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Schwalbe unterm Dach - Nachträgliche Notizen zu unserer Endzeit im Banat

Die erste Klasse der Perjamoscher Knabenschule mit Lehrer Josef Geyer am Ende des Schuljahres 1936/37; Franz Heinz zeigt die Schiefertafel mit dem Hinweis auf Klasse und Schuljahr vor. Einsender: Franz Heinz

„Zu meiner Zeit...“ – Wer kennt nicht diese Redensart der Alten, mit der hingewiesen wird auf Vergangenes und Verschüttetes, auf Überholtes, Verworfenes und Widerlegtes, das wir im Rückblich belächeln und doch auch mit einer leisen Wehmut verklären. Wir sprechen dann üblicherweise von der guten alten Zeit, obwohl wir doch wissen, dass sie oft so gut nicht war, und dass wir sie auch – Hand aufs Herz – nicht wiederhaben möchten. Wer aber wird sie deswegen gleich aus dem Gedächtnis streichen? Erinnerungen an die Kindheit und Jugend sind damit verbunden, an das Elternhaus, die Schulzeit und an das, was uns damals bewegte oder auch verdross, was uns hart machte oder auch verdarb. Wenn einer über die Achtzig hinaus ist, schlägt er sich nicht mehr so schnell auf die eigene Brust. Denn nicht alles wird geglückt sein, und was unterlassen worden ist, zählt ohnehin nicht. Handreichungen, die unterblieben sind, verspätete Einsichten und halbe Entscheidungen hängen uns an und stellen sich quer, wenn wir versucht sind, sie wegzureden. Findest deinen Frieden am ehesten im Dialog der eigenen Un-zulänglichkeit mit der des Anderen. Es ist bis zuletzt die Relativität der Dinge, die den Streitwert defizitär macht und das Gras drüber wachsen lässt. Mein Freund Fidel erkannte das bereits mit 27 und setzte seinem Leben ein Ende. Er fragte sich nach dem Sinn des Unsinns und zerbrach daran. Es mag ja nicht sehr viel sein, was dem Unsinn entgegenzusetzen wäre – immerhin jedoch ein lachendes Kind, die im Frühling wiederkehrende Schwalbe unterm Dach, die aufgehende Sonne, die Kornblume im Weizenschlag und auch der kniende Großvater in der Kirchenbank. Das eben, was wir tun und nach unserem Sinn gelingt.

Es sind immer wieder die Bilder aus der alten Heimat Banat, die mir dazu einfallen und die – so bedauerlich es auch sein mag – nur in Teilen weiterzugeben sind an unsere Enkel. Die Erinnerung an unsere gute alte Zeit reißt nach und nach ab, und wir merken es kaum. Wir haben zu tun und werden gebraucht – und das ist es auch schon, das Kernstück des Daseins, wenn’s gut gewesen sein soll. So könnte es auch meinem Urahn mütterlicherseits Johann Elling ergangen sein, der 1723 nach Perjamosch im Banat zugewandert war aus dem Siegerland, von dem seine Enkelkinder in der neuen Heimat an der Marosch keine Vorstellung mehr haben konnten – so weit weg schon hatte es die Zeit gerückt. Wenn ich heute die Sieg hinauffahre, über Netphen nach Hilchenbach und Herzhausen, die im Familienbuch als Stammorte der Familie Elling (später Ehling) angeführt sind, so ist das nicht gerade eine Heimkehr, aber doch so, dass es das Herz ein wenig höher schlagen lässt. Es wird nicht viel mehr als Arbeit und Not gewesen sein, was die Ellings im Banat erwartet hat – an die Sieg zurückgekehrt ist jedoch keiner. Das war ihre Sache nicht. Es war, 250 Jahre später, die unsere. Es war der Endpunkt für die Ellings (Ehlings) im Banat.

Das erste Schuljahr

Ein Klassenfoto vom Ende meines ersten Schuljahrs (1936/37) hat über Jahrzehnte hinweg Krieg, Flucht, mehrere Umzüge und meine Auswanderung ins Rheinland überstanden. Es zeigt, leicht vergilbt, meinen Jahrgang im Hof der Perjamoscher Knabenschule (die Mädchen besuchten die gegenüberliegende Klosterschule). Achtunddreißig waren wir. In unserer Mitte ist Lehrer Josef
Geyer zu sehen, der vierunddreißig Jahre hindurch in Perjamosch unterrichtete. Ihm zu Füßen darf ich die Schiefertafel mit dem Hinweis auf Klasse und Schuljahr vorzeigen. Lehrer Geyer ist gerade weniger gut gelaunt, aber so war er nicht, wenn er uns das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen bemüht war. Unverdrossen nahm er das Einmaleins mit uns durch, das wir gemeinsam herunterleierten und uns sogar merkten. Wir schrieben damals mit dem Griffel auf die Schiefertafel, die mit einem angefeuchteten Schwamm gelöscht werden konnte. Erst in der zweiten Volksschulklasse bekamen wir Bleistift und Heft. Es wird nicht ohne Mühe gewesen sein, uns das Stillsitzen und Hinhören beizubringen, aber die Schulordnung war eine ernste Sache, und so mag es sich erklären, warum auf dem Klassenfoto kaum einer zu lachen wagt.

Für sich allein sagt das allerdings nicht viel über die dreißiger Jahre im Banat. Es war Frieden, aber der Erste Weltkrieg lag gerade mal anderthalb Jahrzehnte zurück, und die Erinnerung an den alten Kaiser Franz Joseph war in den Familien noch recht gegenwärtig. Das Banat aber war einem neuen Vaterland zugeschlagen worden, in dem man noch nicht so recht angekommen war. Der neue König saß in Bukarest und das war, zumindest vom Gefühl her, viel weiter weg als Wien. Groß-Rumänien war entstanden, aber die Tage in Perjamosch kamen und gingen wie sonst, und es berührte den Alltag der Leute recht wenig, dass die neue Grenze mitten durchs Banat lief und Werschetz, Weißkirchen und Großbetschkerek nun zu Jugoslawien gehörten. „Das kann so nicht bleiben“, hörte man zwar die Alten sagen, aber es blieb so bis heute und stört nicht mehr. Wichtiger war auch damals schon die Ernte und, damit verbunden, der Getreidepreis. Der war so schlecht nicht, und es wurden alle satt. Das Geld freilich blieb weiterhin knapp, und so kam es, dass nicht wenige meiner Mitschüler bloßfüßig die Schule besuchten und so auch 1937 aufs Klassenbild kamen. Es war Mitte Juni, und da setzte man eher noch eins drauf und schor den Kindern den Kopf kahl, weil es doch eher darauf ankommt, was einer im Kopf hat und nicht auf dem Kopf. Auch alle Arten Hosenträger sind auf dem Klassenfoto zu sehen, dazu Kariertes und Gestreiftes, wie auch der unvermeidliche Matrosenanzug. An alldem ist zu sehen, dass es uns recht wenig bedrückte, rumänisch geworden zu sein und selbst unser Lehrer Geyer die Landessprache nicht beherrschte. Der neue König hieß Carol II. von Hohenzollern-Sigmaringen und war für uns so gut wie nicht vorhanden. Es wurde angeordnet, sein Bild in allen Ämtern und Läden auszuhängen. Mein Vater kam dieser Aufforderung nicht nach und riss, verärgert, das Bildnis kurzerhand in Stücke. Es hatte keine Folgen.

Milch und Honig

Nein, das Banat war nicht ein Land, in dem Milch und Honig fließen. Gewiss, es musste keiner hungern, und wer sich bemühte, gesund blieb und Glück hatte, konnte es auch zu etwas bringen – das Haus vergrößern, ein Stück Land erwerben, den Betrieb erweitern. Unser Kapital aber bestand vornehmlich aus unserem Fleiß und unserer Wirtschaftlichkeit. Wir legten zu, und das kam bei unseren anderssprachigen Nachbarn nicht immer gut an. Sie respektierten uns, ohne so sein zu wollen wie wir sind. Das war so unbekömmlich nicht für eine gute Nachbarschaft, in der jeder auf seine Weise den lieben Gott suchte und auch zu finden vermochte. Darüber hinaus galt auch im Banat die alte Regel, dass ohne Fleiß kein Preis zu erwarten ist. Wir waren in der Umsetzung dieser Erkenntnis ganz vorn – wenn auch nicht allein. Es ging nicht darum, anderen den Rang abzulaufen – wir wollten eher vor uns selbst bestehen und nach unserem Sinn erfolgreich sein. Maßvoll und, wenn es sich anbot, auch gern ein wenig darüber hinaus. Nicht alles aber konnte gelingen, und schon gar nicht einem jeden. So ist es schon gut, nach dreihundert Heimatjahren im Banat, von der Geschichtsschreibung nicht überblättert zu werden.

Wir ließen es nicht fehlen an Mühe und Fleiß und waren zur gegebenen Zeit gute Ungarn in der Doppel-
monarchie, die sich mit einem Ewigkeitsanspruch mitten in Europa ausbreitete und dennoch zerbrach, als hätte es sie nie gegeben. Drei Burschen – Jakob, Peter und Matz – wuchsen im Haus meines Großvaters in der Wendelinigasse auf. Die zwei Ältesten wurden – nachdem wir rumänisch geworden waren – zum Militär des neuen Königs Carol einberufen, und das war gegen das Selbstverständnis der Bauernburschen, die sich als ungarische Schwaben verstanden und es ablehnten im „gegnerischen“ Heer zu dienen. Sie gingen über die Grenze und fanden in Budapest Aufnahme und Arbeit – nur nach Hause, wo sie als fahnenflüchtig vermerkt worden waren, konnten sie nicht wieder. So übernahm Matz, der Jüngste, den Hof und diente im rumänischen Heer im guten Glauben, das Seine damit abgeleistet zu haben. Der „Führer“ und seine Handlanger im siebenbürgischen Kronstadt aber entschieden anders und zwangen ihm den feldgrauen Waffenrock und einen neuen Fahneneid auf. Er aber wollte nicht des Führers Held sein. Er wollte seinen Acker bestellen und darauf achten, seinen Kindern ein gutes Vorbild zu sein. Das war dem Führer nicht genug. Ihm war der Soldat Matz in Russland wichtiger. Aber der stieg aus. Eines Nachts verließ er die Truppe und wurde nicht wieder gesehen. Er hinterließ keine Nachricht und erhielt kein Grab an der Front und keines in der Heimat. Er wusste nicht weiter. – Er war stark genug für den Ausstieg.

Danke, Herr Professor!

Mit elf kam ich nach Temeswar in die Banatia und war Schüler des „Deutschen römisch-katholischen Knabenlyzeums in Temeschburg“, wie es sich amtlich bezeichnete. Mein Klassenlehrer war der damals junge, aus Siebenbürgen stammende Professor Heinz Feichter. Ich war Internatsschüler und somit dem Erziehungsprinzip des Domherrn Josef Nischbach untergeordnet, der uns mit fester Hand und männlich robust zu deutschen Katholiken heranzubilden bemüht war. Der inzwischen erstarkten deutschen Volkgruppenführung in Rumänien war das nicht straff genug. Sie enthob den Domherrn und späteren Prälaten seiner Erziehungsaufgabe in der Banatia, aus deutschen Knaben deutsche Männer heranzubilden. Es mag von den Amtsträgern der Volksgruppe nicht ohne Häme aufgenommen worden sein, den robusten Domherrn anschließend als Religionslehrer in einer Mädchenschule zu sehen.

Wir hießen jetzt Pimpfe, und uns wurde das Marschieren beigebracht. Voran die  Landsknechtstrommeln und wimpelgeschmückten Fanfaren, an der Flanke oder auch vorweg die noch sehr jugendlichen Kommandeure. Wir marschierten im Gleichschritt durch die Stadt und auch aus ihr hinaus, führten – noch im Spiel – Befehle aus, so unsinnig sie auch sein mochten. Es galt die Gefolgstreue, und sie bedingte den Gehorsam. Der Marsch setzte sich im Klassenzimmer fort, wenn in der Musikstunde Soldatenlieder eingeübt wurden. Wir sangen sie stehend und trommelten den Marschschritt mit den Schuhen auf den Fußboden. „Ob's stürmt oder schneit“, sangen wir, und „Bomben auf Engeland!“ Und in der Deutschstunde nahmen wir ebenso salbungsreiche wie ferngesteuerte Texte durch. „Deutschland, heiliges Wort, du voll Unendlichkeit...“ lasen wir, sagten es uns vor und sangen es. – Das war nicht mehr unsere „Banatia“, das war der Vorhof einer Kaserne, in dem wir auf den „Totalen Krieg“ vorbereitet werden sollten. Unsere Väter standen bereits tief in Russland, indessen unsere Großväter, noch gebrandmarkt von den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, wenig Verständnis für unsere uniformierten Aufmärsche aufbrachten.

Es war indessen nicht allein die Bedenklichkeit der Alten, die unsere aufkommende jugendliche Verführbarkeit und unseren Begeisterungswillen hinterfragten. Aus dem rumänischen und deutschen Heer entlassene Heimkehrer berichteten von Pogromen und Massenerschießungen, die wir zu glauben nicht bereit waren, obwohl es uns nicht entgangen war, dass die wenigen in unserem Dorf ansässigen jüdischen Familien nicht mehr unter uns waren. Zugleich sahen unsere Eltern in der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien, der Bukowina und Dobrudscha eine Bedrohung der eigenen Siedlungsgebiete im Banat und in Siebenbürgen, die, wie zu befürchten war, einer rassistischen Umvolkung Europas untergeordnet werden sollten. Der Wiener Schiedsspruch trieb zudem einen Keil ins siebenbürgische Herzstück, der weder die Ungarn befriedigen noch den Rumänen gefallen konnte. Die serbischen Nachbarn litten unter der Zerschlagung Jugoslawiens, wo die maßgeblich aus unseren Landsleuten rekrutierte Division „Prinz Eugen“ im Partisanenkrieg eingesetzt war. In der Heimat aber war es der Deutschen Volksgruppe gelungen, die Kirche – vormals unser moralischer Rückhalt und Kulturfaktor – zu entmündigen. Wir beteten nicht mehr, wir marschierten. Wir urteilten nicht mehr, wir gehorchten.

Ich ging inzwischen wieder in meiner Heimatgemeinde Perjamosch zur Schule, wo in den Räumen der Bürgerschule ein Lyzeum eröffnet worden war. Zu meiner nicht geringen Überraschung begegnete ich dort, völlig unvermutet, meinem Klassenlehrer aus der Banatia, Heinz Feichter, wieder, der, wie zu hören war, im nun völkisch umgestalteten rumäniendeutschen Schulwesen als störend empfunden wurde und in die entlegene Provinz, nach Perjamosch, versetzt worden war. Das Gleiche wurde meinem neuen Klassenlehrer Andreas Kloos nachgesagt, der aus dem siebenbürgischen Mediasch hinauskomplimentiert worden war, um in Perjamosch deutsche Literatur zu unterrichten. Wir liebten ihn. Er trug zwar vorzugsweise hohe Schaftstiefel, die zu tragen damals als linientreu galt, gab sich indessen in keiner Weise militärisch, und seine Deutschstunden bewegten sich sichtbar entgegen der Marschrichtung. In den Buchhandlungen stapelten sich die Bücher über die neuen deutschen Helden zu Lande, in der Luft und zur See – aber unser Deutschlehrer Kloos empfahl uns, davon unberührt, die Novellen von Theodor Storm. Wir nahmen dessen zartfühlende Novelle „Pole Poppenspäler“ durch, in der zwei junge Menschenkinder auf Umwegen zueinander finden. Dass die Handlung im Umfeld eines Kasperletheaters spielt, mag, mit einem Seitenblick auf das damalige völkische Trara vor der Tür, durchaus die Auswahl der Novelle mitbestimmt haben. Heute, viele Jahrzehnte danach, kommt es mich immer noch an zu sagen: „Danke, Herr Professor.“

Die Güter der Erde

Sie gehören auf unserem Globus keineswegs allen Gotteskindern gemeinsam, und so hat unsere Freiheit immer mit dem zu tun, was wir besitzen und beanspruchen. Darüber wird viel gesagt und gestritten, denn eng verbunden mit dem Besitz ist das Recht. Es ist, meinen wir, der Ursprung unseres Willens für Würde, Sicherheit und Fortschritt. Es sucht den Ausgleich und dient dem Frieden. Den zu sichern glückt uns indessen nicht, denn es gelingt uns weder im Kleinen noch im Großen immer gerecht zu sein. Es gibt Gewinner und Verlierer, und wenn genug Zeit vergangen ist, können die einstigen Verlierer aufholen und wieder ganz oben mitreden. Die Prinzipien des Rechts erweisen sich dabei als anpassungsfähig, denn es muss schließlich weiter regiert, verdient und gedient werden.

Wir Banater Schwaben haben in einem Krieg, der unser Krieg nicht sein konnte, alles verloren. Die heimgekehrten Flüchtlinge, zu denen meine Familie gehörte, erfuhren das vorweg. Erniedrigt und ausgeplündert – buchstäblich mit nackter Haut – fanden wir uns in einer Heimat wieder, die es nicht mehr war. Knapp einen Monat nach dem ruhmlosen Untergang des „Dritten Reiches“ kehrten wir zurück ins Nichts. Vater und Bruder waren in den Verliesen des Hunyadi-Kastells in Temeswar interniert, indessen meine Mutter und ich mit etwas Handgepäck in der Heimatgemeinde Perjamosch aus dem Zug stiegen und auf der Straße standen. In unser Haus war der Lokalfunk (Difuzor) eingezogen, während die hinteren Räume von der uns gut bekannten Frau „...escu“ bezogen worden waren, die uns zwar nicht ohne Anstand begrüßte, sich aber jeder uns betreffenden Frage enthoben wähnte. Drei Häuser weiter nahm uns die Cousine meiner Mutter auf – vorübergehend, und es verdient unbesehen unser Vergeltsgott. Wie durch ein Wunder hatte die uns aufnehmende Familie unbeschadet den Krieg überstanden, ohne dabei „auch nur eine Nähnadel“ verloren zu haben.

Es stand uns indessen nicht an, über das kluge Verhalten in Katastrophenlagen nachzudenken. Wir waren auf Gnade angewiesen, und das macht klein. Was dennoch vor allem zählte: Unsere Familie war vollzählig beisammen, und das traf 1945 auf die wenigsten deutschen Familien unseres Dorfes zu. Zudem renkte sich – wenn auch nur nach und nach – scheinbar manches auch wieder ein. Wir verdienten in der vormals eigenen Bäckerei als bezahlte Arbeitskräfte unser Auskommen und durften – nach langen Wartejahren – wieder in unser Haus zurück. Gleichlaufend erhielten wir den Großteil der Ausstattung wieder, die von Nachbarn nach unserer Flucht geborgen worden war. „Gerettet“ – wie es hieß und auch, in letzter Konsequenz, zutraf. (Heute hat das Haus einen neuen rechtmäßigen Besitzer, der ihm einen etwas anderen Zuschnitt gab, der Zeit und den neuen Ansprüchen angemessen. An unsere Familie erinnert noch die Grabstelle auf dem Friedhof, von der Heide überwuchert, die den ganzen Sommer über blüht.)

Was noch zu sagen wäre: Es hilft der Freiheit des Menschen nicht weiter, wenn die wesentlichen Entscheidungen nicht ihm selbst überlassen sind, denn alle Philosophie verdirbt an ihrer verordneten Umsetzung. Der Aufstand der „Proletarier aller Länder“ erstickte am Missverständnis im Umgang mit der Macht. Wenn Not und Willkür kein Ende nehmen, geht unser Blick über die Heimat hinaus ins Fremde. Einst war das Banat ein Traumland, dann Amerika, und heute ist Deutschland ein Traumziel für viele geworden, die hungern, Krieg und Unrecht durchleiden. Es ist ein sicheres Land, in dessen Grundgesetz die Würde des Menschen an erster Stelle steht. Wir sind darauf stolz und wissen zugleich, wie schwierig es ist, diesen Grundgedanken im Alltag umzusetzen. Es mag uns nur zum Teil gelingen, aber es ist auch in Teilen unverzichtbar in einer Zeit, in der uns die Zehn Gebote nur noch eine ferne Erinnerung an unsere Kindheit sind.

Korn und Zucker

Vorbei war die Zeit, in der wir anspannen und frei zum Tor hinauslenken konnten zur Laub-Mühle hin und mit anderthalb Zentner schweren Mehlsäcken hochbeladen wieder zurückkehrten. Heimgekehrt von der Flucht, verbrachten wir in unserem Handwägelchen lediglich einen Sack Weizen zur Mühle, denn das Brot war knapp geworden in der Kornkammer Banat. Noch im Sommer vor der Flucht hatte mein Vater einen Waggon Weizen in der Laub-Mühle eingelagert, um für den Winterbetrieb der Bäckerei gerüstet zu sein. Im Sommer danach war nichts mehr wie vorher, und auf das was weg war, konnte kein rechtlicher, ja nicht einmal ein moralischer Anspruch er-hoben werden.

Der Müller Laub war anderer Ansicht, denn seine Lagerbestände – wohl verwahrt – hatten Krieg und Kriegsende unbeschadet überstanden, und er teilte das seinen Kunden mit, obwohl ihn zu dieser Zeit keine Instanz dazu verpflichten konnte. Es war der Anstand seinen Kunden gegenüber, der ihn so entscheiden ließ, das einfache Rechtsempfinden und vielleicht auch die stille Hoffnung auf eine kommende Friedenszeit, in der alles wieder zur alten Ordnung zurückfinden würde. Er teilte meinem Vater mit, dass der von ihm eingelagerte Weizen die Kriegswirren unbeschadet überstanden hätte und wir somit – abzüglich eines Lagerbetrags – darüber verfügen könnten. In der bitteren Not des Augenblicks fiel es uns zu wie das Manna vom Himmel. Daran zu erinnern, ist geboten. Denn es waren schwere Jahre des Unrechts zu überstehen, in denen den Banater Schwaben der Makel der Kollektivschuld übergestülpt wurde. Wir waren schutzlos der neuen Gewalt ausgeliefert, die sich vorgenommen hatte, die Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild zu revolutionieren. Wir galten nicht nur als der rücksichtslos zu bekämpfende Klassenfeind schlechthin – unsere Männer waren im Russlandfeldzug eingesetzt, und an den Feiertagen hatten wir mit dem Hakenkreuz pflichtgemäß geflaggt. Wir wurden enteignet, entrechtet und deportiert. Rumänische „Kolonisten“ nahmen, was da war, in Besitz und zogen in die gute Stube ein.  Aber wir wussten auch, dass es schlimmer sein konnte, dass im serbischen Banat, nur wenige Kilometer weiter, die schwäbischen Nachbarn in Todesnot geraten waren – und dass die Welt wegsah.

Es gab keine Hoffnung, und doch lebte jeder auf eine solche zu. Jeder wusste, dass es so, wie es vor dem Krieg gewesen ist, nie wieder sein wird, und dass unsere Hilfe zur Selbsthilfe nur ganz unten anzusetzen war. 768 in unser Dorf zugewanderte rumänische Familien erhielten jeweils fünf Hektar Ackerland urkundlich übereignet, besetzten die Häuser und beschlagnahmten die landwirtschaftlichen Geräte, wobei jeder versuchte Widerstand der schwäbischen Besitzer brutal ausgeräumt wurde. Ein erster Schub zur Selbsthilfe ging von der Temeswarer Zuckerfabrik aus, die in den Maroschwiesen großflächig Zuckerrüben anbaute und Arbeitskräfte suchte. Sie bezahlte schlecht, aber ermöglichte die Gründung einer vertraglich festgeschriebenen Arbeitsgemeinschaft, stellte keine Fragen und musterte keinen aus. Siebenundsechzig eingeschriebene Mitglieder schlossen sich zur ersten kollektiven
Arbeitsgemeinschaft zusammen, der neben enteigneten Bauern und Handwerkern brotlose Heimkehrer, alleinstehende Mütter und Halbwüchsige zuliefen. Angenommen wurde jeder, der über eine Rübenhacke verfügte.

So begann auch für mich, gerade mal fünfzehn geworden, der Broterwerb als landwirtschaftlicher Hilfsarbeiter. Mir zur Seite der gleichalt-rige Bubi Ochsenfeld, der sich mit seiner überdimensionalen Hacke athletisch, wenn auch weniger vorschriftsmäßig, nach vorn arbeitete – oder doch so tat. Wir nannten ihn Bill, was seinem Ungestüm – wie wir meinten – besser zustand. Einige Jahre danach war er maßgeblich an der Gründung der Perjamoscher Handballmannschaft beteiligt, die sich in die A-Liga hochkämpfte, und wieder Jahre danach besuchte ich ihn in München – was uns damals auf dem Zuckerrübenfeld niemand vorauszusagen gewagt hätte. Er gehörte nicht zu denen, die im Banat bessere Zeiten abzuwarten vorhatten. Wie er dachten viele, und nicht wenige wagten die Flucht über die streng bewachte ungarische oder serbische Grenze – was nicht immer gelang und Gefängnisstrafen oder auch den Tod zur Folge hatte. Nikolaus Korber – als Besitzer der Hutfabrik der ehemals größte Arbeitgeber in Perjamosch – wurde beim versuchten Grenzübergang getötet. Franz Wilhelm, an der serbischen Grenze aufgegriffen, wurde der rumänischen Gerichtsbarkeit überstellt, die ihn – auch das kam vor – nach einem Schauprozess im Perjamoscher Kulturheim freisprach und sich von dieser vordergründig großmütigen Geste vergeblich einen politischen Überzeugungserfolg versprach.

Es konnte, nach zwei Deportationen, Enteignung und Entmündigung, naturgemäß nicht gelingen, aus den Banater Schwaben rumänische Patrioten zu machen, und noch weniger überzeugte Parteigänger der sozialistischen Revolution. Der rumänische Sonderweg – von Gheorghiu-Dej eingeleitet und ebenso theatralisch wie dilettantisch von Ceauşescu inszeniert – führte im Endstadium zur katastrophalen Unterversorgung der Bevölkerung bei gleichzeitiger totaler Überwachung und zunehmender restriktiver Maßnahmen. So gesehen, wurde es uns leichter gemacht, das Banat zu verlassen – und es war dennoch so leicht nicht. Wir verabschiedeten uns aus der Geschichte. Was daraus zu lernen wäre, ist vielleicht die Einsicht in die Endlichkeit von Mühe und Besitz. Es hätte allerdings nicht zwingend sein müssen, dafür ein Beispiel abzugeben.