Mit diesem Roman liegt ein schwergewichtiges und an vielen Stellen ergreifendes, vielfach auch erschütterndes Erzählwerk in 38 Kapiteln vor, das die Geschichte einer ursprünglich aus dem Steigerwald stammenden, in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Schlesien angesiedelten Familie und vor allem deren Leidensgeschichte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und danach erzählt. Im Mittelpunkt steht Helmuth Harder, der zum Zeitpunkt, als die Front das südöstlich von Breslau gelegene, von einem seiner Vorfahren gegründete Dorf Sophienhof erreichte, 15 Jahre alt war. Wie die ganze Familie war er tief gläubig, spielte Orgel und wollte eigentlich einmal evangelische Theologie studieren. Erzählt wird seine Geschichte von seinem Sohn, der mehrere Jahrzehnte später als ein in Hamburg lebender Journalist und Experte für kunsthistorische Fragen bei einer Wochenzeitung nach dem Tod seines Vaters zurück in sein brandenburgisches Heimatdorf Rehser fährt und dort, in dem heruntergekommenen Elternhaus, einen Schuhkarton mit Aufzeichnungen und anderen Erinnerungsstücken seines stets sehr verschlossen wirkenden, dem Alkohol verfallenen Vaters findet. Mit Hilfe seiner erblindeten jüngeren Schwester, die er zunächst in einem Blindenheim in der Nähe aufsuchte, die sodann aber auch in das elterliche Haus im Vorwerk, etwas außerhalb des Dorfes Rehser, zurückkehrte, versucht der Sohn diese Schriftstücke zu entziffern, zu lesen, zu verstehen und letztlich die Leidensgeschichte seines Vaters aus einzelnen Bruchstücken schriftlich zu rekonstruieren. Auf diesen beiden Zeit- und Erzählebenen der aus den Aufzeichnungen des Vaters rekonstruierten Geschichte, mit Rückblenden in die ältere Familiengeschichte sowie den Erinnerungen und Gesprächen beider Geschwister entwickeln sich die vielschichtigen, vielfach ineinander gelagerten Geschehnisverkettungen des Romans.
So erfahren wir, wie die Vorfahren mit Landsleuten vor einigen Generationen, im Jahr 1771, vom Steigerwald als Kolonisten nach Schlesien kamen und zunächst einen anderen Ort und sodann den Sophienhof gründeten. Wir erfahren vom missglückten Auswanderungsversuch eines Vorfahren nach Amerika wie auch vom religiös geprägten Leben der Familie, die es zu einem gewissen bäuerlichen Wohlstand und Ansehen brachte. Nach den letzten einigermaßen friedlichen Weihnachtstagen des Jahres 1944 brachen sodann, mit der heranrückenden Front, der Schrecken und die Gräuel über die Familie und den gesamten Ort herein. Der Vater von Helmuth Harder wurde zum Volkssturm eingezogen, der ältere Bruder war damals bereits an der Westfront gefallen, wie man aus der vom erschossenen Briefträger nicht mehr ausgetragenen Post doch noch erfuhr. Die Soldaten der Roten Armee kamen und wüteten im Dorf, vergewaltigten die Frauen, auch mehrfach die Mutter und Elsa, die ältere Schwester Helmuths, die danach mit anderen Frauen nach Sibirien deportiert wurde. Sie führten gewaltsam den Tod der Großeltern herbei, erhängten den Pfarrer des Ortes, waren ständig stockbesoffen, zwangen Helmuth zu ihrem Besäufnis auf dem Klavier zu spielen und dazu zu singen, erschossen oder ermordeten willkürlich im Vollrausch manchen Einwohner des Dorfes.
Das Schlüsselereignis indes war, dass Helmuth von seiner Mutter eindringlich gebeten wurde, seine 13-jährige, zunächst versteckte Schwester Hannah zu schützen, und dass dieser auf die Idee verfiel, Hannah vor den Soldaten in Sicherheit zu bringen, indem er sie vermeintlich für kurze Zeit im Keller ihres Hauses, in einem Verlies, einmauerte. Er wurde dann aber selbst festgenommen, sollte deportiert werden und lernte im Viehwaggon einen blonden Jungen kennen. Bei einer Leibesvisitation aller Gefangenen bei eisiger Kälte wurde dieser aber als Mädchen enttarnt, das anschließend vielfach von russischen Soldaten vergewaltigt wurde. Alle Männer mit Blutgruppentätowierung im linken Oberarm, damit als SS-Angehörige erkannt, wurden sofort im nahe gelegen Wald erschossen. Das Mädchen, das Maria hieß, wurde nach der Vergewaltigung in einem erbärmlichen Zustand wieder in den Waggon geworfen. Bei einem Luftangriff auf den Zug gelang Helmuth, der ständig nur an seine eingemauerte Schwester Hannah dachte und unbedingt zu dieser zurückzukehren versuchte, die Flucht. Er geriet mehrfach zwischen die Fronten, wurde in deutsche Abwehrverbände bei den Kämpfen um Breslau, zuletzt in eine Strafeinheit, eingegliedert und versuchte ständig, aber vergeblich, sich nach Sophienhof durchzuschlagen, um seine Schwester zu retten.
Nahezu ununterbrochen mit Kämpfen, Lebensgefahren und dem Tod um sich herum konfrontiert, blieb Helmuth zwar am Leben, konnte Sophienhof letztlich aber nicht mehr erreichen. Er wurde alsbald von Soldaten der Roten Armee festgenommen. Es folgten, da als „Werwolf“ verdächtigt, brutale Verhöre, Einzelhaft, Entzug von Essen und Trinken und sodann jahrelange Lagerhaft in Ketschendorf bei Fürstenwalde, alles von sehr realistisch und eindringlich geschilderten Grausamkeiten, von Willkür, unerträglichen Unterbringungsverhältnissen, Hunger und ständigem Tod anderer Gefangener begleitet.
Dem schloss sich später die Selektion und Verschleppung nach Sibirien an, wo alles ebenso und noch schlimmer weiterging. Neben dem äußeren Leiden quälten Helmuth ständig die Gedanken an seine Familie und insbesondere Gewissensplagen wegen seiner Schwester Hannah. In der mehrjährigen Deportation musste er eines Tages erleben, dass einer der Toten, die er wegzubringen hatte, sein ebenfalls nach Sibirien verschleppter Vater war. In dem sibirischen Lager sah er nach einiger Zeit auch Maria zufällig wieder, zu der es ihm mit Hilfe eines deutschen Lagerarztes gelang, Kontakt aufzunehmen und eine intensive Liebesbeziehung auf Distanz zu entwickeln. In vielen Einzelheiten werden die Unmenschlichkeiten, Demütigungen, Erniedrigungen und Grausamkeiten des Lagerlebens geschildert. Ebenso aber die oft rührenden Gesten der Mitmenschlichkeit und Zuneigung unter einzelnen Häftlingen.
Helmuth Harder kam als weitgehend gebrochener Mensch aus der Deportation zurück. Er hoffte nach seiner Rückkehr doch noch Maria in Kamenz zu finden und träumte von einem zukünftigen Leben mit ihr, musste aber schließlich erfahren, dass diese – anders als ihm erzählt wurde – nicht nach Hause entlassen wurde, sondern in Sibirien an Typhus verstarb. Nach einer gewissen Zeit heiratete er die Schwester Marias, deren Bräutigam nach dem Krieg ebenfalls vermisst wurde. Sie bekamen zwei Kinder, Helmuth Harder blieb aber ein sehr verschlossener, depressiver und dem Alkohol verfallener Außenseiter. Diese Schatten und Bedrückungen der Vergangenheit begleiteten ein gutes Stück auch das Leben seiner Kinder in die Verlogenheiten und Schikanen der DDR hinein.
Dieser hier nur sehr grob wiedergegebene Erzählfaden des Romangeschehens müsste natürlich mit vielen, sehr aufmerksam beobachteten und erzählten Einzelheiten und vielfältigen Nebensträngen ergänzt werden, die angesichts der sehr realistisch geschilderten Leiden und Schicksalsschlägen beim Lesen immer wieder starke Betroffenheiten und Beklemmungen auslösen. Diese stimmen vielfach mit entsprechenden Zeitzeugenberichten über die Gräuel der Roten Armee, die Verfolgungen und Repressionen gegenüber den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch über die Deportationen in die Sowjetunion überein. Durch die miteinander verbundenen Einzelschicksale gelingt es dem Roman darüber hinaus eine besondere Dramatik zu entfalten, die von klugen psychologischen und zeitgeschichtlichen Reflexionen begleitet noch an Tiefenschärfe gewinnt.
Neben der literarischen Qualität des Romans, der einen klug getakteten, durchgängig überzeugenden Spannungsbogen zwischen verschiedenen Erzählsträngen und Zeitebenen aufrechterhält, diese aber auch immer wieder geschickt und überraschend an bestimmten Schlüsselstellen miteinander verknüpft und verschränkt, ist dessen besonders hervorzuhebendes Anliegen, doch auch das unermessliche Leiden vieler in die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges mehr oder weniger unschuldig hineingeratener Deutscher und damit gleichsam die deutsche Opferperspektive überzeugend erinnerlich zu machen. Bei ständiger Thematisierung der deutschen Schuldfrage und der Opferrolle anderer, darf dieser Aspekt des schrecklichen und für Europa so verhängnisvollen Aufstiegs zweier totalitärer Herrschaftssysteme wie auch des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen keineswegs in Vergessenheit geraten, denn er gehört zur millionenfach erlittenen historischen Wahrheit zweifellos wie alles andere dazu.
Die literarische Sprache des Romans ist feinsinnig, treffsicher und steht in einer vertrauten, eher konventionellen und zugleich bewährten Erzähltradition, findet dabei aber auch immer wieder zu sehr eindrucksvollen und nachwirkenden eigenen poetischen Bildern in der Beschreibung von Landschaften und Stimmungen. Der realistische Grundton der Erzählungen wird an passenden Stellen durch surrealistische Elemente und Passagen wirkungsvoll ergänzt und untermalt. Es liegt uns ein unbedingt lesens- und empfehlenswerter Roman vor, der dem Leser indes auch viel an Vermögen, in die Abgründe und Leidenszumutungen der menschlichen Geschichte zu blicken, abverlangt, der aber zugleich allzu einseitig gezeichnete und moralisch vorfixierte Bilder dieser Geschichte im 20. Jahrhundert lebensnah, realistisch und differenziert vervollständigt.
Andreas H. Apelt: Hannahs Verlies. Roman. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 2020. 478 Seiten. ISBN 978-3-96311-329-1. Preis: 20 Euro