Rumänien war in diesem Jahr Gastland auf der Buchmesse Leipzig. Aus diesem Anlass hat der Wagenbach-Verlag die Anthologie „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ herausgegeben. „Rumänien neu erzählen“ ist der Untertitel und gleichzeitig der Anspruch dieses Bandes. Darin versammelt sind Texte von rumänischen, rumäniendeutschen, ungarischen und deutschen Autoren. Die gelungene Auswahl der Autoren und Texte hat das Projekt sicherlich den kundigen Herausgebern zu verdanken: Michaela Nowotnick, Literaturwissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität mit Forschungsschwerpunkt auf dem Gebiet der rumäniendeutschen und zeitgenössischen Literatur, sowie Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Wer viel und gerne liest, hat sich schon mindestens einmal darüber geärgert, dass vermeintlich spannende Anthologien sich bei der Lektüre als minderwertige literarische Resterampe entpuppen. „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ ist das genaue Gegenteil davon und zeigt eindrucksvoll, dass es auch anders geht. Die hier versammelten Beiträge sind vom Feinsten – und durchweg Erstveröffentlichungen. Die ganze Vielfalt einer, wie es im Klappentext heißt, „europäischen Literaturlandschaft“ spiegelt sich in diesen Texten.
Neben Prosa und Gedichten sind einige Texte auch schreibende Annäherungen an ein unbekanntes oder teilweise unbekanntes Land, so zum Beispiel der Reisebericht des bekannten deutschen Schriftstellers Uwe Tellkamp („Der Turm“), der den rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu besucht und bei dieser Reise auch dem rumäniendeutschen Autoren Eginald Schlattner begegnet. Oder die Reise der gebürtigen Hamburgerin Mara-Daria Cojocaru in das Land, zu dem sie familiäre Bindungen hat. Oder das Interview mit dem aus Dresden stammenden Schriftsteller Ingo Schulze („Neue Leben“), der einen sehr interessanten Blick auf Rumänien vor der Revolution liefert – von außerhalb des Landes, aber von innerhalb des Eisernen Vorhangs.
Eginald Schlattner ist mit einem eigenen Text vertreten, einem Auszug aus seinem neuen Roman „Wasserzeichen“, der in diesem Jahr erscheinen wird. Weitere rumäniendeutsche Autoren, die sich in der Anthologie finden, sind: Franz Hodjak, Werner Söllner, Frieder Schuller, William Totok, Joachim Wittstock und Iris Wolff. Die Themen sind so bunt und vielfältig wie Rumänien selbst. Mal steht die Vergangenheit im Fokus wie in „Sanatorium Dr. Tartler“, das die Geschichte einer Hermannstädter Krebsklinik erzählt, oder in „Bogdanowka Heiligabend“, die gnadenlos realistische Schilderung eines Massakers an Juden während des Zweiten Weltkrieges. Andere Beiträge blicken auf die Gegenwart, auf die Transformation eines ganzen Landes von einer bewegten Vergangenheit in eine manchmal hoffnungsvolle, noch unbekannte Zukunft, so in Jan Koneffkes lyrischem Abgesang auf Bukarest. Viele Texte haben das Neben- und Miteinander der verschiedenen Ethnien im literarischen Gepäck. In Eginald Schlattners Romanauszug „Der Bolschewik und die Baronin“ heiratet ein Siebenbürger Sachse – und Kommunist – die Tochter einer ungarischen Adligen. Unter so viel Konfliktpotenzial leidet nicht nur das Ehepaar, sondern auch noch die nächste Generation.
„Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ erinnert an ein Kaleidoskop: Mit jeder Bewegung fallen die literarischen bunten Steine in neue, andere Muster. Dieser gelungenen Mischung sind viele Leser zu wünschen, auch außerhalb der rumäniendeutschen Zielgruppe. Es gibt viel zu entdecken!
Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach (Hrsg.): Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen. Berlin: Wagenbach Verlag, 2018. 238 Seiten. ISBN 978-3-8031-2794-5. Preis: 13,90 Euro