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„Tier und Mensch, es ist alles eins“

Alschers Roman „Gogan und das Tier“ erschien 1912 im Berliner S. Fischer Verlag.

Otto Alscher mit erlegtem Wolf. Foto und Autogramm des Schriftstellers in der Anthologie „Das 26. Jahr“ des Berliner S. Fischer Verlags (1912)

Am 29. Dezember 2019 jährte sich der Todestag Otto Alschers zum 75. Mal, am 8. Januar 2020 jährte sich sein Geburtstag zum 140. Mal

„Rings lag das Tiefland des Banat. Korn und Weizen zeigten schon reifende Ähren, und die knisterten hart, wenn sich ein Luftzug regte. An der Straße standen Pappeln. Weit hinaus, in endloser Reihe, das breite Staubband begleitend, wie an all den Straßen hier, die einst in der Zeit der Militärgrenze gebaut wurden.“ So erlebt Otto Alschers Alter Ego und Titelheld des Romans „Gogan und das Tier“ (S. Fischer Verlag, Berlin 1912) die Stimmung im Banat.

An Franz Brümmer, den Herausgeber des „Lexikons der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“, schreibt Alscher am 8. Mai 1910: „Zu Perlasz an der Theiss in Ungarn wurde ich (…) am 8. Januar 1880 als Sohn eines Rechnungsoffiziers der Husaren geboren. Die erste Kindheit verlebte ich außerdem noch in den Banater Ortschaften Moravicz und Detta, kam dann in die Realschule nach Wersetz, die ich aber verließ, um im neuen Wohnorte der Eltern in Orsova in die Bürgerschule einzutreten. Der Vater hatte den militärischen Dienst verlassen und sich der Photographie zugewandt. Nachdem ich die in Ungarn üblichen sechs Bürgerschulklassen beendet hatte, kam ich nach Wien in die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt, um mich in der Porträtphotographie auszubilden. Dies war 1898. Wien machte natürlich einen grossen Eindruck auf mich, veränderte mein ganzes Denken, so dass mir die Photographie bald nicht mehr genügte. Ich war zwar noch nach Beendung des Studiums in Ateliers als technischer Leiter tätig, verließ aber 1902 diesen Beruf ganz, um mich der Journalistik zuzuwenden. [...]“ (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung; Nachl. Franz Brümmer / Biographien, II)

Stets setzt sich Alscher für das Recht auf eine eigene Sprache und Bildung in einem kulturellen Miteinander in seiner Heimat ein. Als fiktiver Anwalt verteidigt er einen Zigeuner in seinem Debüt-Roman „Ich bin ein Flüchtling“ (Verlag Egon Fleischel & Co., Berlin 1909) und plädiert für die gefährdeten Randexistenzen, die zwischen den Härten der Natur und dem Egoismus der Sesshaften unbeirrt ihren eigenen Weg verfolgen. Keinem freien Wesen kann ein Schicksal aufgezwungen werden, erhaben über die Unehrlichkeit der Zivilisation erklingt das „Lied der Rom“, als Motto dem Roman vorangestellt. Eine momenthafte Erkenntnis prophezeite Gogans innere Stimme als „Ein Augenblick und eine Seele“. Mit dem Stimmungs- und Sinneswandel des Protagonisten verschränken sich Bewusstes und Vorbewusstes, sein Bildungsweg wechselt von topographischer Gebundenheit zur frei interpretierten Landschaft. Hat Gogan noch grob und impulsiv den Betrunkenen vor einem Betrüger beschützt, so setzt er sich als Gutsverwalter sehr besonnen mit den streikenden Taglöhnern auseinander und fährt seine Ernte zum Wohle aller ein. Gogan hätte die Mittel gehabt, einer bestechlichen „Justiz“ zu entgehen, doch er entscheidet im Sinne einer natürlichen Ethik. Seinen Zigeuner-Vater tötet er nicht, auch wenn er mit dieser Tat den Ehrvorstellungen des aristokratischen Milieus seiner Mutter entsprochen hätte. Die aufstrebende Perspektive eröffnet ein gesellschaftlich ungebundenes Dasein in einem harmonischen Ganzen der Natur- und Lebensgesetzlichkeit, wo „jeder Stamm und jeder Fels Freund“. Gogans „Lebensgesang“ erklingt zum Schluss des Bildungsromans und Selbstporträts.

Auf seinem Autoren-Foto, das der S. Fischer Verlag in der Anthologie „Das 26. Jahr“ (1912) einem Auszug aus dem Roman „Gogan und das Tier“ unter dem Titel „Die Hühnerjagd“ voranstellte, schultert Otto Alscher einen erlegten Wolf. Vertreten sind in diesem Querschnitt durch „das letzte Jahr der Tätigkeit des Verlages“ berühmte Autoren, wie z.B. Oskar Loerke, Hermann Hesse, Arthur Schnitzler, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann.

Die innige Bindung Alschers an seine Gestalten bespricht Felix Braun in der 1912 in der „Neuen Rundschau“, der Zeitschrift des S. Fischer Verlags, erschienenen Rezension „Roman des Blutes“: „Hierauf aber kommt es an: nicht dass die Phantasie besteht, sondern dass sie stetig genährt und wachgehalten wird, und dazu fließen dem Dichter Lebensquell und Tatenstrom.“

Das Bild, das sich Hesse von Demian macht, gleicht jemandem, der – wie Gogan – „die Tierheit in uns ins Bewusste [s]eines Lebens übertragen [hat]“: „Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin, und namentlich schien dies Gesicht mir, für einen Augenblick, nicht männlich oder kindlich, nicht alt oder jung, sondern irgendwie tausendjährig, irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläuften gestempelt, als wir sie leben. Tiere konnten so aussehen, oder Bäume, oder Sterne – ich wusste das nicht, ich empfand nicht genau das, was ich jetzt als Erwachsener darüber sage, aber etwas Ähnliches.“ (Hermann Hesse [unter dem Pseudonym Emil Sinclair]: Demian. Die Geschichte einer Jugend, S. Fischer Verlag, Berlin 1919)

Inspiriert durch Hesses Schülerroman „Unterm Rad“ (S. Fischer Verlag, Berlin 1906) übte auch Alscher Kritik an einer autoritären, traditionellen Erziehung. Das Tier, in der Seele des Menschen verankert, bietet ein Medium zur Wahrheit des eigenen Selbst und verweist auf den spannungsreichen Gegensatz zwischen Zivilisation und Natur. Sehnsucht nach Horizont und Fernweh erfüllt die Besucher eines Tiergartens. Die Kurzgeschichte „Die Wildkatze“, die 1914 in der von Hesse mitherausgegebenen Zeitschrift „März“ erschienen ist, stellt die Perspektive des in sich versunkenen Wildtiers als frei und unverstellt vor: „den glitzernden Blick irgendwohin gerichtet, auf einen Punkt, den sie mit ihren Augen doch nicht sehen konnte“. Im offenen Ende verklingt die Frage, ob das „Eingefangene“ (Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch) das Denken der Gymnasiasten, das sich um einen Käfig dreht, durchbrochen hat.

Seine ersten Tiergeschichten, als Schnittstelle zwischen Natur und Zivilisation, Seele und Kunst, beschrieb Alscher in einem Brief an den Münchner Verlag Albert Langen am 16. August 1916 als „Novellen, die das seelische Grenzgebiet zwischen Mensch und Tier behandeln, wie ich es schon in meinem Gogan und das Tier angebahnt“. Der Band, der 1917 unter dem Titel „Die Kluft. Rufe von Menschen und Tieren“ im Verlag Albert Langen in München erscheint, belegt Schopenhauers These: „der Mensch ist das einzige Tier, welches andern Schmerz verursacht, ohne weitern Zweck, als eben diesen. Die andern Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes.“ (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. 2. Band. Verlag A. W. Hayn, Berlin 1851) „In dieser Zeit düsteren Menschenwehs“ werden Kriegsversehrte zum Wolfsfraß in der Geschichte „Die Tiere ernten“ oder sie stoßen den Bären der Geschichte „Über den Menschen“ ab.

Heimisch in Wildnis und Kultur, begibt sich Alscher im Vakuum der Nachkriegszeit auf Zeitreisen. Doch während er sein künstlerisches und kulturpolitisches Schaffen in dem allegorischen Selbstbildnis „Kämpfer. Roman“ (erschienen in: Banater Tagblatt, Organ der Deutsch-schwäbischen Volkspartei, Temeswar, 70 Folgen vom 25. November 1919 bis 3. April 1920) retrospektiv sichtet, vertieft sich die „Kluft“ zu seinem Umfeld, das seinen und Elisabeth Ambergs „Schritt im Schicksal“ (Hesse: Demian) als Tabubruch quittiert. Der Band mit Tiergeschichten „Die Kluft“ erscheint als Chiffre seiner Entfremdung, aber auch als Medium zu den prägenden Figuren der Literaturszene am Monte Verità, Gusto Gräser und Hermann Hesse.

Anscheinend weiß Alscher nichts Näheres über die Präsenz seiner Tier-Kurzgeschichte „Die Hunde“ in dem Kanon der „Sieben Erzählungen neuerer Dichter“. „Etwas Besonderes ist allen Erzählungen gemeinsam, die in diesem Buch beisammen stehen. Es ist die Liebe zur Natur“, heißt es im „Geleitwort“ zum Bändchen „Strömungen“, „eine Liebesgabe für deutsche Kriegsgefangene", Bern 1918, herausgegeben von Hermann Hesse und Richard Woltereck. 1921 geht auch Alschers Freund und Kollege Franz Xaver Kappus in seinem in der „Schwäbischen Volkspresse“ vom 13. Januar 1921 veröffentlichten Alscher-Porträt Alscher-Porträt nicht auf die Grundidee der „Strömungen“ ein: „In Deutschland, Österreich und der Schweiz als feinsinniger Erzähler längst bekannt und geschätzt, bedurfte es der Jahre, um seinen Werken im Banat Eingang zu verschaffen.“ Das „Geleitwort“ des Bandes „Strömungen“ wird trotzdem zu Alschers „Gedächtnisspuren“ und Programm gehören und den Zauber seiner Tierbegegnungen ausmachen: „Dichtung ist immer Liebe, sie kann nie Hass und Verkleinerung bezwecken. [...] Und es gibt, zumal in der neueren Dichtung, manche Dichter, für welche die Natur, die Landschaft, das Tier- und Pflanzenleben nicht bloß einen Rahmen zum Menschenleben bedeuten, sondern denen der Mensch – wie er es im Sinne der neueren Naturwissenschaft ja auch ist – immer nur ein Stück Natur bleibt, nicht ihr Herr, nur ihr Glied und Teil.“

Die Redaktion des „Banater Tagblatts“ befindet sich am Temeswarer Domplatz, wo Alscher an die Ästhetik des Barocks erinnert wird. Zeitreise und Ortsungebundenheit sind in den vier Teilen des „Kämpfer-Romans“ als „contrapposti (Gegensätze), die – als künstlerisches Stilmittel eingesetzt – zur Erregung von Aufmerksamkeit dienen“ (Booklet zur Ausstellung „Caravaggio & Bernini“, Kunsthistorisches Museum Wien, 2019/2020), strukturiert. In der Mitte des Romans verpflichtet sich der Kämpfer den ästhetisch-ethischen Maßstäben der Secession. „Die Sehnsucht nach dem Glück“ zeigt sich für den Protagonisten erfüllbar, sobald Kunst und Instinkt in eine kosmische Wechselbeziehung treten. Zu Gustav Klimts „Beethovenfries“ (1902) fügt Alscher in Voraus- und Rückblende, in Realität und Wunschbildern eine surreale Ebene hinzu. In der 63. Fortsetzung skizziert Alscher Barwigs Skulptur „Stehender Bär“ aus der aktuellen Ausstellung in der Secession. „Ein dunkler Schatten war neben ihm [dem Kämpfer] erschienen“, der sich, „um zu voller Wirkung und Klarheit zu gelangen, aus dem Relief entwickelt“. (Agnes Husslein-Arco und Markus Fellinger (Hg.): Franz Barwig der Ältere. Wien: Belvedere, 2014) „Moto & Azione. Vivacità“ (Kunsthistorisches Museum, 2019/2020) kennzeichnet den anschließenden Zusammenprall zwischen Mensch und Tier. Auf der Ebene des Traums wird Klimts Gigant „Typhoeus“ besiegt, der Kämpfer „sah das Tier im Wasser hinrollen.“ Der bärenhafte Titan hat die mythischen Kräfte eines Herkules mobilisiert. Sinnesempfindungen melden sich in dem Gedächtnis des Haupthelden und eröffnen eine erhellende Ebene zur Vergangenheit der Menschheit durch das tierische Medium.

Während Barwig sich im Schönbrunner Zoo inspirierte, wird Alscher dem geheimnisvollen Weg des Wildtiers folgen. Die nächsten Montagen zwischen Wanderung und Tierhandlung werden den kontinuierlichen Rhythmus zwischen individueller Zeit und Zeitlosigkeit nahtlos darstellen, die Kunde eines literarischen Erfolgs wird jedoch Alscher, der mit Elisabeth Amberg das selbst erbaute Haus im Gratzkatal wieder erwirbt, jedoch nur gelegentlich erreichen.

Die Kurzgeschichte „Der Jagdgenosse. Erzählung aus der arabischen Wüste“ wirft ein Licht auf das Wesentliche im Leben und Sterben von Mensch und Tier. Erschienen in den von Friedrich Dahncke ausgewählten Sammlungen „Tiergeschichten aus fernen Ländern“ (Gebrüder Enoch Verlag, Hamburg [1925], S. 113-137) und „Jagd- und Tiergeschichten aus fernen Ländern. Erzählungen und Erlebnisse“ (Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1929, S. 236-287), lässt sich der Publikationsweg dieser magisch-realistischen Tiergeschichte erster Stunde heute nicht mehr nachvollziehen. „Der Jagdgenosse“ wird sowohl von Alscher als auch von seinen nächsten Herausgebern übergangen. „Im Verstehen des Tieres [wurde] ein neues literarisches Gebiet erschlossen“, heißt es im Vorwort. „Der Jagdgenosse“ steht im Kanon der „neueren Tier-Dichtung“ als einziger Text ohne vorangestelltes Autoren-Porträt.

„Einen tiefen Atemzug“ stieß der Kämpfer anlässlich des Bärenkampfes aus. Der Untertitel der nächsten Sammlung mit Tiergeschichten, „Tier und Mensch“ (Albert Langen Verlag, München 1928), knüpft an diese Schlagzeile an: „Einen tiefen erneuernden Atemzug, ein Untertauchen in Urwaldrauschen gibt dieses Buch – Erlösung vom Menschen durch das Tier!“ Alscher verschränkt Mensch- und Tierperspektiven, er wirft ein Licht auf das Revier des Wildtiers sowie auf den kontinuierlichen Wechsel zwischen individuellen Zielen und dem Kampf ums Dasein. Literarische Zeugnisse geben auch weiterhin Auskunft über ein Netzwerk, das in einem atavistischen Dasein dem Zufall überlassen bleibt.

Das Wir-Gefühl abseits von Ideologie und autoritären Systemen hat eine unterschwellige politische Dimension, die die Zensur kommender Diktaturen dazu veranlasst, Alschers Spuren im Kanon der modernen Tiergeschichte zu verwischen. Zwar schließt Wilhelm Schneider seine ambivalente Kritik in „Die auslanddeutsche Dichtung, ihre Voraussetzungen und Werte“ (Berlin 1936) mit einem Plädoyer für die Tiergeschichte ab, das Gesamtwerk Alschers wird jedoch aus nationalsozialistischer Perspektive nicht empfohlen. „Leider ist das Thema (Rassenvermischung) nicht von der Seite behandelt, die uns Deutsche am meisten angeht, Alscher hat vielmehr das Wesen des Sohnes einer Magyarin und eines Zigeuners zu deuten versucht. [...] Was Alscher seinen Helden Gogan sinnen und planen lässt, das ist in Verkleidung sein eigenes Lebensbekenntnis. [...] Alscher ist einer der besten Tierschilderer der gesamten Literatur. Seine Tiergeschichten füllen eine Lücke in der deutschen Literatur, die an gehaltvollen Tiergeschichten so arm ist, dass es dem Dänen Svend Fleuron nicht schwer wurde, Heimatrecht bei uns zu erwerben. Die nach innen gerichtete Schau hat in der deutschen Tierdichtung keine Vorbilder. Auch der Siebenbürger Witting reicht nicht an ihn heran, ganz abgesehen von seiner verkrampften Sprache. Alschers Sprache dagegen ist schlicht, strebt nicht nach ‚Schönheit‘, sondern nach Sachlichkeit. Aber hinter der Sachlichkeit ist das erregte Pochen der Jagd- und Naturleidenschaft zu spüren.“

1937 versucht Albert Langen den Band „Tier und Mensch“ „an eine Großbuchhandlung abzustoßen“. Alscher wird brieflich auf eine Verordnung der Reichsschrifttumskammer verwiesen, „Vorräte von älteren Werken, die ohne Aussicht auf nennenswerten Absatz auf den Lagern liegen, einzustampfen, um so der Papierfabrikation Rohstoffe zu liefern“.

Trotz existentieller Sorgen entwickelt er seine literarische Technik, in der Mensch und Tier in einem individuellen Tempo den Horizont erleben und sich in wesentlichen Augenblicken begegnen.
1939 bringt Alscher seine Hunde bei einem Förster in den Almascher Bergen unter und nimmt eine Stelle als Journalist bei der „Extrapost“ an, einer in Temeswar erscheinenden Tageszeitung. Nach weniger als einem Jahr wird er entlassen, er lebt mit seiner Familie in der Hofwohnung der Eltern Elisabeth Ambergs und wird von der Armenküche verköstigt. In innerer Emigration besinnt er sich der Tierperspektive und Sinnesempfindungen in der Freiheit der Natur. Zu seinem verlorenen Selbstbewusstsein führt Walter, der Uhu, als er, erhaben über eine mögliche Bewirtung, seinen gewesenen Herrn die Sorge um die nächste Mahlzeit vergessen lässt und ihm „eine frohe Erfahrung“ beschert. Zum Abschied schmiegt sich das Tier wieder an die Landschaft an. „Behaglich in sich zusammengesunken hört er mich an. Seine Augen suchen etwas in der Ferne, wie eine warme Erinnerung. Dann kehrt er zu sich selbst zurück. Seine Blicke schweifen rasch umher, er schwingt sich auf, gleitet davon, der Gefährtin nach, die seiner dort im Nussbaum harrt.“ Unter Schopenhauers Einfluss wird die Tierbegegnung zu einer Widerstandshandlung, die den Menschen „stets mit voller Besonnenheit ganz er selbst sein [lässt]“.

1943, nachdem Alscher das Fotoatelier in Orschowa erbte und Druckkosten finanzieren konnte, publizierte er den Band „Die Bärin. Besinnliche Tiergeschichten“ in der Temeswarer Druckerei Heinrich Anwenders. In der Titelgeschichte weckt „Die Bärin“ in Matz, der ihr Junges gestohlen hat, ein Gefühl für das „Tierchen“ und erzielt eine überraschende Wende in seinem Verhalten. Behutsam gibt er ihr das Junge zurück und stellt auf seinem Heimweg fest: „Tier und Mensch, es ist alles eins.“

Der Bär spielt als Erzieher und Tröster die Hauptrolle auf besinnlichen Streifzügen. Er hilft Zukunftsangst und Kriegsgrauen, auch in einer der letzten Geschichten, zu überwinden. „Einsam, voll schweren Sommersegens“ war Gogans Stimmung auf dem Weg zu seinem Selbst. 1944 verbindet Alscher seine Todesahnung mit einer idyllischen Traumlandschaft in den beiden Erzählungen „Der Bär im Sommersegen“ und „Der Bär im Früchtesegen“. Die Prosa ist identisch, in „Der Bär im Sommersegen“ ist jedoch ein Gedicht eingefügt. Es „tickt der Wurm“ und den Träumenden beschleicht die Angst vor dem „Sturm am Morgen“. Das Naturerlebnis sowie die Utopie des Widerstands rücken in die unerreichbare Ferne eines „süßen Traums“.

Am 23. August 1944 wechselte Rumänien auf die Seite der Alliierten. Bereits im September wurde Alscher in ein Lager in Târgu Jiu interniert. Er floh im Oktober und ging etwa 100 Kilometer zu Fuß nach Hause, wurde jedoch in der Innenstadt eines Mittags erneut verhaftet. „Vater hat einen Koffer voll Manuskripte mitgenommen, das wurde nie erwähnt, das ist ja alles verloren gegangen“, erzählt seine Tochter Edith. Am 29. Dezember 1944 stirbt er im Internierungslager, zehn Tage später wird Edith nach Russland deportiert, aus Angst bringt ihre Mutter Alschers Schriften bei Freunden unter.

Zu Otto Alschers Comeback im 21. Jahrhundert gab „Die Bärin. Natur- und Tiergeschichten aus Siebenbürgen“ (Verlag Natur und Text, Rangsdorf 2000) den entscheidenden Impuls. In der Anthologie „Aus dem Leben der Tiere. Die schönsten Geschichten aus aller Welt“ (Reader’s Digest, 2003) stehen „Die Bärin“ und „Mein Freund Walter, der Uhu“ zum ersten Mal im Kontext der Weltliteratur. 

2019 bietet die e-book-Monografie „Ein Augenblick und eine Seele. Im Werk Otto Alschers“ einen Überblick über Alschers Naturphilosophie in einem transzendentalen Genre der modernen Tiergeschichte. Diese Neuinterpretation erinnert an einen Dichter, dessen Tiergestalten über sich hinausweisen und auch heute noch den Leser unmittelbar berühren.