Ulm, die ehemalige Reichsstadt an der Donau, war schon immer von Aus- und Einwanderung geprägt. Migration ist Teil der Stadtgeschichte. Mittlerweile haben 41 Prozent der Ulmer Bürgerinnen und Bürger ausländische Wurzeln, das sind rund 50000 Menschen. Sie sind aus über 170 Nationen in die Donaustadt gekommen, die meisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Migration seit 1945 hat das Gesicht der Stadt verändert und die Stadtgesellschaft maßgeblich beeinflusst. Das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen, religiösen und sozialen Prägungen zu gestalten, war schon immer und ist heute mehr denn je eine große gesellschaftliche Herausforderung. Mit der Verabschiedung des Konzepts „Ulm: Internationale Stadt“ im Jahr 2012 und der Einrichtung einer Koordinierungsstelle zu dessen Umsetzung und Fortentwicklung hat sich Ulm dieser Herausforderung gestellt und den Umgang der Stadt mit ihrer Internationalität zur Aufgabe von Kommunalpolitik und städtischer Gesellschaft gemacht.
Wie sich die Entwicklung Ulms zur internationalen Stadt vollzogen hat, erforschte der junge Historiker Tobias Ranker vom Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg. Das Ergebnis seiner Arbeit liegt nun in Form eines 368 Seiten starken Buches vor mit dem Titel „Auf dem Weg zur internationalen Stadt. Migration nach Ulm seit 1945“. Dessen Grobgliederung und inhaltlichen Schwerpunkte hatte Ranker bereits 2012 anlässlich eines Symposiums zum Abschluss des
Jubiläumsjahres „Aufbruch von Ulm entlang der Donau 1712/2012“ skizziert. Die Tagungsbeiträge sind zwei Jahre später in dem Sammelband „Migration und Mythen. Geschichte und Gegenwart – Lokal und global“ erschienen. Die Kulturabteilung der Stadt Ulm erteilte Ranker daraufhin den Auftrag, das Thema „Migration nach Ulm seit 1945“ im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts zu vertiefen. Entstanden ist eine auf der Sichtung und Auswertung der einschlägigen Aktenbestände und der zeitgeschichtlichen Sammlung des Ulmer Stadtarchivs basierende Überblicksdarstellung, die den Fokus auf die großen Migrationsbewegungen und verschiedenen Zuwanderergruppen richtet. Das gefällig aufgemachte Buch, dessen Text durch eine Vielzahl von teilweise bislang unveröffentlichten Bildern und grafisch aufbereitetes Zahlenmaterial ergänzt wird, wurde von der städtischen Kulturabteilung herausgegeben und ist im Ulmer danube books Verlag erschienen.
Der Autor spannt den zeitlichen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den großen Migrationsbewegungen von 2015/2016 und nimmt neun große Migrationsgruppen in den Blick, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist: 1. Displaced Persons (ausländische Zivilpersonen, die nach Kriegsende in Ulm gestrandet waren: ehemalige Zwangs- und Fremdarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge sowie in den Jahren 1946/1947 aufgrund antisemitischer Exzesse vorwiegend aus Polen geflüchtete Juden); 2. Deutsche Heimatvertriebene und Flüchtlinge; 3. Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR; 4. Arbeitsmigranten, einst sogenannte Gastarbeiter, die aufgrund der Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland vor allem aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei und Jugoslawien nach Ulm gekommen sind; 5. Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten; 6. Aussiedler und Spätaussiedler; 7. US-Soldaten, die in Ulm stationiert waren, und deren Familienangehörige; 8. Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die über das Kontingentflüchtlingsgesetz eingereist sind; 9. Ausländische Studierende und zugewanderte Hochqualifizierte.
Indem er – dank des synthetischen Überblicks – das Ganze ins Auge zu fassen versucht, verdeutlicht Tobias Ranker die Vielfältigkeit sowie die Gleichzeitigkeit der im Ausmaß zwar schwankenden, jedoch stets kontinuierlichen Zuwanderung nach Ulm seit 1945. Das Buch beleuchtet die Gründe für das Verlassen des Herkunftslandes, die zu unterschiedlichen Migrationsformen führen, je nachdem, ob die Migration freiwillig oder erzwungen erfolgt, ob sie temporär oder permanent ist. In Ulm finden sich alle wichtigen Migrationsformen: Zwangsmigration im Falle der Displaced Persons, der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, der Sowjetzonen- beziehungsweise DDR-Flüchtlinge sowie der Asylbewerber, Arbeitsmigration, Bildungsmigration, militärische Migration. Einen Sonderfall stellen die Aussiedler und Spätaussiedler dar, die aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit ihr im Grundgesetz verankertes Recht wahrnahmen, nach Deutschland einzureisen und eingebürgert zu werden, ebenso die jüdischen Kontingentflüchtlinge aus Osteuropa, die mit der Einreise einen gesicherten Aufenthaltsstatus hatten und nach einigen Jahren einen Einbürgerungsantrag stellen konnten.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind viele zehntausende Menschen aus anderen Ländern nach Ulm gekommen. Nicht alle sind geblieben, denn Migration – auch das beschreibt Ranker – kann vorüber-gehenden Charakter haben, beispielsweise im Falle der Arbeitsmigration. So sind von 1960 bis 1973 ca. 51000 Ausländer in die Donaustadt gekommen, davon sind allerdings über 41000 (also rund 80 Prozent) wieder fortgezogen. Für manche war also Ulm lediglich ein geplanter oder zufälliger Zwischenstopp, viele aber blieben in Ulm hängen, haben hier Arbeit und eine neue Heimat gefunden und einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Stadt geleistet.
So unterschiedlich die Gründe für Migration in dem im Buch betrachteten Zeitraum waren, so verschieden waren auch die Umstände der Ankunft und des Sich-Einlebens in der Stadt, die vorgefundenen Aufnahmebedingungen, die Wohnungssituation und die Beschäftigungsmöglichkeiten, der Verlauf des Eingliederungsprozesses und nicht zuletzt das wechselseitige Verhältnis zwischen den Zugewanderten einerseits, der Stadt und der Bevölkerung andererseits. Jede der untersuchten Zuwanderergruppen hat ihr Spezifikum, was aber nicht heißt, dass bei einer vergleichenden Betrachtung neben den Unterschieden auch Gemeinsamkeiten ausgemacht werden können. Zu letzteren gehört auch, dass die Zuwanderung immer auch zu Spannungen geführt und nicht selten teils heftige politische Debatten ausgelöst hat.
Vor allem die Zuwanderung nach Ulm in der unmittelbaren Nachkriegszeit stellte die Stadt vor große Probleme. In dem den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen gewidmeten Kapitel zitiert Ranker den Ulmer Beirat, der am 26. Oktober 1945 abwägte, ob eine von Fliegerangriffen so zerstörte Stadt wie Ulm sich nicht ganz gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehren sollte. Die Wohnungsnot der Ulmer Bevölkerung müsse Priorität besitzen, bevor man sich um die Flüchtlinge kümmern könne, denn „die eigenen Angehörigen liegen einem doch näher“. Die Stadt errichtete zwar in der Kienlesberg-Kaserne ein großes Auffang- und Durchgangslager, das – aus leicht nachvollziehbaren Gründen – im Volksmund den Beinamen „Berg der Schmerzen“ bekam, verhängte jedoch angesichts des knappen Wohnraums eine Zuzugssperre. Die Flüchtlinge wurden auf den Landkreis verteilt, wobei deren Einquartierung in Privathäusern – was Einheimische als Eindringen in die Privatsphäre empfanden – zu massiven Konflikten führte.
Wie der Autor darlegt, kam das Gros der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge erst ab 1950 – im Zuge der von der Militärregierung durchgeführten „Umsiedlungen“ zwischen den Bundesländern, der Aufhebung der Zuzugssperre sowie des einsetzenden Wohnungsbaus – nach Ulm. 1961 lebten 16168 Vertriebene in Ulm, was 17,9 Prozent der Stadtbevölkerung entsprach. Ranker weist auf den schwierigen Eingliederungsprozess hin, aber auch auf den maßgeblichen Anteil der leistungsorientierten und aufstiegswilligen Vertriebenen am Wirtschaftswunder der 1950er Jahre. Außerdem unterstreicht er die große Bedeutung der Eingliederungsgesetzgebung, die zu einer geglückten Integration der Vertriebenen beitrug.
Was die Gruppe der Aussiedler und Spätaussiedler anbelangt, verlief deren Zuwanderung nach Ulm – wie in die Bundesrepublik insgesamt – bis zu den politischen Umwälzungen im Ostblock ab Mitte der 1980er Jahre und dem Fall des Eisernen Vorhangs relativ konstant, um danach stark anzusteigen. Der Autor geht auf die hoch emotionalisierte Zuwanderungsdebatte Anfang der 1990er Jahre ein, als sowohl die Zahl der Asylsuchenden als auch jene der Aussiedler einen bis dahin historischen Höchststand erreichte und die Aussiedlerthematik von der Asyldebatte überlagert wurde. Erwähnt wird die damals in Teilen der Gesellschaft vorherrschende Meinung, die Aussiedler seien im Wohnungs- und Rentenbereich bessergestellt, was dazu führte, dass ihnen Neid und Ablehnung entgegenschlug. Breiten Raum nehmen die in den 1990er Jahren beschlossenen gesetzlichen Verschärfungen und Einschränkungen ein, wonach das Sich-Einleben der Aussiedler, ihre Wohnsituation und ihre berufliche Eingliederung erörtert werden.
Stellvertretend für die Gruppe der Aussiedler und Spätaussiedler geht Tobias Ranker etwas näher auf die Banater Schwaben ein, die ein besonderes Verhältnis zu ihrer Patenstadt Ulm pflegen und hier seit 1974 ihren Heimattag abhalten.
Rankers Buch stellt ein grundlegendes Werk zur jüngsten Migrationsgeschichte der Stadt Ulm dar. Es macht deutlich, wie die Donaustadt zu dem geworden ist, was sie heute ist: eine internationale Stadt, die ihre Vielfalt als Kapital betrachtet. Der lokale Blick macht die Migrationsprozesse am konkreten Ort erfahrbar und bringt diese auf anschauliche Weise näher.
Tobias Ranker: Auf dem Weg zur internationalen Stadt. Migration nach Ulm seit 1945. Ulm: danube books Verlag, 2018. 368 Seiten. ISBN 978-3-946046-10-3. Preis: 19.90 Euro.