteuropäischen Orte haben sich durch die beiden Weltkriege und deren Folgen oft grundlegend verändert. Selbst wichtige Orte, wie die Festungsinsel Ada-Kaleh oder die Kronkapelle bei Orschowa, sind heute von der Landkarte verschwunden. Die historische Bedeutung dieses Archivs kann in diesem Sinne nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Erst vor wenigen Jahren ist das letzte Protokollbuch des Temeswarer Philharmonischen Vereins aufgetaucht, das zahlreiche Aufzeichnungen bis 1949 in ungarischer Sprache enthält. Gemacht wurden sie größtenteils von Franz Schmidthauer. Demnach fand am 8. November 1947 die letzte Jahresversammlung statt, bei der unter anderem folgender Vorstand gewählt wurde: der Fabrikstädter Abtpfarrer Karl Géza Rech als Präses, Ferdinand Irsay als Chorleiter, Paul Wittmann und Franz Boscher als dessen Stellvertreter, Franz Schmidthauer als Sekretär usw. Am 16. Februar 1949 machte der Vorstand des Temeswarer Philharmonischen Vereins der Kommandantur der Miliz folgende Mitteilung: „Unterfertigter Temeswarer Philharmonischer Verein bringt Ihnen zur Kenntnis, dass unser Verein seine Tätigkeit unter diesem Namen eingestellt hat und ab sofort als Männerchor des 3. Bezirks im Rahmen der Ungarischen Volksunion Rumäniens, Filiale Temeswar, wirken wird. Wir bitten, unsere Verlautbarung zu Kenntnis zu nehmen. Es lebe die Rumänische Volksrepublik!“

Seit 1995 entstanden mehrere Diplom- oder Doktorarbeiten über den Temeswarer Philharmonische Verein. Bei zahlreichen internationalen musikwissenschaftlichen Symposien wurde darüber berichtet und es kamen unzählige Anfragen aus der ganzen Welt zu einzelnen Komponisten oder Musikinstitutionen, die mit dem Temeswarer Philharmonischen Verein in Verbindung standen. Selbst einzelne Musikwerke, die diesem Verein gewidmet wurden, werden nun wieder der Öffentlichkeit präsentiert. Berichte darüber erschienen in deutscher, rumänischer, ungarischer und serbischer Sprache. Somit werden die Ziele des Temeswarer Philharmonischen Vereins von 1871 auch heute noch erfüllt – wenn auch unter ganz anderen Umständen.