„Wie langweilig, denkt Edith in ihrer Hochzeitsnacht. Sowas stellt man sich doch ganz anders vor.“ Ein ungewöhnlicher Einstieg für einen Roman, der sofort neugierig macht. Ediths Hochzeitsnacht findet im Frühling 1919 in Reschitza statt. Ort und Zeit stehen unter der Überschrift des ersten Kapitels, genau wie bei allen folgenden Kapiteln. Denn hier wird nicht chronologisch erzählt, stattdessen lose Fäden gelegt, Assoziationen aufgegriffen, Parallelen gezeigt. Und doch gibt es am Ende ein zusammenhängendes Ganzes, eine Familiengeschichte über vier Generationen und 124 Jahre, von 1896 bis 2020. Vier Frauengenerationen, um genau zu sein – Edith, Marita, Ellie und Hanne stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Die dazugehörigen Männer der Geschichte sind fast nur Statisten. Wie Ediths Ehemann Toni, den diese noch in der Hochzeitsnacht durch das Fenster verlässt für Viktor, den sie eigentlich zum Mann gewollt hätte, der sie aber nie gefragt hat. Er wird der Vater von Marita werden, die „in der Schule nicht zu antworten weiß, warum sie die braunen Augen vom Vater hat, den Namen aber vom Nachbarn“. 1940 bringt Marita Ellie zur Welt und die wird schließlich die Mutter von Hanna. In diese letzte Generation fällt auch die Ausreise der Familie aus Rumänien nach Deutschland.
Damit die Leser sich in dem Labyrinth der Geschichten zurechtfinden, steht vorne im Buch ein Stammbaum mit vier fett gedruckten Frauennamen, flankiert von etlichen Männernamen, viel kleiner und für die Handlung eher nebensächlich. Denn es sind die Frauen, die die Weichen stellen, die in den schwierigen Zeiten der Kriegsjahre und des Kommunismus dafür sorgen, dass die Familie funktioniert, dass die Töchter eine Zukunft haben. Dafür nehmen sie emotionale Demütigungen in Kauf, setzen sich über Rollenklischees und Verordnungen hinweg und zeigen sich in jeder Hinsicht erfindungsreich, autark und lösungsorientiert. Der rote Faden, der die vier Frauen über die Generationen verbindet, wird gleich am Anfang genannt: das „Einzelkinderbe“. Für die jeweilige Mutter ist die Tochter das wichtigste Lebensprojekt. „Ohne Väter keine Mütter … für den Anfang braucht man sie halt, für den Rest nimmehr“, bringt Edith die Dinge auf den Punkt.
Hanne, die jüngste der vier Frauen, ist das Alter Ego der Autorin Yvonne Hergane, die 1968 in Reschitza geboren ist und im Alter von 14 Jahren nach Deutschland kam. Plastisch die Beschreibung der Kindheit in der Stadt, der Einschränkungen und Ängste im kommunistischen Alltag, die ihre Mutter Ellie verlässlich abschirmt, unterstützt von Marita und der „Omama“ Edith. Der Sehnsuchtsort der Kindheit ist „Fuchsental“, wo die „Pemen“ wohnen, unschwer als Wolfsberg zu erkennen, wohin sich die Familie an Wochenenden flüchtet, um dem Alltag zu entkommen. Die Puzzleteile ihrer Familiengeschichte dienen Hanne dazu, in ihrem eigenen Leben aufzuräumen. Bei der Aufarbeitung ihrer gescheiterten Beziehung schöpft Hanne aus der Erinnerung an die starken Frauen ihrer Kindheit. Ihre Handlungen dienen ihr als Kompass für den Umgang mit ihrem Sohn Luis, der die „Frauenreihe“ der Generationen zwar durchbricht, aber der Anker für Hannes Leben ist. An Ellies Grab, wohin sie sich in ihrer Verzweiflung und Ratlosigkeit flüchtet, erscheinen ihr die drei Frauen und statten sie mit den nötigen Ratschlägen aus, die jede Therapie hinfällig machen. „Du bist nicht allein, wir sind immer bei dir“, ist die Botschaft. Hanne kann sich zeitlebens an ihrem „Lieblingslebenston“ aufrichten: „Ellies glockenrotes Lachen, den Kopf in den Nacken gelegt, na also, sikstes.“
Yvonne Hergane, die als Autorin bislang mit Kinderbüchern sowie als literarische Übersetzerin in Erscheinung getreten ist, gelingt mit diesem Roman eine liebevolle Hommage an die Reschitzaer Frauen, die trotz der starken Botschaft nie ins Sentimentale abrutscht. Die Chamäleondamen haben Ecken und Kanten, aber das Herz auf dem rechten Fleck. Sie kennen ihre Schwächen, beschönigen nichts und bewahren auch in schlimmen Situationen eine gehörige Portion Humor und Selbstironie. Eine besondere Rolle kommt der Sprache zu, durch ihre umgangssprachliche und schnoddrige Sprechweise wirken die Frauen äußerst lebendig. „Los mer zu, Kind, du und ich, wir sind ein Krokodil, wir gehen nicht unter. Nein, besser, Chamäleons sind wir, wir passen uns überall an und kommen durch, ich hab dir noch immer Essen aufn Tisch geschafft und die Chance auf einen ordentlichen Beruf hätt ich dir auch besorgt, damit du dein eigenes Geld verdienst und von keinem Mann abhängig sein musst“, gibt Ellie als Fazit ihrer Lebenserfahrung an Hanne weiter. Doch die Sprache wird auch thematisiert, der „Banater Berglanddeutschenpantsch mit österreichischem Mehlspeisboden und rumänischen Kirschen obendrauf“, für den sich Ellie für ihre Tochter Hanne bei der Lehrerin entschuldigt. Umgekehrt wird sich Hanne später für ihre Mutter vor ihren Freunden schämen, „weil die Seabus statt Pfiati sagt und Leckwar statt Marmelade.“ Ein wunderbares Lesevergnügen mit Tiefgang.
Yvonne Hergane: Die Chamäleondamen. Roman. Augsburg: MaroVerlag, 2020. 240 Seiten. ISBN 978-3-87512-493-4. Preis: 20 Euro