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„Mit Würde verstehen und verändern wir die Welt“

Emil Hurezeanu: Zärtlichkeit, Routine. Gedichte eines Knauserers 1979 – 2019 / Tandrețe, rutină. Poemele unui parcimonios 1979 – 2019. Deutsch / Rumänisch. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Ludwigsburg: Pop Verlag, 2020. 342 Seiten. Reihe Lyrik, Bd. 145. ISBN 978-3-86356-203-8. Preis: 25,50 Euro

Emil Hurezeanu ist kein unbekannter Name. Seit 2015 sind wir es gewohnt, dass über Seine Exzellenz Emil Hurezeanu, den Botschafter Rumäniens in der Bundesrepublik Deutschland, zu verschiedenen Anlässen berichtet wird. Doch mit dem Namen Emil Hurezeanu verbinden viele Menschen, gerade jene, die im kommunistischen Rumänien einen Teil ihres Lebens verbracht haben, viel mehr. In einer Zeit, als die kommunistische Diktatur groteske Formen annahm, als in den 1980er Jahren Rumänien zum Armenhaus Europas wurde, immer mehr Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen sich für die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland entschieden, in der Zeit, als die Westgrenze Rumäniens durch die vielen Grenzflüchtlinge zur blutigsten Grenze Europas wurde, da gab es einen Radiosender, der den Verzweifelten in Rumänien Informationen und Hoffnung zuteilwerden ließ: Freies Europa. Ab 1983 war Emil Hurezeanu einer der Berichterstatter beim Sender Freies Europa in München. Tausende Menschen warteten jeden Abend auf das Kernstück der Sendung Actualitatea românească / Rumänische Aktualität und die schon wohlbekannten Stimmen von Emil Hurezeanu, Neculai Constantin Munteanu, Şerban Orescu, Doru Braia.

Emil Hurezeanu war bereits bekannt in der literarischen Welt Rumäniens, als er 1982 ein Herder-Stipendium der Universität Wien erhielt. Von Wien kehrte er nicht mehr in das kommunistische Land zurück, sondern zog es vor, als Asylant nach München zu gehen, um über den Radiosender Freies Europa auf die Situation in Rumänien aufmerksam zu machen.

Der 1955 in Hermannstadt geborene Emil Hurezeanu ist sehr vielseitig. Bereits als Student publizierte er Gedichte in der Klausenburger Studentenzeitschrift „Echinox“, eine elitäre Kulturzeitschrift, deren Chefredakteur er von 1976 bis 1980 war. Im Jahr 1979 erschien im Dacia Verlag sein erstes Buch, der Gedichtband „Lecţia de anatomie / Die Anatomiestunde“, für den er mit dem Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet wurde.

Was hat Emil Hurezeanu seitdem nicht alles vollbracht. 1983-1994 war er Redakteur und Direktor beim Radiosender Freies Europa in München, 1985 Stipendiat mit einem Sonderprogramm für internationale Beziehungen an der Universität Charlottesville, Virginia USA, 1991 an der Universität Boston, USA. Von 1995-2002 war er Leiter der Rumänischen Redaktion Radio Deutsche Welle Köln, 2002-2011 Korrespondent der Deutschen Welle in Bukarest. Im Jahr 2003 war er persönlicher Berater des rumänischen Ministerpräsidenten. Außerdem kann er eine rege Tätigkeit als Journalist, Gastdozent an mehreren rumänischen Hochschulen, Produzent und Moderator von TV-Sendungen, Herausgeber von Zeitungen und Zeitschriften aufweisen. Und bei allen diesen anspruchsvollen Aufgaben ist Emil Hurezeanu immer auch Schriftsteller geblieben.

Vor kurzem ist ein Band mit seinen Gedichten aus 40 Jahren - zweisprachig, deutsch und rumänisch - erschienen. Das Buch trägt den Titel „Zärtlichkeit, Routine“ und den UntertitelGedichte eines Knauserers 1979 – 2019“. Georg Aescht, Kulturschaffender und Übersetzer, hat die Gedichte ins Deutsche übertragen.

Was verrät der Titel über diesen 342 Seiten starken Lyrikband? Poesie verlangt etwas Zärtlichkeit, doch der Leser sei gewarnt, das ist keine Lyrik zum In-den-Tag-träumen. Ein Knauserer ist der Autor allemal. Die Texte sind extrem verdichtet und geben ihre Geheimnisse nur sparsam frei.

Es ist eine vorwiegend intellektuelle Dichtung eines gebildeten Autors, der in freien, oft verschlüsselten Versen den Leser durch die ganze Kultur- und Kunstgeschichte der Menschheit führt. Noch nie ist mir die Aussage von Novalis „Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein“ so richtig erschienen wie im Falle der Gedichte von Emil Hurezeanu, der seine Leser bei jedem Gedicht herausfordert, Gedanken weiterzuspinnen, zu analysieren, zu entdecken, zu erraten, nachzuschlagen oder zu recherchieren. Und manchmal auch einfach nur die Schönheit der Sprache von Bildern und Metaphern zu genießen. Auf Seite 299 gibt er selbst einen Hinweis, wie er als Dichter wahrgenommen wird: „Ich sei ein guter Dichter, der keine Empfindungen weckt / Sondern nur vorübergehende Neugier.“ Ich würde eher sagen, der permanent Neugier weckt und den aufmerksamen Leser reichlich belohnt.

Das Cover hat Emilian Roşculescu Papi gestaltet. In filigraner Zeichnung mit schwarzem Stift hat er eine Figur auf das weiße Papier skizziert, die in ihrer Haltung dem Doktor Tulp aus Rembrandts „Anatomiestunde“ nicht unähnlich ist. Beide halten in der rechten Hand eine Sezierzange. Es kann seziert werden. Und dass der Herr, der clowneske Züge aufweist, ganze Arbeit leistet, zeigt der Ständer hinter ihm, wo hinter dem fertigen Werk viel zerstückelt, zerknüllt oder gar verbrannt wurde. Schonung ist da nicht zu erwarten. Wer aber, außer dem Clown, darf schonungslos die Wahrheit sagen? Im Gedicht „Nemo“ sagt Hurezeanu: „Ich bin der finale Clown dieser Gefilde“.

Das Buch enthält Gedichte aus drei Etappen. 1979 ist „Lecţia de anatomie /Die Anatomiestunde“ erschienen, der zweite Gedichtband „Primele, ultimele / Die Ersten, die Letzten“ 1994 im Albatros Verlag, Bukarest. In einer dritten Phase von den 1990er Jahren bis 2019 erschienen die Gedichte, die im Buch als „Din periodice / Aus Periodika“ und „Cele mai noi / Die neuesten“ vermerkt sind.

Was ist das für eine Poesie, von der Kritiker sagen, sie habe die Phase einer neuen Welle postmoderner Lyrik in Rumänien eingeleitet? Ich würde sie als tiefgründig, philosophisch, ästhetisch, kulturell, reflektiert und poetologisch ausgefeilt beschreiben. Der Autor verwendet die lyrische Allegorie und geht bis in die tiefsten Tiefen des Körperlichen und Geistigen des Menschen. Er unternimmt mehr oder weniger durch Metaphern verschleierte Streifzüge in die Mythologie, die Literatur, Malerei, Philosophie, Musik, Geschichte und Politik. So sieht sich der Leser mit Zitaten aus der Bibel konfrontiert, gelangt mit etwas Geschick nach Camelot, begegnet Johann Wolfgang Goethe, André Malraux, Thomas Mann, Marcel Proust, Virginia Woolf, James Joyce oder Maler wie Rembrandt, Rubens, Pissarro und darf der Musik von Johann Sebastian Bach lauschen.

Es sind die großen Themen der Literatur von Werden und Vergehen, Liebe, Trennung, Heimat und Exil, die das poetische Universum von Hurezeanu beherrschen. Immer wieder blitzen Ideen aus der Philosophie Martin Heideggers auf, aus dessen Werken die Zeitschrift „Echinox“ schon 1966 in der ersten Nummer eine Übersetzung brachte.

Die Verse Hurezeanus erschließen sich dem Leser oft erst bei einem zweiten Lesen, auch das nicht immer. Manche Verse haben eine eigene Evidenz, jenseits des ins Verstehen Übersetzbare, Verse, die sich in ihr Geheimnis zurückziehen und durch ihre sprachliche Rätselhaftigkeit wirken. Es gibt lyrische Stellen von großer Zartheit und andere wieder, wo der Text ins Epische gleitet. Der Band enthält 87 Gedichte von sehr unterschiedlicher Länge.

Doch nun wollen wir einen näheren Blick auf die Texte werfen.

„Die Anatomiestunde“ ist in drei Teile geteilt: Die Abendwache. Die Nachtwache. DieMorgenwache. Der Titel „Die Anatomiestunde“ führt unweigerlich zu dem berühmten Gemälde „Die Anatomiestunde des Dr. Tulp“ von Rembrandt. 

„Die Abendwache“ ist ein Zyklus von 20 Gedichten, deren Hauptthema der Tod ist. Im Gedicht „Kommunion“ lautet der Endvers: „Der Frühling Leben und Gift“. Der Tod ist im Leben inbegriffen, ist bereits seit der Geburt da. So auch im Gedicht „Körper“, wo es heißt: „Der Stamm atmet und blüht / Den Wurzeln bleibt nur die Verzweiflung“. Im Gedicht „Jugend“ spricht der Dichter von Menschenjahreszeiten. Ein Verweilen gibt es nicht, aber ein Festhalten des Augenblicks in einer Fotografie, überhaupt im Bild, hauptsächlich in der Malerei. So verweist er in „Einer Rothaarigen mit Sommersprossen“ auf den „Maler auf den Jungferninseln“ (wahrscheinlich Camille Pissarro), der die Schönheit im Bild festhalten kann. Die gleiche Idee taucht auch in „Jugendporträt eines Künstlers“ auf.  In „Sommergedicht“ wird eine Landschaft in Siebenbürgen beschrieben, doch schließlich siegt „mein Staunen vor einer Grafik“, die alles gleichzeitig festhalten kann. „Jetzt sind wir Leinwand, Farbe und die schmale Hand./ In einem, sind eins im Lebensraum gemeinsam.“

In dem Gedicht „Imperiale für Kinderchor“ geht es um den Abschied von der Kindheit, der mit Toten im Schnee von Torida symbolisiert wird. Die Ausschnitte aus Salomons „Hohelied der Liebe“ muss der Leser erst erkennen, aber sie verleihen dem Gedicht eine Erhabenheit und Zartheit, die berührt und fasziniert.

Um den Untergang von Würde und Freiheit im Kommunismus zu thematisieren, greift der Autor zu einem ganz raffinierten Mittel, in einem Gedicht ohne Titel, wo es nur heißt: „Malraux ist tot.“ In seinem Werk „La Condition humaine“ schildert der französische Frühexistenzialist menschliche Gefühle wie Angst und Ekel und äußert die Idee, dass Helden Beispiele der Würde menschlicher Existenz und Beweis der Freiheit des Menschen sind. Das verstand die Securitate nicht, aber viele andere. Das war Widerstand durch Kultur.

Hurezeanus Gedichte sparen nicht mit Hinweisen zur Kultur. So heißt es in einem weiteren Gedicht ohne Titel: „Ich mag Vivaldi und Proust“. In „Im Schnitt. Angelesenes Detail“ weist er auf die Wichtigkeit der Bildung hin und lässt den jungen Studenten im Gedicht mit Charlotte Buff durchs Feld laufen, ein klarer Hinweis auf Goethes „Die Leiden des jungen Werther“. Schließlich darf noch die Bauernkantate von Johann Sebastian Bach erklingen.

Das Kernstück ist das Gedicht „Die Anatomiestunde“, in dem das Bild Rembrandts dem Leser vor Augen geführt wird. Die freigelegten Adern sind „Das blaue Netz des schleichenden Verrinnens“.  In einem sehr schönen, berührenden Bild erscheint das Leben wie ein Schiff, auf dem der Mensch umherirrt und nur von dem teilhabend wird, was „zu den Gestaden driftet“. Das kann das ungewisse Aufrauschen von Perlen und Goldfischen sein, aber auch „…der Andere, der an Grenzen richtet?“ Die Meerestiefe erleuchtet das Schiff und führt „zu den alten Häfen, die ewigen Merline“.  Eine schöne Vorstellung am Ende dort anzukommen, wo der Zauberer Merlin zuhause ist, ein Ort wie Camelot, das von Artus als eine Welt der Menschlichkeit, Gleichheit und Harmonie gedacht war.

Der Titel „Die Nachtwache“ geht auf das berühmteste Gemälde Rembrandts zurück. DerZyklusbesteht aus 18 Gedichten, die sich dem Leben, mit all seinen verwirrenden Fragen und Wahrnehmungen von Realität und Fiktion zuwenden. Diese Gedichte werden - zwar getarnt, dennoch erkennbar - zunehmend politischer.

Das Gedicht „Bildnis der Mädchen im Schatten“, das wohl an „Im Schatten junger Mädchenblüten“, der zweite Teil von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ anknüpft, schildert die verwirrende Zeit des Heranwachsens, wobei der Name Virginia ein Hinweis auf Virginia Woolf ist, die eine dramatische Kindheit und Jugend durchlebt hat. In „Urbis Pictura“ werden die Bilder zweier Städte nebeneinandergestellt, Venedig und die zweite unverkennbar in Siebenbürgen. Dazu sagt der Autor: „Du hast die Wahl zwischen Denken und Traum“. Da stellt sich die Frage, im Land bleiben oder gehen. In „Alter italienischer Kupferstich“ sagt der Dichter: „Mit zitternder Hand kann ich noch schwarze Rahmen malen / Um eine Landschaft.“  Das ist die Erkenntnis von Endzeit.

Doch es gibt auch viele Liebesgedichte in diesem Zyklus, meistens mit einer Inkursion in die Kultur wie in „Interieur mit Liebe“, das sich auf ein Bild von Peter Paul Rubens - „Dianas Heimkehr von der Jagd“ - bezieht, und die Liebe als Spiel von Begehren und Jagen thematisiert. Im „Liebesgedicht I“ findet eine Umkehr des Motivs aus dem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oskar Wilde statt. Nicht das Bild altert, sondern die Besucherin im Museum. „Wo du doch alle Falten von den Leinwänden auf dich vereinst / von flämischen Kindern, von Frauen…“ Der Untergang der Werte in der Diktatur wird sehr subtil thematisiert in Gedichten wie „Nemo“, wo der Poet auf Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“ anspielt, sowie in „Das homerische Meer“, in dem es heißt, Homer war blind und sah durch die Sprache, doch „Der Tölpel brauchte zum Sehen keine Sprache“. In einem Gedicht ohne Titel schreibt der Autor: „Der Schnee bedeckt Museen“. In „Augapfelweiß“ wird von falschem Schnee in den Rohrleitungen gesprochen. Einen Ausweg gibt es durch Flucht in die Kultur. „Es bleibt jedoch die Weisheit der Theaterbühne“, doch manchmal bleibt nur das Verlassen der Heimat: „Was bleibt, was wirklich bleibt, das ist der letzte Blick.“ Noch drastischer wird die Diktatur in „Mineralien Elegien“ geschildert, wenn es heißt: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer bringt mich um, wer hat mich in der Hand?“.

Der Zyklus „Die Morgenwache“ besteht aus neun Gedichten, in denen die Kritik an den Zuständen im Land transparenter wird. Im Gedicht „Orion“ kommt ein 23-jähriger Jüngling vor, der sich alt und krank fühlt in einem ziellosen Land, ähnlich wie Orion aus der Mythologie, der blind gegen Osten wandert. „Oho, dort wo noch Schiffe schwimmen / Ohne Masten…“.  Dreimal setzt der Poet „Eingeschlagen“ an den Anfang je einer Zeile. Das Land ist krank und liegt in Scherben. Rettung erhofft sich der Autor von der „Schülerschrift“. Es sind die Jugendlichen, die Revolutionen anstoßen. In „Selbstrequiem“ ist die Rede von stummen Opfern, einem Henker und einem Klavier. Die Kunst hat die Aufgabe, Wahrheiten hinauszuschreien. „Doch das Klavier – diese schuldigen Augen / Gnadenlos vervielfältigt im atonischen Blick / Wollen die Beichte durchdringen / das Schweigen des Wartens.“ In einem Gedicht ohne Titel nimmt Hurezeanu Bezug auf Günther Grass mit seinem Roman „Örtlich betäubt“. Günther Grass hat im Jahr 1969 Kronstadt besucht und diesen Roman vorgestellt. In Bukarest durfte er die geplante Ausstellung nicht durchführen, da unter den Autoren Schriftsteller dabei waren, die aus der DDR in den Westen geflüchtet waren.

Die Freiheit ist ein wichtiges Thema, das immer wieder subtil in die Gedichte eingebaut ist. In einem weiteren Gedicht ohne Titel kommt die Aussage vor: „Die Hemden der für Freiheit gestorbenen Männer / Wahren die Form des menschlichen Glücks.“ In „Politisches Sommergedicht“ heißt es: „Aus den von Gefangenen geschaufelten Gräben / Sei das Flugzeug im Flug keine Metapher.“

Der Zyklus endet mit dem Gedicht „Die Anatomiestunde des Doktor Barnard“, das Gegenstück zur Anatomiestunde des Doktor Tulp. 1967 hat Dr. Christian Barnard die erste Herztransplantation durchgeführt, damals ein Wunder der Medizin. Dennoch ist der Tod unausweichlich. „Du wartest die Auferstehung der Toten / Wir aber erstarren wir aber erstarren.“  Wie weit aber darf der Mensch in die Schöpfung eingreifen? Der Autor stellt bereits in den 1970er Jahren das Problem der Verantwortung der Wissenschaft vor dem Menschlichen: „weh meinem Herzen weh meinem Herzen / ich sehe mein Herz jetzt fällt es mir sehr schwer / das wohltemperierte Klavier zu verstehen.“

Der Gedichtband „Die Ersten, die Letzten“ ist 15 Jahre nach dem ersten Band erschienen.

„Die Ersten“, obwohl vor der „Anatomiestunde“ geschrieben, weisen oft einen freieren politischen Charakter auf, der Grund, warum sie in der Zeit des Kommunismus nicht publiziert werden konnten. Es sind 22 Gedichte, die ein Bild des Landes und Europas zeichnen, die Kritik an der Diktatur wird mehr oder weniger verhüllt ausgesprochen. In einem Gedicht ohne Titel heißt es: „Denn die Geschichte erkennen müssen auch wir.“, und in einem nächsten spricht der Poet von einem „Europa umtost von Winden“ und von langen Sandbänken als „südliche Negation der Mauern.“ Eines der bedeutendsten Gedichte in diesem Zyklus ist „Die gewonnene Generation“, wo es heißt: „Wo die Jugend schweigt ist Ersticken / In der Jugend ist es gut reden.“ Als Aufforderung zum Handeln können folgende Verse verstanden werden: „Unsere Entdeckung…/ Aber gnadenlos muss sie sein gegenüber der Einzelheit welche tötet.“ Etwas hoffnungsvoller ist der Ton in folgenden Versen: „Nur gut dass wir jung sind und noch etwas lesen können. / Auch noch etwas machen wenn wir können.“  Doch gleich darauf sagt der Dichter: „Aber das Herz / Das sich dem Wirklichen nicht verschließen kann ohne zu brechen?“

Hurezeanu verzichtet auch hier keineswegs auf den dauernden Dialog mit der Kunst, so erwähnt er ein Gemälde des niederländischen Malers Gerard ter Borch (1765) mit dem Titel L`instruction paternelle, in welchem ein Vater etwas erklärt. Es geht dem Dichter um die Angst vor der älteren Generation, die an der Macht ist, Angst, die man ablegen muss. Und weiter heißt es: „Es geht auch um Würde. / Mit Würde verstehen und verändern wir die Welt.“  Auch der Alltag und die Routine finden ihren Platz in Hurezeanus Gedichten. In „Die Frau in den Dreißigern“ heißt es: „Mit deinen Jeans durchgewetzt von so vielen Strapazen“. Auch von „langen Prozessionszügen des Ehelebens“ ist die Rede. In einem Gedicht ohne Titel wird auf das Verlorengehen des Wissensdurstes hingewiesen. Was aber bleibt, ist die Routine des Lebens, das „Untergeschoß“, geschwätzige Cousinen des Todes.

Vorwiegend bleibt aber die Kritik an der Diktatur. In „Gemeinschaftsliebesgedicht“ sagt der Autor: „Ganz waren an uns noch Geist und Literatur. / Das Herz hatten sie uns verödet in einer Zeremonie“. In „Tod auf dem Lande“ tritt eine Bäuerin auf, die „hinter ihrer Stirn das große Weltall und die Landwirtschaft“ hat. Die Enteignung der Bauern bleibt ein schlimmes Kapitel kommunistischer Gräueltaten. So wird die Trauerklage für den verstorbenen Ehemann „Ein Remake jenes Dahinlebens ohne Herrgott“, eine Anspielung auf den atheistischen Staat, in dem Religion und Kirche verpönt waren. In „Liebesgedicht“ werden die prekären Lebensbedingungen im Land angesprochen: „Wir trafen uns manchmal sommers oder winters / Wenn die Heizkörper funktionierten.“

Um Fragen des Seins drehen sich Gedichte wie „Stillleben“ und „Lavretzky Point“. Im ersten kommt der Vers vor: „Geworfen sind wir alle nun“, der auf Heideggers Idee des Menschen als geworfener Entwurf hindeutet. Auch Lavretzky, der Protagonist in Iwan Turgenjews Roman „Ein Adelsnest“, ist so ein ins Leben Geworfener, dem es nicht recht gelingt, das Glück zu finden.

Die siebenbürgische Heimat und deren Verlassen kommt in mehreren Gedichten vor. In „Hunsrück“ wird die Erinnerung der alten Straße in Hermannstadt zur Obsession. Der finale Satz „Und ich mache mich auf“ ist ein direkter Hinweis auf das Verlassen der Heimatstadt. Das Gedicht „Diese einzigartige Erfahrung“ ist eine Gedankenreise in die siebenbürgische Heimat. „Wie nur zwischen diesen Türmen / und in den großen Wäldern rundherum / Zu denen eines Sommermorgens mein Gedächtnis auf dem Fahrrad glitt“. Jener, der die Heimat verlassen hat, weiß, dass er sie verliert. Trost findet er in der Kunst: „Doch ewig, einzigartig wird sein / nur die Erfahrung des Gedichts.“

„Die Letzten“ ist ein Zyklus von neun Gedichten, die von Exil und Sehnsucht nach der Heimat geprägt sind.

Sehr berührend und geradezu erschütternd klingen die Verse aus dem Gedicht „Abwesenheitserklärung“. Es ist das Gedicht, das Emil Hurezeanu, noch Stipendiat in Wien, an Virgil Ierunca, an den Sender Freies Europa in Paris schickte. Darin erklärt er in Versen, die wie eine Meditation klingen, die Gründe, warum er nicht mehr in das kommunistische Rumänien zurückkehren kann.

Das Motto, dem Matthäusevangelium entnommen, schildert die Situation in Rumänien. „Ein jegliches Reich, so es mit sich selbst uneins wird, das wird wüst; und jegliche Stadt oder Haus, so es mit sich selbst uneins wird, kann`s nicht bestehen.“

Der Autor wendet sich an ein fiktives Du, das aufgefordert wird, sich zu erinnern, an die Bewachung durch Milizmänner und Milizfrauen, an die Träume aus der Kindheit des Proletariats, an die verbotene Religion und die zerstörten Kirchen. „Weißt du noch von Paulus, Johannes, Lukas und Matthäus? / Sie sind nicht mehr. / Ein Verbannungslied ist alles, was sie sind.“ Er übt Kritik an den Nachkommen, die „mit rotgeschminkten Lippen / Und Lockenwickler im Haar Lobgesänge / auf die Katastrophe anstimmen“. Kritisch wird auch der Literaturkreis „Flacăra“ bewertet, „…wo Nuancen des Verbots / am eigenen Leib durchexerziert wurden“. Kritisiert werden insbesondere die Kulturschaffenden, „Die sich gegenseitig umbringen in der eigenen Mutter / Wobei mit der roten Fahne gewedelt / und Trauer getragen wurde“. Es werden eine Reihe von Kultureinrichtungen aufgezählt, die Hoffnung geben: „Denn Leben wird unter Menschen erklärt / die lesen und einander zuhören.“ Das Gedicht endet mit einer wunderbaren Metapher. Ein lesender Mann in der Bahn fährt durch einen Tunnel und hat bei der Ausfahrt den Blick noch immer im Buch. Der Autor schreibt: „Ich habe begriffen, es gibt immer / Selbst in tiefster Nacht / Jemanden, der wissen will / um Zeugnis abzulegen.“

Das Gedicht „Das Kriterium der Ubiquität“ widmet der Autor Mircea Ivănescu, einem großen Kulturschaffenden, mit dem er viele Telefongespräche führte, was zusehends schwieriger wurde aus dem Ausland. Ein Trost blieb, denn der Autor ist der Ansicht, das Schreiben macht Menschen ubiquitär, also allgegenwärtig.

Die Abwesenheit der Heimat quittiert der Autor mit den Erinnerungen daran, so in „Addenda zu nichts“, wo eine Fahrt mit der Straßenbahn in Hermannstadt erinnert wird, oder in „Ein Traum von der jenseitigen Welt“, in welchem die Kindheit in Hermannstadt heraufbeschworen wird. Es sind „Jene bitteren Gedanken, / die den Träumen des Vaterlandskrüppels ähnelten…“. In „Dona Fugata“ fragt der Poet: „Bist du jemand vor oder nach dem Exil?“ Er findet auch die Antwort für einen Heimatlosen. „Du bist irritation forever – wie geschrieben stand“.  „Gedicht mit Brodsky“ widmet Hurezeanu dem Nobelpreisträger Joseph Brodsky, der aus seiner Heimat Russland ins Exil in die USA gehen musste. „Um aber ein Leben zu vergessen – und jetzt zitiere ich den Dichter- / Braucht ein Mann mindestens noch ein Leben“

Der Zyklus „Aus Periodika“ besteht aus zwei Gedichten.

Das erste, „Selbstporträt“, beschreibt das Leben in der Diktatur aus der Erinnerung heraus. Wenn das Leben zur Winterstarre wird, und „wenn nichts mehr zu machen ist“, wählt er „einen besseren Weg nach vorn ins Unglück“. Für jeden, der seine Heimat, das Vertraute verlässt, ist das ein Sprung ins Ungewisse. „Er hat keine Ahnung von der Entwicklung“. Schmerzlich sind die Verdächtigungen, wenn man aus einer Diktatur flieht, weil man die Lüge, die Überwachung und Bespitzelung nicht mehr erträgt, und dann selbst beschuldigt wird. „Stehst du auf der Seite der Affen oder der Engel?“ Er antwortet mit den Worten Jesu (Lukas 24,38), als die Jünger ihn nach der Auferstehung nicht erkennen: „Wieso seid ihr verstört / Und wieso kommen / Solche Gedanken auf / In euren Herzen?“ Im Finale werden die Gründe zu einer so tiefgreifenden Entscheidung aufgezählt: die erstarrte Kindheit, die Unzufriedenheit des Jugendlichen, „Er ist nicht zufrieden, er ist nicht glücklich / Sondern ständig umgeben von Schatten“. Er berichtet von den Todesopfern der Diktatur: „Männer, die ins Grab gesenkt worden sind“. Es bleibt nur die Flucht, „die Witterung des Öltankers“.

Das zweite Gedicht mit dem Titel „Selbst wenn ihr sterbt, werdet ihr leben“ ist drei Künstlern gewidmet: Jacqueline du Pré, Ginger Rogers und Joseph Brodsky. Es geht um eine Lesung über Triest im Jahr 1996, das Todesjahr von Joseph Brodsky, im historischen Astra-Saal in Hermannstadt. Es ist der Saal, in dem die Securitate das Bild des Kaisers übertünchen ließ, um die Geschichte Rumäniens auszulöschen. Damit begann ein Untergang der Kultur, eine Parallele zum eben erfahrenen und erinnerten Tod von drei Kulturgrößen. Die Lesung will aber die Geschichte aus der Versenkung holen, durch den Vergleich Siebenbürgen-Triest, die bis 1918 Teil des Habsburgischen Reichs waren, und durch ihre ethnische Vielfalt auch weiterhin Orte des Zusammentreffens von Kulturen, Sprachen und Religionen blieben. Als eine der literarischen Hauptstädte bekannt, zog Triest schon immer Schriftsteller und Literaten an, so werden Svevo (Ettore Schmitz), Saba, Joyce und Julius Kugy erwähnt. Von Kugy, dem Erschließer der Jurischen Alpen und Jurist, behauptet der Autor geradezu, er hätte seine eigene Kindheit geschildert, so ähnlich seien sich die beiden Städte, Hermannstadt und Triest, wobei er dann sehr ironisch bis zum Sarkasmus alles aufzählt, was im Kommunismus aus den Bildungsstätten gemacht wurde. „Und dann sie, selbst in Hermannstadt, wie in Triest, / mit Zwillingsseelen: / Deutsch und walachisch, von Merkur eher überschattet denn von Apollo. / Aber mit Gemüseläden, / beachtlicher als Kammerkonzerte. / Antiquariaten, überquellend vor Schafskäse / Und einem Kleinhirn gleich einem Dickdarm.“

Der Autor erwähnt einen Boxkampf mit Henry Maske unter dem Motto „Power and Glory“. Es dürfte der Abschiedsboxkampf von Henry Maske am 23. November 1996 in München gewesen sein, den er gegen Virgil Hill verloren hat. In dieser Niederlage vereint der Dichter allen Verlust in der Kunst und Kultur, symbolisiert in den drei erwähnten Toten, in der Arie „Amore perduto“ gesungen von José Carreras. „Das war gleichsam ihr Requiem / Der angespannten Muskeln meiner verlassenen Städte“, sagt der Dichter. Er setzt sich zum Ziel, Kultur zurückzubringen, „das oberste Ziel der Klebstoffschnüffler im Himmel “, die Obdachlosen, meist Kinder und Jugendliche, die in der Diktatur auf den Straßen starben.

„Cele mai noi / Die neuesten“ sind die sieben aktuellsten Gedichte. Sie werfen einen kritischen Blick auf die Welt mit all ihren aktuellen Problemen von einer alternden Gesellschaft, Globalisierung, politischen Spannungen, Krieg, Terror und Migration.

In „Frau über 30“ stellt sich der Dichter die Frage, was bleibt im Alter von den Jugendträumen? Zärtlichkeit, Routine oder gar Zynismus und Gleichgültigkeit. Alles ist vergänglich, die Grundidee, welche das ganze Werk Hurezeanus durchzieht, wird noch einmal durchdekliniert. Die bewunderten Ballerinen Gina Patrichi und Ana Pawlowa sind tot,  Clawdia Chauchat, die verführende Heldin aus Thomas Manns „Zauberberg“, ist längst durch die Erfahrungen in der realen Welt entzaubert. Zu diesen Erfahrungen zählen so tragische wie der Verrat an dem großen Philosophen Constantin Noica, der im März 1959 zusammen mit anderen Geistesgrößen ins Gefängnis geworfen wurde. Aber auch aktuelle schreckliche Taten werden erwähnt, so der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt durch den islamistischen Terrorist Anis Amri am 19. Dezember 2016.

Die Idee, dass verpasstes Leben nicht nachgeholt werden kann, wird durch „Lotte in Weimar“ von Thomas Mann wiedergegeben. Die alternde Charlotte Buff trifft in Weimar den berühmten alten Goethe, aber ein Zurückspulen der Zeit ist nicht möglich. Als Fazit sagt der Autor: „Ich habe analog gelebt, in der Diktatur und in der Mitte des Universums.“

In „Städte und Bewohner“ erfolgt ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert, angeregt durch ein Buch mit dem Titel „Capitals of the World“, 1902 verlegt in den USA, im Antiquariat aufgespürt. Das Buch führt in die Zeit, als Bukarest noch Klein-Paris war, in Sulina sich die Europäische Donaukommission befand, die Königreiche in Europa noch stabil waren. Die rumänische Königin Carmen Sylva mit ihrer Prunksucht wird erwähnt, das Dreirad, das damals modern war, aber auch der drohende Erste Weltkrieg. „In Berlin habe man, lesen wir, stets das Gefühl, / Es werde gleich ein Zug oder ein Regiment Soldaten / Unter den Linden auftauchen…“ Marx wird erwähnt, dessen Ideen begeistert aufgenommen wurden. Es ist eine Welt, „Kohärent und feindselig durch die absurde Ewigkeit des Königtums / Die Bedrohung der falschen gesellschaftlichen Veränderung / Den Kochbazillus und die bosniakischen Sozialrevolutionäre. / Und dennoch dem Zufall so wenig gewachsen. / Nämlich dem Bärtchen des verkrachten Postkartenmalers.“ Das Jahrhundert mit zwei Weltkriegen und den nachfolgenden Katastrophen kann Linderung nur im Aufschreiben und Aufarbeiten finden.

„Die Ankunft des Alters auf dem Bahnhof La Ciotat“ führt den Leser in die Zeit des Stummfilms und in die französische Stadt, an den Bahnhof, wo die Brüder Lumière 1895 einen der ersten Filme drehten. Im Gedicht geht es um den Film „Eternal Youth“ von Paolo Serrentino, in dem der Verfall des Körpers im Alter thematisiert wird, der aber noch mehr preisgibt, wie die Angst in den Augen des jungen Zeitungsverkäufers. Mit dem Thema Angst greift der Autor wieder eine Idee von Heidegger auf, der das „Erkenne dich selbst“ durch den Aufruf „Habe Mut zur Angst“ ersetzt, weil er der Meinung ist, dass der Mensch, der mit der Angst, dem Unheimlichen konfrontiert wird, Wege zur Freiheit sucht. In diesem Kontext werden I.C. Brătianu und Mihail Kogălniceanu genannt, die 1878 beim Berliner Kongress die Anerkennung der Unabhängigkeit des rumänischen Staates erzielten, so auch die Balkankriege, die aus dem Drang nach Freiheit geführt wurden, oder Königin Maria von Rumänien, die Soldaten betreut, die für die Einheit und Freiheit Rumäniens kämpfen. 

Im Gedicht „Das Vermächtnis des Rumänisten“ wird der Rumänist Klaus Heitmann vorgestellt, der 1989 an einer Gedenkfeier für den Dichter Mihai Eminescu teilnimmt. Der Rumänist zitiert Fontane, der vom Glück des „Schreiben, lesen und Kaffee trinken“ schreibt. Angesichts der Situation im Lande, heißt es im Gedicht: „Es gibt jedoch eine Art rumänische Unruhe / Die Dr. Heitmann / Bestimmt gekannt und gemieden hat“. Für den Autor ist diese eingeforderte Ruhe unerträglich, denn es heißt weiter im Gedicht: „Wir empören uns selten, aber denkwürdig.“ Das ist durch die blutigste Revolution im Europa des Jahres 1989 geschehen. Das Gedicht „Herbst, du Grau in Grau, ich sah dich kommen“ nimmt den Leser mit in die Zeit, da der Autor aus der Position des Botschafters die Geschichte betrachtet, in Berlin, wo sich Albert Einstein und Max Planck trafen, um eine neue Zeit zu berechnen, aber auch eine Mauer gebaut wurde, und Menschen durch „die fatale Schleuse“ in die Freiheit zu gelangen versuchten, warum es ein Museum gibt, das Tränenpalast heißt. Und die Tränen nehmen kein Ende, die syrischen Flüchtlinge sind bittere Aktualität.

Der Autor beobachtet den russischen Botschafter Grau in Grau, der nach sieben Jahren Dienst zurückgerufen wird, und analysiert dabei die rumänisch-russischen Beziehungen, die nach jahrelanger Okkupation und der Befreiung genannten Besetzung Rumäniens nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von Vertrauen geprägt sein können. Angesichts dieses Streifzugs durch die Geschichte schreibt der Autor: „Wie klein die Welt, wie groß das Leid, wie imperativ die Geschichte doch ist!“

Bei einem Flug „Über der auf Erden und aus dem Äther / Dermaßen gequälten Stadt“ denkt der Autor nach über das Sein. Unweigerlich kommt er zu dem Werk des Philosophen zurück, das schon seine Jugendarbeiten beeinflusst hat, Martin Heideggers Werk „Sein und Zeit“. Nach Heidegger ist das Sein nur in seiner Zeitlichkeit zu verstehen und in der Situation des Menschen, der in die Welt geworfen wird und als unfertiges Wesen (als Entwurf) seinen Weg finden muss. Dabei ist alles im Bezug zu einem Ganzen, so wie man vielleicht Geschichte auch nur von einem Flugzeug aus, das über der Erde schwebt, begreifen kann.

Hurezeanu erwähnt „Zorn und Zeit“ von Peter Sloterdijk, ein Werk, das 2006 erschienen ist, und den Zorn thematisiert, dessen Folgen Gewalt und Aggression sind, die großen Probleme unserer Zeit. „Vor dem Zerschellen des Bildes auf der Erde -   / Dort hat man nur noch die Chance der Geschichte. / Sein und Zeit oder Zorn und Zeit.“    

„Salut d`amour“ ist eine Hommage an das Gedicht, das bleibt, wenn der Dichter längst tot ist. Der Autor spricht über den Dichter W.S. Merwin aus Hawaii, der ein Zeichen machte „Für den Tag im Kalender, an dem ich sterben werde.“ Darin zeichnet sich eine weitere Idee von Heidegger ab, der sagt, der Mensch ist dauernd mit der Möglichkeit konfrontiert, die uns immer schon bevorsteht, auch mit dem Tod. Das Gedicht, verbreitet in vielen Sprachen und unter vielen Menschen, stirbt nicht, es verleiht auch dem Dichter Wiedergeburt durch „…Lesen / Achtsamkeit / und zeitweiliges Gedenken“.

Das letzte Gedicht trägt den Titel „Am Anfang vom Ende“ und wiedergibt ein aktuelles Bild unserer Welt, eine Welt in Aufruhr, voller Zorn und Gewalt. Es ist Sommer, aber die erwartete Ernte ist die von „unförmigen Tomaten“ und „hässlichen Eierfrüchten“. Wenn von „löchrigem Spleen“ und „vorstehender Prostata“ die Rede ist, deutet das auf Aggressivität hin. An den sozialen Frieden glauben nur mehr die Paranoiker. Die Unruhen in Nordafrika wehen bis in die Zimmer der Politiker in Berlin und zeichnen sich ab in den Bildern „zügelloser Scheichs“ und endloser Migrationswellen. Die Waldbühne in Berlin wird zum Symbol für die Menschen in ganz Europa, die „…händchenhaltend / mit welken Wangen und roten Augen / In Erwartung des finalen Seitensprungs“ sind. Der zersplitterte Siemensofen, die vier Rumänen, die in Italien ersticken, sind Symbole für die Katastrophen, mit denen die Welt konfrontiert ist: Krieg, Terror, Flüchtlinge, die unter dramatischen Umständen sterben, Menschen, die das schwierige Leben als Asylanten, Exilanten oder Wirtschaftsmigranten antreten. Der Gasherd, der junge Geparden tötet, ist wohl eine Anspielung auf das Giftgas, das die syrische Armee am 18. August 2013 gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat. Paul Valérys „Tristesse d été“ ist ein Symbol für die Traurigkeit der Zustände. Wenn die Eisbären / „Auf der Suche nach der unmöglichen Scholle“ sind, und in der Arktis schwarze Trauben wachsen, so wird der Klimawandel angesprochen, ein weiteres großes Problem unserer Zeit. Die Welt ist ein gestrandetes Schiff, das Versagen der Politik wird auf der geschichtsträchtigen Via Apia sichtbar, Italien ist überflutet von den Migranten.

Emil Hurezeanu, selbst ein bedeutender Politiker, geht hart ins Gericht mit der Politik, das auch zu Recht. Doch er selbst hat als Botschafter Rumäniens in Deutschland viele wichtigen wirtschaftliche und interkulturelle Projekte in die Realität umgesetzt und gilt als hervorragender Brückenbauer zwischen Rumänien und Deutschland. Er handelt nach wie vor nach dem Motto, das er sich bereits in frühen Jahren auf die Fahne geschrieben hat, ein Leitspruch, welcher im Gedicht „Die gewonnene Generation“ vorkommt: „Mit Würde verstehen und verändern wir die Welt“.

Im Brief an seinen Schriftstellerkollegen Hans Bender schrieb Paul Celan: „Gedichte, das sind auch Geschenke – Geschenke an die Aufmerksamen.“ Ich wünsche dem Gedichtband, der nicht nur inhaltlich, sondern auch in seiner sorgfältig und schön gestalteten Form ein Geschenk ist, viele aufmerksame Leser. Das Buch ist 2020 im Pop Verlag Ludwigsburg erschienen.

(In der Druckausgabe ist eine gekürzte Fassung dieser Rezension erschienen.)