„Ich bin nicht Stiller!“ So lautet der erste, längst berühmt gewordene Satz des Romans von Max Frisch, in dessen Mittelpunkt der Künstler Stiller steht, der mit seinem Leben und mit seinem Künstlertum aufs Äußerste hadert, seine Identität leugnen will.
Was für ein heftiges Gegenbild zum Selbstverständnis und künstlerischen Werdegang unseres Jubilars Walter Andreas Kirchner, des am 25. April 1941 in Perjamosch geborenen und heute in Pforzheim lebenden Malers, Bildhauers und Grafikers. Von ihm hätte ich mir einen ähnlich klingenden Satz wie jenen Stillers nie vorstellen können. Nicht dass ihm in seinem wechselvollen Lebenslauf keine Stürme oder Enttäuschungen widerfahren wären, vielleicht auch Selbstzweifel, gewiss aber Ungerechtigkeiten im weitesten Sinn. Schwer wog dabei die wachsende Unfreiheit, die Einschnürung des künstlerischen Freigeistes, aus der es als Alternative zu jener Zeit nur die Aussiedlung nach Deutschland gab. Als Kirchner vor vierzig Jahren mit seiner Familie schließlich ausreisen konnte, stand er in seiner Lebensmitte. Seinen Weg als Künstler hatte er bereits gefunden und zu sehr identifizierte er sich mit seiner künstlerischen Arbeit und seinem stetig gewachsenen Lebenswerk, als dass er sich davon irgendwann hätte distanzieren wollen und können. Kunst ist sein Leben, vermerkten wiederholt, wörtlich oder sinngemäß, Kirchners Künstlerfreunde und seine kunstkritischen Wegbegleiter. Walter Andreas Kirchner hat auch seine Familie in die Welt seiner künstlerischen Arbeit und Erfolge mitgenommen, so gut es ging. In einem Atelier-Bericht streift der Pforzheimer Kunstkritiker Thomas Kurtz das Thema: „Keine leichte Aufgabe für eine Frau mit einem Künstler verheiratet zu sein, der die Arbeit an der Staffelei oder mit Hammer und Meißel als Lebenselixier benötigt und diesem Schaffen wie einer Sucht frönt, der die Wohnung zur Galerie, zum Kunstlager macht. Vielleicht, so gesteht Walter Andreas Kirchner, sei zuweilen das Familienleben der Kunst zuliebe etwas zu kurz gekommen.“
Lehrjahre
Eigentlich hatte sich Kirchner in seiner frühen Jugend eher mit Lyrik beschäftigt und mit Vorliebe Hölderlin und Rilke, Baudelaire und Rimbaud gelesen. Er hatte sogar im Sinn, Philologie zu studieren, und seine Begeisterung bei literarischen Entdeckungen blitzt auch heute auf im Gespräch. Bei unserer ersten Begegnung Ende der sechziger Jahre im siebenbürgischen Heltau, wo wir beide als Lehrer arbeiteten, hielt Walter Andreas Kirchner ein dünnes Bändchen Prosa von Wolfgang Borchert in der Hand und sprach begeistert von der Titelgeschichte „Die Hundeblume“. Das ansonsten unscheinbare Blümchen, dem der inhaftierte, zum Tode verurteilte Erzähler im Gefängnishof begegnete, war dessen einziger Trost. Die ungeheure Symbolkraft der kleinen Blume muss den Maler Kirchner tief bewegt haben.
Der namhafte rumänische Künstler Leon Vreme hat Kirchners Begabung erkannt und ihm zum Kunststudium geraten. Kirchner bewahrt ihm wie auch seinem anspruchsvollen, richtungweisenden Zeichenlehrer, dem bekannten Temeswarer Künstler Julius Podlipny, und dem Kunsthistoriker Deliu Petroiu bleibende Anerkennung.
Die davor auf der Fachschule für Metallverarbeitung in Temeswar und bei der Arbeit als Eisendreher erworbenen handwerklichen Fertigkeiten und Erfahrungen sind nicht zu vergessen. Sie waren unserem Jubilar eine wichtige Grundlage für spätere Arbeiten, etwa im Bereich der Druckgrafik.
Noch als Student der Temeswarer Kunstfakultät trat Kirchner mit seiner ersten Ausstellung, zusammen mit Peter Schweg, an die Öffentlichkeit. Er zeigte Bildhauerarbeiten in Marmor, Sandstein, Keramik, Gips und Aluminium, die Aufsehen erregten. Selbstsicher und eloquent sagte er schon damals: „Ich glaube, dass auch in unserer Zeit das Bestreben nach Formreinheit im klassischen Sinn anspricht und dass heutige Thematik in diesen Formen große Wirkung haben kann“. Diese Überzeugung wirkt prägend und authentisch, insbesondere in der Plastik Kirchners, ohne die Entfaltung einer ganz persönlichen Note seiner Bildhauerarbeiten einzugrenzen.
Siebenbürgisches Intermezzo
Als ergiebig für seine Weiterentwicklung in allen Kunstgattungen erwiesen sich die Jahre in Siebenbürgen, wo er nach dem Abschluss seines Kunststudiums 1967 als Kunstpädagoge tätig war. Dort knüpfte er fördernde Kontakte zu anerkannten Künstlern, darunter zu Hans Hermann, dem Altmeister der siebenbürgischen Druckgrafik jener Jahre, und zur nahen Hermannstädter Kultur- und Kunstszene. In kurzer Zeit wurde Walter Andreas Kirchner durch persönliche Ausstellungen und seine konsequente Präsenz in den Gruppenausstellungen der Hermannstädter Künstler als aufstrebende junge Künstlerpersönlichkeit wahrgenommen. Im Herbst 1968, kaum ein Jahr in Siebenbürgen, beteiligt sich Kirchner mit Skulpturen, Gemälden und Grafiken an einer Gruppenausstellung im Brukenthalmuseum und findet großen Zuspruch.
Aufmerksamkeit erregten insbesondere seine Holzskulpturen. Wolf von Aichelburg, von unserem Jubilar bis heute hochgeschätzter Dichter und Essayist, hob besonders die Skulptur „Das Paar“ als „reife Plastik“ hervor. Aufschlussreich ist Aichelburgs Kommentar zu Kirchners Präsenz in dieser Ausstellung: „Der Gesamteindruck beim Betreten der Ausstellungshalle ist der eines sucherisch erregten, romantisch-expressiven Temperaments, einer Persönlichkeit, die – etwas hart gesagt – auf Biegen und Brechen zum Ausdruck kommen will. Das Gegenständliche ist meist nur Ausgangspunkt, Vorwand, um eine geistige Dynamik, einen plastisch unaussprechlichen Wert vor der Erstarrung im sinnlichen Außen zu bannen.“ Damit hat der Kunstkritiker den Kern der Künstlerpersönlichkeit Walter Kirchners früh erfasst und beschrieben.
Die reizvolle siebenbürgische Hügellandschaft bei Heltau und Michelsberg, die Architektur der mittelalterlichen Städte, vermittelten dem Künstler aus dem Banater Flachland bleibende Eindrücke.
Produktive Zeit in Temeswar
Verinnerlicht hatte Walter Andreas Kirchner bis dahin vor allem die Wahrnehmung der Uferlandschaft bei seinem Heimatort Perjamosch und die Weite und Schönheit der Banater Heide im Umfeld der Marosch. Sie gehören zu seinem unverlierbaren Erinnerungsschatz, aus dem er noch schöpfen sollte. Weitere Landschaften kamen hinzu, denn Kirchner schien unentwegt zu malen oder zu zeichnen, wo auch immer er sich aufhielt.
Nach seiner Rückkehr aus Siebenbürgen widmete sich Walter Andreas Kirchner stärker dem Aquarell, war parallel aber in mehreren Gestaltungstechniken produktiv. Er schuf weiterhin großformatige Ölgemälde, gestaltete Skulpturen aus verschiedenen Materialien und wohl erstmals Holzschnitte zu Motiven aus der banatschwäbischen Lebenswelt. Seine Ausstellung 1979 in der Temeswarer Helios-Galerie bot wieder einmal Einblick in die thematische und gestaltungstechnische Vielfalt des Kirchnerschen Schaffens der Temeswarer Zeit. Unter den Skulpturen hebt der Rezensent Joseph Ed. Krämer, einer der frühen und engen Weggefährten unseres Jubilars, den „Sieger“ hervor und entdeckt in Kirchners Malerei dieser Jahre einen „sanften ‚Pastell‘-Abschnitt“: „Er geht jetzt fast spielerisch mit der Palette um, einer breiten Skala zarter Farben fügt er sogar Weiß hinzu so wie in den ‚Schmetterlingen‘ (...). Oder er übt sich auf einer einzigen Saite spielend und malt ausschließlich gelb in gelb ein ‚Fruchtbares Land‘ mit dick aufgetragener Paste. Es kann sein, dass diese Bilder gleichzeitig mit Aquarellen, die er in Gărâna/Wolfsberg und im Donaudelta gemalt hat, entstanden sind.“
Zu seinem malerischen Umgang mit der Landschaft – einer der großen und permanenten Themenkreise des Künstlers – sagt dieser späterhin selbst: „Einzig das Gefühl ist wahr!“ Und: „Dem Wesentlichen einer Landschaft komme ich näher, wenn ich sie reduziere, anstatt mich in Anhäufungen von Details zu verlieren“. Das Empfinden vor oder in der Landschaft wirkt bei Kirchner als prägende Kraft des künstlerischen Gestaltens und teilt sich dem Betrachter mit. Dies gilt keineswegs nur für seine frühen Schaffensphasen, sondern auch für die unter dem Eindruck anderer Landschaften entstandenen Bilder, die einen Großteil des Gesamtwerks unseres Jubilars ausmachen. Dieser Hauch von Poesie – nicht immer sanft und zart, zuweilen dramatisch und stürmisch – breitet sich selbst über jene Bildhauerarbeiten, die in klassischer „Formreinheit“ gehalten sind. Es ist als hätten sie ein Geheimnis, das der Künstler in sie gelegt hat und das nur der Betrachter selbst für sich finden kann.
Banatschwäbische Motive
In den siebziger Jahren wandte sich Walter Andreas Kirchner auch Motiven aus der banatschwäbischen Lebenswelt zu. Für die Publikation des erst damals gesammelten erzählerischen und dichterischen Volksguts der Banater Schwaben schuf er mehr als fünfzig Grafiken. Seine Holzschnitte und Gravuren gehen aus von den mündlich überlieferten, erst spät aufgezeichneten volkstümlichen Sprichwörtern, Redensarten und Kinderreimen sowie von Märchen, Sagen und Schwänken und deuten sie in eigenständigen Bildern, die weit über das rein Illustrative hinausreichen und sich durch ursprüngliche Aussagekraft auszeichnen. Heinrich Lauer bezeichnet sie als eine „Folge prächtig angelegter und graphisch ausgezeichnet gearbeiteter Szenen volkstümlicher Prägung“.
Kirchner greift nicht zurück auf tradierte, meist idyllische Darstellungen des bäuerlichen Lebens. Er suggeriert vielmehr in den des Öfteren als Szenen komponierten Grafiken den mehrdeutigen Mutterwitz und die Pfiffigkeit, die hinter manchem Sprichwort stecken und zur Wesensart der Banater Bauern gehörten. Heinrich Lauer erkennt in den Kirchnerschen Grafiken einen „Zug zum Absurden, Paradoxalen, Phantastischen“. Die Texte der Sprichwörter und Redensarten integriert der Grafiker jeweils in seine Komposition und gestaltet sie in altdeutscher Schrift. Damit wird der historische Hintergrund angedeutet und verfremdet. Dass indessen manche in Sprichwörtern aufgehobene bäuerliche Weisheit auch auf Gegenwärtiges anwendbar ist, dürfte außer Zweifel sein. So war es manchem Betrachter der Illustration zum Text „Kummt'r ufs Ross de Bettlmann, reit´r ärcher wie de Edlmann“ sofort klar, dass diese sprichwörtliche Redensart aus früheren Zeiten sehr wohl als ironische Anspielung auf die Willkür und Selbstherrlichkeit der damaligen Machthaber in Rumänien hinzielte. In der Mundart war dies noch möglich. Und dem Künstler war die Sprache und die Arbeitswelt aus seiner Kindheit und frühen Jugend in Perjamosch bestens vertraut. Ebenso kannte er die bitteren Erfahrungen der banatschwäbischen Gemeinschaft in ihrer jüngsten Geschichte aus der eigenen Familie und den Erzählungen anderer Zeitzeugen. Die Flucht mit seinen Eltern nach Österreich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und die abenteuerliche Rückkehr in den Heimatort erlebte Kirchner als Vierjähriger. Die Russlanddeportation, die kollektive Enteignung und schließlich die Bărăgan-Verschleppung 1951 waren einschneidende historische Ereignisse, die die betroffenen Generationen nie mehr losließen. Das blieb der Generation der Kriegskinder nicht verborgen. Aber den rumäniendeutschen Dichtern und Künstlern, Historikern und Journalisten war es verwehrt, daran bloß zu erinnern. Walter Andreas Kirchner konnte die ideologische Zwangsjacke und die damit verbundene Bevormundung als Künstler nicht mehr ertragen. Er entschied sich, gemeinsam mit seiner Familie das Land zu verlassen und den Neuanfang zu wagen. In seiner „Aussiedlerkiste“ mit lebensnotwendigem Gepäck nahm er auch zwei Holzplastiken mit, eine davon war „Das Paar“.