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„Die versunkene Republik“ – der neue Erzählband von Anton Sterbling

In den acht Erzählungen seines 2021 im Pop-Verlag erschienenen Bandes „Die versunkene Republik“ weicht Anton Sterbling die zeitlichen und räumlichen Beschränkungen seines vorigen Erzählbands „Klimadelirium“ weiter auf. Die Geschichten spielen in wechselnden Zeiten im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart im Banat von damals und jetzt und in der Bundesrepublik Deutschland. Der Autor siedelt die Geschehnisse überwiegend in dem Landstrich an, den wir bereits seit „Klimadelirium“ bereisen. Die autornahen Ich-Erzähler und Protagonisten verstärken die Authentizität seiner Geschichten, die sich novellenähnlich in sprachlicher Schlichtheit, die gleichzeitig brillant ist, um eine unerhörte Begebenheit abspielen. Mit seiner phantastischen Fabuliersprache überschreitet Sterbling den realen Erzählrahmen und findet damit zu einer poetisch-sinnlichen Sprache, die anhand von Motiven und Mythen die Geschichten miteinander lose verknüpft. Die „schwarze Katze“, wie schon im ersten Band, ist eines der verbindenden Hauptmotive. Anton Sterbling schreibt in seinen Vorbemerkungen, dass die Leser zu „wissenden Komplizen wie auch zu scharfsinnigen Kritikern aller Unzulänglichkeiten des Geschriebenen wie auch der dahinter verborgenen Welten werden“ sollen.

Jeder Erzählung ist ein Motto vorangestellt. Es sind Zitate Banater Dichterfreunde – Richard Wagner, Johann Lippet, Rolf Bossert, Herta Müller – oder eigene Gedichtzeilen. Einige der Erzählungen sind Meditationen, Rückblicke und Erinnerungen, andere umspannen ganze Geschichtsepochen. Der Ich-Erzähler legt die Vermutung nahe, dass der Autor eigene Erlebnisse und Geschichten verarbeitet, aber auch fiktiv erweitert und erhöht. Ein Trennstrich zwischen Realität und Fiktion ist manchmal schwer zu ziehen. Der Autor überlässt die Handlung der Phantasie des Lesers. Das Erzählte beschwört die Atmosphäre einer früheren Zeit herauf, führt den Leser auf die Spuren einer vergangenen Geschichtsepoche, auf die Suche nach Identitäten und nach dem Sinn des Lebens. Falsche Identitäten in „Ilie, der Lügner“, vergessene Identitäten in „Der serbische Kaufmann“ oder verleugnete Identitäten in „Der verspätete Geigenspieler“ fesseln und hinterlassen trotzdem offene Fragen. Auch Sterblings Hang zu verborgenen Kriminalgeschichten ist wieder anzutreffen, etwa in „Der Tod in Moneasa“. Sterbling ist ein Meister der Verflechtung von historischen Fakten und Fiktion. Oft steht ein Einzelschicksal im Vordergrund. Parallel dazu wird die Geschichte der Banater Schwaben zum Leben erweckt, die Lage in der Zwischenkriegszeit thematisiert, die Enteignung durch die Kommunisten, Minderheitenschicksale, Verschleppung, Auswanderung und Verfolgung. Begegneten wir auch im ersten Erzählband den Bewohnern des Timok-Tals, so tauchen hier neben bekannten Volksgruppen – Banater Schwaben, Serben, Rumänen, Ungarn – die Petschenegen, Vorfahren der ungarischen Szekler, auf. 

In der Eingangserzählung „Die versunkene Republik“ zieht ein Stadtschreiber in seinem Geburtsort im Banat in den Kirchturm der katholischen Kirche ein, um die beauftragte Erzählung „die imaginäre Republik“ zu schreiben. Im Stil von „Bartleby, der Schreiber“ von Hermann Melville oder gar von Franz Kafka wird eine Physis wahr, die auf der Suche nach Vergangenheit und dem eigenen Ich ist. In nüchternem Erzählstil beschreibt er die Umstände der Gründung einer unabhängigen, freien, multiethnischen Republik 1918, die eine Staatlichkeit bei kultureller Gleichberechtigung erreichen sollte. Es handelt sich um das Gebiet des Banats, das seit Generationen in der Habsburger Monarchie existierte und in dem verschiedene Völkergruppen friedlich zusammenlebten. Das geschichtliche Projekt ist gescheitert und wer die Geschichte des Banats kennt, weiß, dass es nach einer Landreform zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den Völkergruppen kam. Als kleine politischen Gruppen die Harmonie zerstörten, war auch das gegenseitige Vertrauen zerstört. Aus der „imaginären Republik“ wird am Ende die „versunkene Republik“. Sterbling schreibt gegenwartsbezogen und kommt zu dem Schluss: „Eine multikulturelle Gesellschaft mit einer uneingeschränkten Gleichberechtigung aller Kulturen kann es indes auf Dauer nicht geben, denn jede staatliche oder gar demokratisch integrierte Ordnung setzt einen minimalen Konsens über Grundwerte und die darauf beruhende Rechtsordnung als deren verbindliche Durchsetzbarkeit voraus…“

In den Erlebnissen des Stadtschreibers sind auch – wie schon in Sterblings erstem Erzählband – reale Begebenheiten, wie der Bericht über die spanische Grippe, mit surrealen Ereignissen verknüpft. So wird erzählt von einer „mysteriösen Krankheit“, die in dem „staatsfreien Gebilde“ auftrat: „dass Menschen zeitweilig ihre eigene Sprache anscheinend völlig vergaßen und stattdessen in drei bis vier anderen Sprachen zu sprechen begannen… Selbst die Zigeuner … wirkten plötzlich verstört und aggressiv und redeten in mehreren anderen Sprachen…“. Es erinnert an gegenwärtige Zustände der Pandemie-Zeit von Corona, als ein Witz die Runde machte, dass man nach Verabreichung der Spritze (hier war das russische oder chinesische Vakzin gemeint) nicht mehr seine eigene Sprache verstünde, sondern nur noch Russisch oder Chinesisch sprechen kann. 

Auch die zweite Geschichte spielt in der multikulturellen Gesellschaft einer Kleinstadt des Banats im 20. Jahrhundert: Sie erzählt von dem serbischen Kaufmann Milosch und seinem Freund Georg in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Lebensweg des erfolgreichen Milosch, der zusammen mit einem jüdischen Lehrherrn ein Kino eröffnete – auch ein örtlicher Weinhändler gehörte dazu –, lässt Wohlstand und Wohlergehen jener Zeit durchscheinen. Schon bald aber nimmt das Leben von Milosch eine allzu traurige Wendung: Enteignung durch die Kommunisten und Deportation. Er wird in die Bărăgan-Tiefebene verschleppt, wo er von Petschenegen ermordet wird. Deportation und Enteignung sowie die Ausreise der Deutschen werden auch in der Ich-Erzählung „Der verspätete Geigenspieler“ thematisiert. Diese Lebensschicksale stehen stellvertretend für andere Schicksale der ethnischen Gruppen der Banater Heide- und Heckenlandschaft. 

Zu den spannendsten Erzählungen gehört „Der Tod in Moneasa“, eingeführt von einem Zitat aus Herta Müllers Roman „Herztier“. Sie schildert den Aufstieg eines Parteifunktionärs aus einer Kleinstadt. Die im Kommunismus üblichen Verstrickungsmuster von Einflussnahme, Vorteilsnahme und Korruption werden bildhaft dargestellt, so dass die Geschichte filmreife Szenen hervorbringt, die spannungsreich und bunt sind. Durch eine vertuschte Mordgeschichte werden all die Niederungen der kommunistischen Klassenausbeutung deutlich. Geheimdienstliche Praktiken werden von Sterbling geschickt verknüpft mit realen Gegebenheiten. Die von der Securitate verfolgten und drangsalierten Mitglieder der „Aktionsgruppe Banat“ tauchen dabei wieder auf. Auch in „Ilie der Lügner“ werden zeitübergreifend Missstände im Rumänien der Zwischenkriegszeit und des Kommunismus deutlich. Ilie, der seine Identität änderte, um der Verfolgung zu entkommen, offenbart dem Ich-Erzähler am Ende seine wahre Identität.

Die kürzeste Erzählung des Bandes, „Der Exilschriftsteller“, schildert das wundersame Leben eines einzelgängerischen Schriftstellers, der im Kommunismus verfolgt wurde. In „Spielwunderwelt“ ist wieder der Ich-Erzähler im Mittelpunkt und erzählt seine und die Karriere des Unternehmers Alois F. Sommer, der am Ende eine Partei gründet, die bei den Europaparlamentswahlen unter dem Motto „Arbeit und Leistung ist Wohlstand, Wohlstand ist Freiheit, einschließlich der Freiheit, sein Glück in kreativen und spannenden Freizeiterlebnissen zu finden!“ mit der schwarzen Katze als Emblem antritt. Eine Zukunftsvision? Sterblings Geschichten leben davon. Inhaltlich schreibt der in Großsanktnikolaus geborene Autor, Mitglied der 1972 in Temeswar gegründeten „Aktionsgruppe Banat“ und Professor für Soziologie, gegen Diktatur, Krieg und Korruption und für Freiheit. Multikulturelle Gesellschaften stellt er dabei in Frage. Wer sich näher mit seinen Erzählungen beschäftigt, findet darin nicht nur viel geschichtliche, soziologische und philosophische Betrachtungen, sondern auch Visionen neben Fiktion und Wahrheit und der Vielseitigkeit menschlicher Existenzen.     

Anton Sterbling: Die versunkene Republik. Erzählungen. Reihe: EPIK, Bd. 119. Ludwigsburg: Pop Verlag, 2021. 280 Seiten. ISBN 978-3-86356-321-9. Preis: 16,90 Euro