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Es schläft ein Bild in allen Dingen (Teil 2)

Walter Andreas Kirchner: Meine Familie, Öl auf Leinwand, 90 x 80 cm, 1997

Walter Andreas Kirchner: An der Quelle, Marmor, 120 x 70 x 60 cm

Walter Andreas Kirchner: Tor zur Freiheit (Landshut), Bardiglio-Marmor, 260 x 180 x 250 cm, 2001

1981 kam Walter Andreas Kirchner mit Frau und Kind nach Deutschland. Sein zweiter Sohn wurde hier geboren. Er kam mit leeren Händen, wie Tausende seiner Banater Landsleute auch, und er brachte die große Hoffnung und Zuversicht mit, seiner Familie und sich selbst ein neues, eigenständiges Leben aufbauen zu können. Den Ertrag seiner bis dahin fünfzehn Jahre fruchtbarer künstlerischer Arbeit musste er vorerst zurücklassen. Er brachte jedoch das mit, was einem niemand nehmen kann: eine humane Gesinnung, ein gefestigtes Lebens- und Kunstverständnis, solide und vielfältige künstlerische und handwerkliche Erfahrung. Einsichten und Überzeugungen, die Kirchner aus der Familie und den zwischenmenschlichen Beziehungen in seiner Banater Lebenswelt gewonnen hatte, sollten sich als tragfähige Grundlage für den Neubeginn in einer anderen Gesellschaft und Landschaft erweisen. Erinnerungen aus früheren Jahren blieben ein Quell, aus dem er menschlich und künstlerisch auch unter einem anderen Stern schöpfen sollte.

Neustart in Pforzheim

Zwei Jahre nach seiner Ankunft sagte Kirchner in einem Interview: „Mensch und Landschaft prägen einen Künstler, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Meine Landschaftsbilder, selbst die, die Abstraktionen zu sein scheinen, sind im Grunde genommen Erfahrungswerte von realen Landschaften meiner Heimat.“

Die Kirchners ließen sich in Pforzheim, am Tor zum Schwarzwald nieder. Auf Dauer. Es ging zunächst um die pure Existenzsicherung, wie bei fast allen Aussiedlern oder anderen Emigranten in der Anfangszeit. Kirchner fand Arbeit bei der Stadt. Als Kunst- und Sozialpädagoge war er beim Stadtjugendring tätig und erteilte dazu Zeichenunterricht an der Volkshochschule. Mancher seiner Schüler entschied sich für das Kunststudium. Seine Frau Hedi war als Lehrerin an einer Pforzheimer Schule tätig. Im Haus der Kirchners an der Friedensstraße regierte bald die Kunst. Den Garten hat der Künstler Schritt für Schritt zu einem Skulpturenpark ausgebaut. 

Walter Andreas Kirchners Offenheit für neue Erfahrungen, seine Kontaktfreudigkeit und Kommunikationsbereitschaft hatten sich schon beim Einleben in Siebenbürgen Ende der 1960er Jahre gezeigt. Diese Haltung erleichterte ihm nun auch den Neustart als Künstler in einer Lebenswelt mit anderen Traditionen und anderer Geschichte als jener des Herkunftsraums. Auf die Frage, wie sich die Aussiedlung auf seine künstlerische Arbeit ausgewirkt hat – sie wurde ihm nicht nur einmal gestellt –, antwortete Kirchner 1982: „Als Künstler hat man in Rumänien nicht isoliert vom Kunstgeschehen in der Welt gelebt. Somit vollzog sich vom Stilistischen her kein Umbruch. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind hier anders und bewirken wahrscheinlich auch eine Änderung im Formalen, die ich noch nicht voraussehen kann.“ Wurzeln schlagen in fremder Erde vollzieht sich nicht reibungslos, wie man weiß.

Zur skizzierten Lebenseinstellung unseres Jubilars gehören des Weiteren sein Initiativgeist und starker Gestaltungswille. So ist es zu erklären, dass er sein Kunstschaffen innerhalb von zwei Jahren nach seiner Aussiedlung in elf Ausstellungen vorstellen konnte. 

Ideologiefrei und Abstand vom Markt

In der Pforzheimer Galerie Liberta stellte er bereits wenige Monate nach der Ankunft Landschaftsbilder, Holzschnitte, Radierungen und einige Skulpturen aus, ein kleiner Teil seines umfassenden Werkes. „Vieles, vor allem Skulpturen, musste in der verlassenen Heimat zurückbleiben“, so die Zeitung. Doch der Kunstkritiker berichtete anerkennend und zutreffend über das bildnerische Werk Kirchners, was spätere kunstkritische Beiträge ausführlicher bestätigen sollten: „Es bleibt in der Schwebe, in welcher Form der Künstler seinen Gegenstand als fertigen Zustand oder gärenden Prozess anbietet. So liegt der Gedanke nahe, dass die Bilder durchaus Projektionen innerer Landschaften, seelischer Zustände sind. Dafür mag auch die vitale Unruhe, eine geistige wie erlebnisorientierte Bewegtheit in den Bildern sprechen.“  Als meisterhaft wurde Kirchners Holzschneidekunst gepriesen. Die Inhalte seiner Holzschnitte zum banatschwäbischen erzählerischen Volksgut sind teilweise missverstanden worden, selbst vom Berichterstatter, der sie als „Ausschnitte aus dem Leben des rumänischen Volkes“ gedeutet hat. Solche und ähnliche Missverständnisse konnten den Künstler nicht erfreuen. Er wusste aber zu schätzen, was die Aufnahme in Deutschland ihm gebracht hat. Der Stadt Pforzheim fühlte er sich dankbar verbunden. Er konnte die Tragödie, die die Bewohner der Stadt und die Stadt selbst beim britischen Bombardement Wochen vor dem Kriegsende 1945 ins Mark traf und fast auslöschte, sehr wohl nachempfinden. Gern hätte er seinen Dank mit einem Denkmal auf dem Schuttberg in der Gestalt des Vogels Phönix abgestattet, als Symbol für das aus Asche und Trümmern wieder erstandene Pforzheim, doch die Stadt wollte es nicht. Kirchner bewahrte das mythische Motiv für seine Kunst, denn es passte zu ihm.

An seinen neuen Lebens- und Arbeitsverhältnissen schätzte und schätzt der Künstler vor allem „die künstlerische Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit”, wie er selbst sagte. Und er nahm dies an mit der ihm eigenen Entschiedenheit und kritischen Beobachtung. „Es war kein Widerstand da, der herausgefordert hätte. Aber es gab den Markt. So führte die Kunst in Freiheit zur größten Krise meines Schaffens“, resümierte er im Gespräch mit Franz Heinz. Und: „Ich sah mich vor die Frage gestellt: Ist Kunst eine Erwerbsmöglichkeit oder eine Äußerungsform? Ich habe mich aus dem Marktmechanismus ausgeklinkt und unabhängig gemacht, indem ich mein Brot auf andere Weise sicherte.“ 

Landschaft und Liebe

Walter Andreas Kirchner fand nach wie vor seine künstlerische Inspiration in der unendlichen Vielfalt menschlicher Wesensäußerungen und im Werden und Vergehen der Natur. Er griff nun auch Themen und Motive auf, die ihm vordem verwehrt waren. Die Faszination biblischer Texte oder der starke Bezug zu historischen Ereignissen seiner Banater Herkunftsgemeinschaft regten ihn zu Werken in unterschiedlichen Techniken und Materialien an. Zudem setzte er sich kritisch mit der gesellschaftlichen Aktualität seiner neuen Heimat und mit Phänomenen der Zeit auseinander.

Ein überwältigendes, ungemein vielgestaltiges Naturpanorama öffnet sich dem Betrachter der Landschaftsbilder Kirchners, wobei jedes Bild für sich steht, in seiner einmaligen Eigenart wahrgenommen und nachempfunden sein will, um verstanden zu werden. Entscheidend für den Maler ist das Empfinden der Landschaft.

Dies gilt unabhängig davon, ob er seiner vorübergehenden Neigung zur Abstraktion rauschhaften freien Lauf lässt oder die gegenständliche Darstellung bevorzugt. Ihm kommt es auf die emotionale Berührung des Betrachters an. Die nicht selten dramatische Ausstrahlung Kirchner'scher Aquarelle fasst Franz Heinz essayistisch zusammen: „Eruptive Farbenergüsse überwuchern die Bildfläche, überbieten einander an Intensität, brechen aus und vereinigen sich zu einem voll tönenden Akkord. Landschaften lösen sich auf in tektonischen und atmosphärischen Erschütterungen, Farbe, Gestalt und Licht stürzen ineinander, ungezügelt, entfesselt, elementar. Die Konturen werden gesprengt und vermengt in ein neues Universum.“

Zweifellos bildet die Landschaftsmalerei Kirchners eine der tragenden Konstanten seines so weit gefächerten Gesamtwerks. Die Liebe als Urquell und Zauber des Lebens und der menschliche Körper in seiner Schönheit und starken Ausdruckskraft prägen als weitere zentrale, wenn nicht dominante Themen das künstlerische Schaffen unseres Jubilars. Er gestaltet diese Themen durch Jahrzehnte in allen ihm verfügbaren Techniken und Materialien, vorwiegend in seiner Graphik und in der Plastik. Als exemplarisch dafür kann sein dreizehnteiliger Graphikzyklus zum „Hohelied Salomos“ gelten, den er 1992 im Jahr der Bibel fertigstellte und präsentierte. Kirchners Ausstellung zum Thema „Formen der Liebe“ und „Zwischenmenschliche Beziehungen“, die er zuerst in Pforzheim und danach in Mannheim gezeigt hat, umfasste rund sechzig Graphikarbeiten, zwanzig Ölgemälde und neunzehn Skulpturen. Das Herzstück bildeten dabei die dreizehn Metallgravuren zum „Hohen Lied“, auch „Lied der Lieder“ aus dem Alten Testament, einer Sammlung lobpreisender, erotischer Liebeslieder. Kirchners Graphiken sind inspiriert von der mehrdeutigen bildhaften Sprache, in der Mann und Frau ihre Liebe zueinander wechselseitig besingen. Es handelt sich nicht bloß um Text-Illustrationen, sondern darüber hinaus um eigenständige bildnerische Interpretationen der biblischen Liebeslieder. Walter Andreas Kirchner arbeitete drei Jahre daran, verwarf schon einmal fertiggestellte Gravuren, verzichtete auf Details, um dann in einer zweiten Fassung die Konzentration der Darstellung auf zwei Figuren, die zwei Liebenden, zu erreichen. Dies habe „den Blättern zu einer elementaren Sicht auf den Inhalt der ‚Lieder‘ (verholfen)“ kommentierte der Kunstkritiker Thomas Kurtz in der „Pforzheimer Zeitung“.
Dazu gewährte Kirchner Einblick in den Entstehungsprozess seiner selbst eingefärbten Kaltnadelstiche zum „Hohen Lied“ durch die Präsentation Dutzender Skizzen und Detailstudien, ein klares Zeichen seiner stets angestrebten Kommunikation mit dem Betrachter. Er konnte dadurch auch eines seiner ganz wichtigen Prinzipien verdeutlichen: authentische „Kunst aus einer Hand“ zu gestalten.  

Leid in Stein gemeißelt

Die oft gestellte Frage, ob in seinem Gesamtwerk der Bereich der Malerei oder jener der Plastik vorrangig sei, scheint den Berichterstattern wichtiger zu sein als dem Künstler selbst. Er gab zu verstehen, dass er stets auf der Suche ist nach dem richtigen Material und der passenden Technik für die künstlerische Umsetzung eines Motivs, einer geistigen Anregung, die auf ihn zukommt. Oder umgekehrt: Das Material selbst, etwa der Stein, hält das Bild bereit, das durch die Arbeit des Künstlers zum Leben erweckt wird. 

Religiöse Themen greift der Künstler in all seinen Schaffensbereichen auf, in der Malerei, Bildhauerei und Druckgraphik. „Die Religion bietet mir Gleichnisse. Sie ist ein Gefühl, doch nur das Gefühl ist wahr“, sagt Kirchner. Religiöse und mythische Motive wie beispielsweise Kreuzigung und Auferstehung, Prometheus, Phönix oder Hiob kommen dem Anspruch des Künstlers auf dauerhafte und gleichzeitig aktualitätsbezogene Wirkung entgegen. Dies gilt auch für die plastische Gestaltung des Menschen als Opfer von Gewalt und Willkür, sei es als Leidender schlechthin oder als Erniedrigter und Entrechteter durch Machtmissbrauch unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen. Symbolische Opfergestalten schuf Kirchner u.a. mit den Skulpturen „Gefesselter“ (Bronze), „Das Opfer“ (Sandstein) und „Gestürzter“ (Keramik). Opfergemeinschaften historischer Heimsuchungen gestaltete unser Jubilar aus tiefgreifender Kenntnis und eigener Erfahrung der jüngsten Geschichte der Banater Schwaben: Flucht, Deportation, Vertreibung und Heimatverlust. Die zeitgeschichtliche Thematik gestaltet der Künstler in komplexen Plastiken mehrerer Gedenk-Ensembles aus der Sicht der Opfer: Im Nischbach-Haus in Ingolstadt befindet sich das mehrtei-lige Holzrelief „Nischbach und die schlimmen Jahre“ (1999), desgleichen in Ingolstadt eine Gedenkstätte (2000, Beton und Granit), während  in Landshut die Monumentalplastik „Tor zur Freiheit“ (2001, Marmor)  aufgestellt ist und auf dem Salzburger Kommunalfriedhof die Plastik-Gruppe „Schicksalswege“ zum „Gedenken an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen, in Todeslagern umgekommenen, bei Flucht und Vertreibung verstorbenen Donauschwaben und ihrer in der Salzburger Erde ruhenden Vorfahren“ (2016, Marmor und Granit).

Sehnsuchtsort Carrara

Dem Bildhauer Walter Andreas Kirchner verlieh der Erwerb eines Hauses in Montignoso/Toskana (1999), unweit der legendären Marmorbrüche von Carrara, besseren Zugang zu seinem bevorzugten Material und neue Schaffensperspektiven. Er war am Sehnsuchtsort aller Bildhauer angekommen, der edelste Marmor lag zum Greifen nah. Und er griff danach mit aller Kraft, schuf in seinem Freiluftatelier Sommer für Sommer Plastiken, die sein frühes Credo an die Aktualität der „Formenreinheit im klassischen Sinn“ im Grunde bestätigten: Gestalten in leuchtendem Weiß, von makelloser Schönheit und spannender Emotionalität, unbändiger Dynamik oder völliger Gelassenheit – Kirchners Marmor-Plastiken strahlen Wahrhaftigkeit aus und verzaubern den Betrachter.

Kirchners Sommerdomizil bei Carrara haben Franz Heinz und Walther Konschitzky, die besten Kenner seines Werdegangs und Interpreten seines Werkes, als wahres Eldorado des Künstlers beschrieben. Bei Konschitzky heißt es: „Hier hat er sich eine Eigenwelt geschaffen und in seiner Waldlichtung unter Dutzenden Edelkastanien eine Freilichtwerkstätte eingerichtet. Marmor nichts als Marmor ringsum, große Blöcke, kleine Blöcke, und in jedem, so weiß er, ruht eine edle Form, die er finden und befreien muss. Schönstes Werkmaterial und selbstgestellter Auftrag für viele Jahre!“ (Hervorhebung W.E.) Es liegt nahe, Eichendorffs wunderbaren Vers über die Kraft des Dichterwortes, nämlich „Es schläft ein Lied in allen Dingen“, abgewandelt auf den bildenden Künstler zu übertragen: Es schläft ein Bild in allen Dingen.

Der große Schritt nach Italien war keineswegs ein Rückzug in den berüchtigten Elfenbeinturm. Kirchner erschloss sich eine weitere Kulturlandschaft, knüpfte bald auch in Carrara gute Kontakte zur dortigen Kunstszene und pflegte den für ihn so wichtigen Austausch mit Künstlerkollegen. Bereits ein Jahr nach der Einrichtung seines Sommer-Ateliers in Montignoso nahm er an einer Gruppenausstellung in Carrara teil und konnte sich desgleichen in Carrara mit einer Einzelausstellung im Museo del Marmo vorstellen.

Seine künstlerische Arbeit blieb indessen vielseitig wie eh und je. Zu erwähnen sind, wenn auch nur am Rande, seine weniger bekannten sozial- und zeitkritischen Malereien und Zeichnungen. In großformatigen Ölbildern und jüngst in einer Serie von Kohlezeichnungen wendet der Künstler sich scharf gegen Auswüchse der Konsum- und Wohlstands-gesellschaft und prangert Verfallserscheinungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen an. Szenen des Alltags muten an wie apokalyptische Visionen, vermitteln existenzielle Gefährdungen.

Walter Andreas Kirchners große künstlerische Gesamtleistung kann hier nur äußerst fragmentarisch gewürdigt werden. Franz Heinz und Walther Konschitzky, die kompetenten publizistischen und kunstkritischen Wegbegleiter des Künstlers durch ein halbes Jahrhundert, bieten – jeder auf seine Weise – Gesamtdarstellungen über Leben und Werk unseres Jubilars in gediegenen Bildbänden. Sie vermerken auch die intensive Ausstellungstätigkeit des Künstlers und deren mediale Rezeption. Passend zum Jubiläum scheint mir ein Zwischenfazit des Pforzheimer Kunstkritikers Thomas Kurtz zu sein: „Zwei Leben in zwei Welten, zwei Schaffensphasen und ein offenes Ende – Walter Andreas Kirchner hat immer nur Kunst machen wollen und wurde dabei zu einem Spiegelbild jüngerer deutscher Geschichte, geprägt von Entwurzelung und Neuanfang, von dem Versuch sich in seiner Arbeit weder von Politik noch vom Markt korrumpieren zu lassen, von Zweifeln am System und dem Willen, es dennoch immer wieder zu versuchen.“

Herzlichen Glückwunsch zum 80. Geburtstag, lieber Walter Andreas Kirchner!