Gedicht-Collagen von Herta Müller: Neuer Band des Hanser Verlags und Ausstellung in Frankfurt am Main
Herta Müllers erster Band mit Gedicht-Collagen, „Der Wächter nimmt seinen Kamm. Vom Weggehen und Ausscheren“, erschien 1993 als Postkartenbuch bei Rowohlt und ist vergriffen. Damals erhielt er auch nicht viel Beachtung. Herta Müller hatte diese Collagen während eines Aufenthalts in der Villa Massimo als Projekt verwirklicht. Diese ersten Collagen sind noch nicht so bunt wie die späteren folgenden, die Wörter setzen sich aus gleichmäßigeren Schrifttypen zusammen. Trotzdem sind auch diese Collagen wie alle späteren bereits „zweisprachig“ in Bild und Schrift. Sie haben neben der geistigen eine räumliche Komponente, und die poetischen Bilder entziehen sich den Sinnen und dem Kopf. Raum und Zeit, Leben und Tod, Sonne und Wind, Brot und Not, Freiheit und Grenze – das sind nur einige der Gegensätze, die thematisiert werden. Sind Bild und Text dem Zufall zuzuschreiben? Sie sind vage, die Zusammenhänge muss der Leser selbst herstellen. Die surrealen Bilder erzeugen Verunsicherung, Angst, von Glück und Euphorie ist kaum was zu spüren.
Es folgten weitere Collagenbücher 2000, 2005, 2012 und zuletzt „Im Heimweh ist ein blauer Saal“, erschienen 2019 im Hanser Verlag. Im Vorwort „Das Echo im Kopf“ schreibt Herta Müller über die Entstehung ihrer Collagen-Gedichte und definiert ihre Absicht: „Spielereien. Ich war verblüfft, weil einzelne Wörter eine ganze Geschichte erzählen können… Mit der Zeit wurden die Texte immer länger. Es entstanden Geschichten aus verschiedenen Farben und Schrifttypen. Überall haben Wörter gewartet…“ Wie in ihren Erzählungen ist die Autorin auch in ihren Gedichten auf der Suche nach Freiheit, Gewissheit, nach Heimat und einem Land, einem Dorf, das es mal gab. Ihre Rückblenden und Reflexionen in die Gegenwart sind „Spielereien“. Die poetische Einsilbigkeit, die wir auch in ihren Erzählungen finden, ist auch in den Gedichten prägend. Wenn man die zusammengeklebten Wörter aneinanderreiht und zusammenhängend abschreibt, ist man erstaunt, welch klangvolle, musikalische Zeilen sich dahinter verstecken. Es sind kleine Geschichten mit großer Wirkung. Einige Beispiele: „Als sich der Tag unter die Häuser bog erschien ein kopfverdrehtes Hündchen das ein Schwarzkissen über die Gegend zog“; „Kam ein Wind so frisch wie Milch so alt wie Lehm, wurde anschmiegsam und sah mich von innen an“; „Das Land hängt sich an mich wie eine Klette mein Verstand ist leer als ob darin ein Hemd im Wind getrocknet wär“; „Damals wusste ich im Abschiednehmen gibt es was Furchtdurchsichtiges“; „Die Pfütze ist eine Sache aus nassem Licht. Das begreift die Straße nicht“; „Mein Vaterland war ein Apfelkern man irrte umher zwischen Sichel und Stern“.
Diese wunderbaren Geschichten erzählen von Heimweh, Heimat, Sommer, Grenze, Koffer, Himmel, Sternen, Regen, Mond und Sonne, Mutter, Vater, Kind, Land, Stadt und Angst. Das sind nur die Wörter, die sich wiederholen in den Gedichten, die immer wieder auftauchen. In Herta Müllers Poetologie vermischt sich Realität mit Fiktion und begründet eine eigene Welt, die eine erfahrene Realität abbildet, aber auch eine Welt, in der „die Zeit ein Dorf [ist] und die Angst das kürzeste Gesicht in welchem Land weiß ich nicht [hat]“. Schwer einzuordnen sind die Gedichte manchmal trotzdem, da sie intermedial zu betrachten sind, Lesen und Sehen vereinen. Sie sind bunt, einsilbig und bilderreich, setzen jede Gesetzmäßigkeit der Rechtschreibung und Interpunktion außer Kraft und folgen eigenen Regeln. Surreale Kunstwerke, die auf den ersten, zweiten oder dritten Blick entzücken können, sich jedoch manchmal erst nach mehrmaligem Lesen offenbaren und dem Leser auch die Freiheit der eigenen Interpretation lassen, je nach persönlicher Erfahrung.
„Nichts ist so schlimm, wie das, was man verlassen hat“, schreibt Frank Schirrmacher im Artikel, der den Vorabdruck von Herta Müllers Erzählung „Reisende auf einem Bein“ ab 24. August 1989 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einführt. Er nennt ihre Sprache „hart“, mit einer „poetischen Einsilbigkeit, über die nur wenige andere Schriftsteller verfügen!“ Weiter heißt es: „Ihre poetischen Szenen und Skizzen, oft das Leben im Banat beschreibend, strahlen eine wunderliche Hoffnungslosigkeit aus; eine, die man nicht loswerden, sondern wie eine poetische Kostbarkeit hegen und pflegen wollte, und sei es um den Preis des Unglücks.“ Schirrmacher, der damals die Gedicht-Collagen von Herta Müller nicht kannte, spricht von poetischen Szenen und Skizzen. Genau das sind auch die neuen Collagen-Gedichte in dem Band „Heimweh ist ein blauer Saal“. Sie suchen eine Bühne, einen Ausstellungssaal, um zur gebührenden Geltung zu gelangen.
In der Ausstellung der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt mit dem Titel „… der Wind stellt seine Tasche in eine anderes Land…“ werden die Texte der Collagen in kleinen Rahmen auf grünen Schautafeln präsentiert und einige der Collagen-Bilder vergrößert zwischen den Schautafeln platziert. Obwohl die Bilder nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie wichtig, sie unterstreichen die Gefühle beim Lesen: Resignation, Frust, Angst, Verzweiflung. Surrealistisch anmutend, in dezidierter Sprache, lassen die Collagen Bezugspunkte herstellen zu surrealistischen Bildern von René Magritte (Mann mit Melone), zur Poesie von Paul Celan und zum Dadaismus, so die Literaturwissenschaftlerin Christina Rossi, Autorin des Buches „Sinn und Struktur. Zugänge zu den Collagen Herta Müllers (Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2019), bei einer Führung durch die Ausstellung. „Erwarten Sie nicht zu viel“, sagte sie eingangs zu den Besuchern. Die Collagen lassen Raum für eigene Interpretationen und Sichtweisen, für Rückblenden und Reflexionen. Ob sie surrealistische Bilder und Eindrücke schaffen, abstrakte Metaphern hervorrufen, zur Begriffsdeutung anregen, eine Poesie des gelenkten Zufalls oder der konkreten Botschaft sind – man erkennt in ihnen das schöne Unaussprechbare, eine Kunst der Wörter und Bilder. Einfach anrührend, wenn man sich drauf einlassen will. Die Ausstellung in Frankfurt am Main ist noch bis zum 28. März geöffnet.