Lenau arbeitet unermüdlich an seinen neueren Gedichten und an Neuauflagen bereits erschienener Dichtungen. 1840 waren bereits die vierte Auflage der „Gedichte“ (Erstauflage 1832), die zweite vermehrte der „Neueren Gedichte“ (Erstauflage 1838) und der „Faust“ in zweiter, veränderter Auflage (Erstauflage 1836) herausgekommen.
Neue Versepen und Naturgedichte entstehen
Nachdem 1842 seine „Albigenser“ bei Cotta erschienen waren und die Arbeit an seinem Versepos „Johannes Ziska (Bilder aus dem Hussitenkriege)“ beendet war, entstehen die epischen Gedichte „Der Räuber im Bakony“ und „Mischka an der Marosch“. Unter dem Einfluss Hegels, mit dessen Philosophie er sich intensiv beschäftigt hatte, und des utopischen Sozialismus nimmt Lenau die Arbeit am „Don Juan“ auf, jenem Werk, an dem er bis zum Ausbruch seiner Krankheit schreiben sollte. In diesem unvollendet gebliebenen, 1851 posthum erschienenen Versdrama erscheint unverkennbar ein letztes Aufbäumen des Dichters. „Sein Don Juan ist voll Lebensschwungkraft, sein Gott, seine Religion, seine Mythologie sind von dieser Welt, er weiß nichts von Sünde, darum kennt er auch kein Schuldbewusstsein. Mit keinem seiner Helden hatte Lenau sich so ohne jeden ideologischen und Gefühlsvorbehalt identifiziert wie mit Don Juan“, schreibt József Turóczi-Trostler in seiner „Lenau“-Studie (Berlin 1961, S. 89).
Der Dichter, der ab 1836 häufig bei Schwester Therese und Schwager Schurz in deren Sommerhaus in Kierling weilte, unternahm öfters Spaziergänge nach Weidling und Klosterneuburg. In Unterdöbling und im Kierlinger Eichenhain entstand der Zyklus „Waldlieder“ (1843). Die „Waldlieder“ zählen zu Lenaus bedeutendsten lyrischen Schöpfungen. Sie seien ein schönes Ausklingen seiner Lyra, feierlich und beruhigend wie sommerabendlicher Glockenklang“, bemerkte Anastasius Grün. Mit Kunstschöpfungen wie diesen hat Lenau über die Miseren seines irdischen Lebens triumphiert. Seine Naturlyrik ist erfüllt von Sehnsucht und Trauer:
Natur! will dir ans Herz mich legen!
Verzeih, daß ich dich konnte meiden,
Daß Heilung ich gesucht für Leiden,
Die du mir gabst zum herben Segen.
In deinen Waldesfinsternissen
Hab ich von mancher tiefen Ritze,
Durch die mir leuchten deine Blitze,
Den trüglichen Verband gerissen.
(1. Waldlied)
In einem am 6. Juli 1843 aus Stuttgart an Sophie von Löwenthal gerichteten Brief unterstreicht Lenau die Bedeutung seiner österreichischen Heimat als Nährboden für seine Lyrik, jene Heimat, der er unter den Zwängen des Spitzelstaates immer wieder flüchtend (nach Amerika oder Deutschland) den Rücken kehrte: „Gerne möchte ich Ihnen mit einem hübschen Liede danken, doch die Lieder wollen hier nicht kommen, und ich muß sie schon auf meinem heimischen Boden Österreichs aufsuchen, wo ich einst meine ersten gefunden.“
Diesbezüglich formuliert der Literaturhistoriker und Lenau-Forscher Nikolaus Britz treffend: „Den grellen Misston von Welt und Herz, den Widerspruch von Natur und Mensch zu jener höheren geistigen Einheit zu bringen, wo sich beides begreifen lässt, gelang unserem Dichter unter dem Eindruck der grenzenlosen Einsamkeit der ungarischen Steppe, der Unendlichkeit des Meeres, seiner Liebe zu Sophie von Löwenthal und seiner Verehrung für Beethoven sowie endlich unter dem Eindruck der Erhabenheit der österreichischen Wälder und Alpen, denen er in Niederösterreich zuerst begegnet war, was mit ein Grund dafür sein sollte, in diesem Bundesland auf Lenau besonders stolz zu sein, sein Erbe zu pflegen und an die kommenden Geschlechter als Vermächtnis weiterzugeben.“ (zitiert nach Nikolaus Britz: Lenau in Niederösterreich, Wien 1974, S. 61)
1844: das Schicksalsjahr im Leben des Dichters
Im Frühsommer 1844 – in jenem Jahr, über das der Dichter in seinem Brief vom 9. Januar 1844 an Emilie Reinbeck, wohl Schlimmes vorahnend, meint, „Ich erwarte von diesem nicht viel Gutes: schon die Zahl 44 ist so vierschrötig, dass ich allerlei Impertinenzen mit Sicherheit entgegenstehe“ – traf Lenau seinen schon schwer kranken Freund Graf Alexander von Württemberg. Emma von Suckow (1807-1876), deren Bekanntschaft Lenau bei den Seracher Begegnungen gemacht hatte und die später unter dem Pseudonym Emma Niendorf das Erinnerungsbuch „Lenau in Schwaben“ veröffentlichte, hat den Besuch miterlebt und geschildert, dass Alexander Lenau wie neu belebt entgegenkam, dass sich beide in den Armen lagen und alle Lethargie, alle Schmerzen bei dem Kranken im regen Austausch wie weggeblasen waren. Bald danach, am 7. Juli 1844, starb Alexander ganz unerwartet in Wildbad. Tief erschüttert schrieb Lenau an Sophie von Löwenthal: „Er war mir wie kaum ein zweiter von meinen Freunden in großer Liebe ergeben.“
Am 2. Juli 1844 machte Lenau in Baden-Baden die Bekanntschaft der viel jüngeren Frankfurterin Marie Behrends. „Marie, meine liebe Braut, ist eine tiefsittliche und bezaubernde Natur, deren Umgang und Besitz mich innerlichst heilen und heben wird“, hoffte er. Am 5. August verlobte er sich mit ihr in Frankfurt, die Hochzeit sollte im Oktober stattfinden.
Der noch immer im Banne von Sophie von Löwenthal stehende Lenau reiste nach Wien, um deren Zustimmung zur Vermählung zu erwirken. Die Begegnung mit Sophie löste in seinem Innersten wieder Zweifel und Gefühlsverwirrungen aus, die den sensiblen Dichter vollends aus dem seelischen Gleichgewicht bringen und seinen Geist schwer belasten sollten. Nach einem aufwühlenden Abschied kehrte Lenau nach Schwaben zurück.
Der von Krankheit gezeichnete und sein Dasein bezweifelnde Dichter, sein baldiges Ende befürchtend oder gar als Erlösung vorausahnend, zwängt seinen Seelenzustand in die vier Strophen eines im September 1844, kurz vor Ausbruch der Krankheit, entstandenen Gedichts mit dem Titel „Blick in den Strom“:
Sahst du ein Glück vorübergehn,
Das nie sich wiederfindet,
Ist’s gut, in einen Strom zu sehn,
Wo alles wogt und schwindet.
O! starre nur hinein, hinein,
Du wirst es leichter missen,
Was dir, und soll‘s dein Liebstes sein,
Vom Herzen ward gerissen.
Blick unverwandt hinab zum Fluß,
Bis deine Tränen fallen,
Und sieh durch ihren warmen Guß
Die Flut hinunterwallen.
Hinträumend wird Vergessenheit
Des Herzens Wunde schließen;
Die Seele sieht in ihrem Leid
Sich selbst vorüberfließen.
Sechs Jahre in geistiger Umnachtung
Am 29. September 1844 erlitt Lenau im Hause Hartmann-Reinbeck in Stuttgart einen Schlaganfall, der die Lähmung der rechten Wange zur Folge hatte. Zwei Wochen später machen sich bei dem tief verzweifelten Dichter Zeichen des Wahnsinns bemerkbar: Halluzinationen, Tobsuchtsanfälle, Selbstmordversuche. Nach Einlieferung in die „Königliche Heilanstalt Winnenthal“ am 22. Oktober diktierte der kranke Dichter Justinus Kerner bei dessen Besuch am 29. November sein kurz nach der Niederschrift vernichtetes, letztes Gedicht „Eitel nichts“:
’s eitel nichts, wohin mein Aug ich hefte!
Das Leben ist ein vielbesagtes Wandern,
Ein wüstes Jagen ist’s von dem zum andern,
Und unterwegs verlieren wir die Kräfte.
Im Mai 1847 wurde Lenau von seinem Schwager Schurz und dem treuen Wärter Sachsenheim in die Heilanstalt Oberdöbling bei Wien gebracht.
In einem seiner lichten Momente in Oberdöbling fragte Lenau, auf eine Büste im Empfangsraum des leitenden Arztes deutend: „Wer ist das?“ Die Antwort des Arztes – „Plato“ – quittierte Lenau mit der Bemerkung: „Ach, Plato! Der die dumme Liebe erfunden hat.“ (zitiert nach Mirko Jelusich: Geschichten aus dem Wiener Wald, Wien/Leipzig 1940, S. 61)
Am 22. August 1850, um 6 Uhr morgens, hauchte Lenau in den Armen seines von ihm stets „Bruder“ genannten Schwagers Anton Xaver Schurz seine Seele aus. Die Beisetzung erfolgte am 24. August auf dem Weidlinger Friedhof (Klosterneuburg zugehörend), in jenem Tal, in dem der Dichter so oft und gerne im Haus von Schwager und Schwester erholungsheischend weilte.
In der zum Friedhof führenden Weidlinger Lenaugasse erinnert eine Gedenktafel am ehemaligen Schurzschen Haus (Nr. 24): „Hier weilte oft und lange Nikolaus Lenau“. Lenaus Grabstätte − zwei Gräber weiter links ruhen Schwager Anton Xaver Schurz und Schwester Therese – ziert eine Pyramide aus grauem Granit, darin ein Medaillon mit dem Brustbild des Dichters, unter dem einfach der Name „Lenau“ steht. Am Fußende der Grabstätte liegt eine Rose auf einem aus Erz gegossenen aufgeschlagenen Buch, das auf einem Stein befestigt ist.
Auf dem linken Blatt stehen die beiden ersten Strophen des Lenau-Gedichts „An Fr(itz) Kleyle“:
Vergib, vergib, Geliebter, dem Gesange,
Der deines Schmerzes leisen Schlummer stört,
Der die Erinnerungen, süße, bange,
Herauf aus ihrer stillen Gruft beschwört!
Gedenkst du noch des Abends, den die Götter
Auf uns herabgestreut aus milder Hand,
So blühend, leicht, wie junge Rosenblätter,
Denkst du des Abends noch am Leithastrand?
Darunter Verse aus Theodor Körners Gedicht „Beim Alexanderfeste“ (entstanden nach dem Besuch der Aufführung von Händels „Alexanderfest“ am 29. November 1812 in Wien) in einer Nachahmung der Schrift des Dichters wie seines Namenszuges:
Doch in die Herzen ist es eingegraben,
Wozu die Lippen keine Worte haben!
Auf dem rechten Blatt steht die dritte Strophe aus Lenaus Gedicht „Vergangenheit“:
Friedhof der entschlafnen Tage,
Schweigende Vergangenheit!
Du begräbst des Herzens Klage,
Ach, und seine Seligkeit!
In einem von der Universität Freiburg im Breisgau unter der Leitung von Michael Mühlenhort und Klemens Wolber durchgeführten Projekt „Klassikerwortschatz – Lyrikkanon“ bezüglich der 1100 bedeutendsten Gedichte der deutsch(sprachig)en Literatur zwischen 1730 und 1900 ist Lenau in der Auswertung von 14 Gedichtanthologien sowie der von Anneliese Dühmert erstellten bibliographischen Zusammenstellung aus 50 deutschsprachigen Anthologien (Von wem ist das Gedicht?, 1. Auflage, Berlin 1969) jeweils mit zwei bis zehn Gedichten vertreten.
Nikolaus Lenau „war ein bemerkenswerter Mensch. Ihm waren die Ungarn, Serben seiner Geburtsheimat Ungarn ebenso vertraut wie die damals für ihre Freiheit kämpfenden Polen, Italiener und Franzosen, Amerikaner und Indianer, und selbstverständlich wie die Österreicher, Schwaben, Bayern und Hessen. Gleicherweise in Wien, Preßburg, Stuttgart und Tübingen zu Hause, vertraut mit allen sozialen und nationalen Emanzipationsbestrebungen wie mit den Werten der europäischen Kultur, war er zum Mittler zwischen Ländern, Sprachen und Kulturen prädestiniert“, heißt es im Vorwort zu dem 1996 erschienenen Begleitheft zur Ausstellung „Nikolaus Lenau. Ich bin ein unstäter Mensch auf Erden“. Lenaus Werk enthalte „zahlreiche Ansätze zu einem länder- und kulturenübergreifenden Konsens“. „Dass ein Hugo von Hofmannsthal, ein Franz Werfel (…), Günter Grass und Peter Härtling Lenaus Werk hoch einschätzen, dass dieses weiterlebt und lebendig bleibt, verweist auf seine Wertbeständigkeit.“