Am 16. Juli 1974 veröffentlichte die aus Reschitza stammende, damals 28 Jahre alte Autorin Aloisia Bohn, alias Kristiane Kondrat, im Feuilleton der F.A.Z. ihr 13 Zeilen langes Gedicht „Ohne Beschluss“. Es ist ein Gedicht über den Wunsch nach Freiheit, das Warten auf den Beschluss, da die Papiere noch nicht „unterschrieben waren“: „den Gang der Welt – / das langsame Rollen / des schweren rostigen Tieres / und die Unentschlossenheit / der Räder…“ Leider folgten keine weiteren Gedichte mehr in dieser Zeitung. Kondrat ging trotzdem ihren literarischen Weg unbeirrt weiter und nun erschien ihr Roman, den sie 1974 bereits beendet hatte, in einer Neuauflage im Ulmer danube books Verlag.
Im Roman mit dem langen Titel „Abstufung dreierlei Nuancen von Grau“ schildert eine Erzählerin ihre Erfahrung mit einer Flucht und der sie begleitenden Angst. Diese Angst ist immer da. Es ist aber keine existentielle Angst, auch keine gesellschaftliche Angst, sondern eine Angst im Hintergrund, die stets da ist wie ein Schatten, aber nicht präsent ist, es ist die Angst vor dem „Unaussprechlichen“. Die Ich-Erzählerin der Geschichte ist namenlos, sie spricht aber von Menschen aus ihrer Nähe, die Namen tragen. Auch die Orte der Handlung sind nicht auszumachen.
Dass die Erzählebenen ineinander gleiten, die Geschehnisse in Raum und Zeit abwechseln von Gegenwart zu Vergangenheit und zurück, gehört zum schlauen Spiel der Autorin, den Leser aufmerksam zu halten. Angst bestimmt ihre Schritte überallhin. Bereits als Kind in der Schule begleitete sie dieses merkwürdige Gefühl. Die Angst wird für die Autorin zum literarischen Lebenselixier. Kondrat muss das Geschehen nicht mit Angst aufladen, wie das ein Krimiautor macht oder ein Fantasy-Autor, nein, ihre Angst ist eine Poetik der Angst.
Die Geschichte beginnt mit einer Kindheitserinnerung und endet mit einer ebensolchen. „Weiß ohne Schatten und Weiß mit schmutzigweißen Schatten. Und Weiß auf Weiß, hochgetürmt, blendend“ – so beschreibt Kondrat eine Winterlandschaft ihrer Kindheit, wenn der Vater den Dachschnee abschlug. Das Ende der Geschichte spielt wieder im Winter: „Es ist wunderbar, mit einem Schlittschuh zu fahren, ich könnte sogar tanzen. Ja, ich kann es. Ich bin eine Eisprinzessin… Hinter den Bergen vermute ich die Welt, dahin möchte ich eines Tages. Sie schimmern weiß mit blauweißen Schatten.“ So schließt sich der Kreis. Der Wunsch, diese weißschimmernde Welt der Träume zu verlassen, erfüllte sich zwar für die Erzählerin, aber er wurde teilweise zu einem Albtraum. Nach einem Unfall landet sie im Krankenhaus, aus dem sie auf Krücken flüchtet und in der fremden Stadt nach Freunden sucht. Ihre kleine, überschaubare Welt „hinter dem ersten Berg rechts von unserem Garten“ hat sie verlassen und ist auf der Suche nach dem „Niemandsland“: „An die Grenze denkt man nur, solange man sie vor sich hat. Jenseits der Grenze aber beginnt die Suche nach immer neuen Grenzen, um nicht verlorengehen zu müssen. Man bewegt sich im Niemandsland.“
Das Buch ist eine andauernde Reflexion über das Leben und eine Vision, wie dieses Leben sein könnte, vermischt mit der Erinnerung an früher. Dabei sind die Schilderungen über Kindheit und Jugend, über
Vater und Mutter, über Freunde und die alte Stadt die schönsten im Buch, die mitreißendsten. Anschauliche Bilder vom Leben einer glücklichen Familie in einem unfreien Land. Die Flucht, die Suche nach und die Visionen von einem besseren Leben in Freiheit sind fast beängstigend. Als Leser ist man oft nicht so ganz sicher, ob sich das Geschilderte in der Fantasie der Erzählerin in der Gegenwart oder der Vergangenheit abspielt. Bilderwelten einer Entfremdung entstehen, ein Teil der Geschichte eines Landes (das von der Autorin nie namentlich genannt wird) durchdringt die Handlung, eine Melancholie breitet sich aus. Die alten Orte, die Menschen suchen die Erzählerin heim. Ständig wechseln die Geschehnisse in Raum und Zeit, was dem Roman seine Suspense gibt. Man kommt dann nicht mehr so leicht davon weg und erliegt dem Reiz der Erzählung dieser Autorin. Die Allgemeinheit der Orte und
Geschehnisse lässt den Roman all-gemeingültig erscheinen. Er bleibt immer aktuell, auch wenn die Erinnerungen an das Banater Bergland deutlich herausschimmern.
Herta Müller spricht von Worten, die sie immer wieder begleiten in ihrem Schreiben, die sie nie loslassen. Auch bei Kondrat hat man das Gefühl, dass gewisse Worte immer wieder auftauchen: „Nicht zur Kooperation bereit“; „alles sagen“; „Verhör“; „Heimkommen“, „heimkehren“; „Traum und Albtraum“ usw.
In einer schönen, poetischen Sprache gehen wir mit der Erzählerin auf Erkundungsreise durch die Stadt, das Land, über die Grenze, durchs Krankenhaus, wir nehmen teil an in ihren Begegnungen – oder waren es nur Erinnerungen? – mit Freunden, Bekannten und Fremden. Ihre Angst ist eine Herausforderung, brauchbar, um die unbekannte Zukunft kennenzulernen. Es ist die Angst, die man auf einer Flucht erfährt und jeder, der schon mal geflüchtet ist, kennt das Bedrängtsein durch eine unbekannte Macht, das, was die Erzählerin als Schatten darstellt, der immer hinter dir steht und nie auftaucht. Und diese Angst ruft stets Assoziationen hervor in dem auf der Flucht Erlebten, Erfahrenen – Assoziationen mit Geschehnissen aus der Vergangenheit.
So erinnert sich die Erzählerin bei dem Verhör von Zimmer zu Zimmer des Auffanglagers in der neuen Heimat an ein Ereignis in der Schule mit dem Klassenlehrer, an peinliche Verhöre im Rektorenzimmer, an den Besuch des Lehrers zu Hause bei den Eltern. Automatisch stellen sich Assoziationen ein und verstärken die Angst, da diese schon einmal da war. Die Erzählerin erinnert sich aber auch an wunderbare Erlebnisse, zum Beispiel beim ersten Flug über Wien: „Irgendwo weit hinter Wien wartete ein unbekanntes Land auf uns. In Wirklichkeit wartete es nicht auf uns, nur wir hatten gewartet. Die
alten Leute meiner Kindheit erzählten immer wieder von Wien.“
Alle Fluchtgeschichten haben eines gemeinsam: bizarre Zustände, absurde Situationen, Ängste, Hoffnungen. Sie offenbaren einen Blick auf das, wozu ein Mensch fähig ist, im Guten wie im Schlechten. So erinnert sich die Autorin bei ihrem Flug über Wien, „dass ich mir als Schülerin vorgenommen hatte, sollte ich einmal Lehrerin werden, meine Schüler nie dazu zu zwingen, eine Ballade auswendig zu lernen. Das war vielleicht der Grund, warum ich nicht Lehrerin geworden war: Der ‚Bürgschaft‘ (gemeint ist Schillers Ballade, Anm. d. Verf.) entkommt keiner. Wir überflogen auch andere Mythen und mit uns flog der ganze Aberglaube von der ‚Bürgschaft‘“. Diese Einsprengsel an Gedankengängen machen die Lektüre des Buches heiter und leicht und lassen es den Leser nicht mehr zur Seite legen, ohne zu wissen, wo diese Reise endet. Und man bedauert, nicht eine Fortsetzung lesen zu können.
Allerdings hätte ich mir einen anderen Titel für den Roman vorstellen können als die sperrige Überschrift „Abstufung dreier Nuancen von Grau“, die so allgemein und nichtssagend ist. Sie wurde dem Buch bei der Erstveröffentlichung 1997 im Stuttgarter Quell Verlag verpasst. Ich könnte mir einen besseren Titel vorstellen. Die wundersame Reise dieses Romanschriftstücks von Rumänien nach Deutschland, wie sie Christina Rossi im Nachwort „Ein Manuskript im Wintermantel“ beschreibt, könnte selbst Gegenstand eines Romans sein. Vielleicht lesen wir ihn eines Tages.
Kristiane Kondrat: Abstufung dreier Nuancen von Grau. Roman. Ulm: danube books Verlag, 2019. 160 Seiten. ISBN 978-3-946046-14-1. Preis: 16,50 Euro