„Und weil ihr Leben bedroht ist, glauben die Dichter an die Literatur wie andere an die Wirklichkeit“, schreibt Elke Heinemann in „Ein Buch fürs Volk“ in der Wochenzeitung Die Zeit vom 25. März 1994 über den Schriftsteller Alexandru Serban, Hauptprotagonist in Ana Blandianas Roman „Die Applausmaschine“. Alexandru war bei einem Hausbesuch von Geheimdienstleuten der Securitate in einer Bukarester Wohnung aus Angst davongelaufen. Herta Müllers Antriebskraft zum Schreiben entspringt ebenso einer Bedrohung, und zwar jener durch den Geheimdienst Securitate in Rumänien. Die Angst inspirierte sie zur Literatur und flößte ihr den literarischen Überlebenswillen ein. Auf die Frage des Schriftstellers Michael Lentz in dem 2010 veröffentlichten Buch „Lebensangst und Worthunger“ sagt Müller dazu: „Ich glaube, Überdruss am Staat und Todesangst machen ganz andere Sätze als Gleichgültigkeit und Gewöhnlichkeiten. Darum nimmt einem das Schreiben ja auch die Angst, darum gibt es Halt – einen imaginären Halt, keinen wirklichen. Halt nach innen, nicht nach außen“ (S. 15).
Ihr Antrieb nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes in der Fabrik in Temeswar, nur noch auf der Treppe zu sitzen und doch weiter ihre Arbeit zu machen, trieb sie zum Schreiben. Schreiben aus der Einsamkeit der Situation heraus über das ihr Naheliegende: ihr Dorf und „diese Eltern“, denn „dieses Dorf war ein Stück vom Staat. Es war eine Art von Eskapismus, in dem ich einem banatschwäbischen Dorf nachspürte“, so Müller. Diese Ablenkung von der Angst der Einsamkeit, des Verlustes des Arbeitsplatzes und der Verleumdung durch die Umgebung sowie der Bedrohung der Securitate, mit der sie nicht kollaborieren wollte, ließ Herta Müller die Geschichten über das banatschwäbische Dorf aufschreiben. „Das Dorf wurde, je länger und tiefer ich mit dem Kopf in die Kindheit stieg, zu einer Kiste mit Bewohnern, die sich nicht aus den Augen lassen – und nicht ertragen können“ (S. 23). Es war wie ein Wettlauf gegen die Zeit, dieses Schreiben von Geschichten, die der Wirklichkeit entsprungen sind und doch fiktional blieben. Es entstanden die „Niederungen“. Eindrucksvoll erzählt Herta Müller über die Antriebskraft der Angst im Alltag, in der Fabrik, von der Bedrohung durch den Geheimdienst und ihren eigenen Suizidgedanken. Das Gefühl der Angst definiert sich in Form von Metaphern in ihren Romanen und Erzählungen. Um dem täglichen Überdruss standzuhalten, um diese ideologische Sprache im Kommunismus zu überwinden, um die Angst, etwas zu ertragen mit Mut, der Angst als moralisches Verhalten, die das Tun bestimmt, gegenüberzustellen, flüchtete sie in Metaphern. Denn diese waren vom Geheimdienst nicht greifbar. Das war ein beliebtes Stilmittel, die Zensur und die Zensoren zu umgehen und sich eine eigene Freiheit der Sprache zu schaffen. Begriffe wie Angst, Feigheit stehen anderen wie Mut, Offenbarung gegenüber. Sie definieren sich von selbst in ihren Texten.
Im Gespräch in „Worthunger und Lebensangst“ stehen sich zwei Schriftsteller gegenüber, die unterschiedlich und doch wesensverwandt sind durch ihr Schreiben. Michael Lentz, der 2001 den Bachmann-Preis mit seiner Erzählung „Muttersterben“ erhielt und seitdem mit seinem Roman über den Aufenthalt Thomas Manns im Exil „Pazifik Exil“ und seinen Liebesgedichten zu einem der wichtigsten Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur avancierte, steht der etwa zehn Jahre älteren Herta Müller mit seinen Fragen zum Thema Schreiben, Erinnern und Vergangenheitsbewältigung gegenüber. Eines verbindet jedoch beide Dichter: ihre Bewunderung für die Lyrik Oskar Pastiors. Lentz hat bereits 2007 einen Gedichtband mit einer von ihm ausgewählten Gedichtreihe Pastiors herausgegeben und spielt und jongliert selbst als Sprachkünstler und Sprachakrobat geschickt mit Wörtern, ebenso wie Pastior und Herta Müller in ihren Collagengedichten und nicht zuletzt mit ihren Wortschöpfungen in den Prosastücken.
Lentz stellt Herta Müller Fragen: die Frage nach dem Sinn des Schreibens, nach der Aufgabe der Literatur, nach der Funktion und Besonderheit ihrer Sprache, nach der Definition der Menschen durch Dinge und Erlebnisse, nach der Macht oder Allmacht des Geheimdienstes, nach der Rolle der rumänischen Sprache in ihrem Schreiben und nach der Entstehungsgeschichte ihres letzten Romans Atemschaukel. Er bewertet bereits fast mit jeder Frage die außergewöhnlichen und bewundernswerten kreativen Gaben der Nobelpreisträgerin, ihre Lyrik und Prosa, ihren Stil, ihre Besonderheiten, ihren „poetologischen Ethos“ (wie er es nennt). Wenn sie bei ihrer Nobelpreisrede in Stockholm begeisterte mit einer einfachen Geschichte über ein Taschentuch, an das sie ihre Mutter stets beim Verlassen des Hauses erinnerte, so verzaubert sie eben diese kleinen Dinge des Alltags mit einer Dingsprache, denn Gegenstände gehören zum Bild des Menschen. Im Roman Atemschaukel war es die Herzschaufel, das Seidentuch oder das Grammophonkistchen von Leo Auberg, die sich in die Handlung einmischten. „Gegenstände sind unsere ins äußere Material gestellten Eigenschaften … Orte sind die Verlängerung des Menschen. Und Orte spielen mit, bei allem, was Menschen tun“ (S. 26). In Müllers Geschichten definieren sich Orte durch die Menschen, sei es das Banater Dorf, das russische Arbeitslager oder die Temeswarer Fabrik (in „Heut’ wär ich mir lieber nicht begegnet“). Herta Müller hat unsere Banater Orte, die Erinnerung daran, literarisch verewigt und in den Kanon der großen Literatur eingereiht. Als 2009 die Entscheidung fiel für die Vergabe des Nobelpreises an die Banater Schriftstellerin, sagte ein Journalist: „Warum nicht statt der amerika-
nischen Provinz (Philip Roth) einmal wieder die (ost)-europäische Provinz ehren!“
Mit dieser Begründung legte er nur ein Motiv, wofür Herta Müller mit ihrem „stummen Irrlauf“ den Preis und die Bewunderung verdient hat („… das ist das, was einen so verblüfft, als würde man es vor Bewunderung nicht mehr aushalten“). Herta Müller hat sich durch ihre Angst geschrieben als Flucht vor der Wirklichkeit. Für diese Angst hat sie Worte, Geschichten, Gedichte gefunden, die hängenbleiben. Die Angst ist ein Urtrieb des Menschen und diente in der Literatur des öfteren als Ausgangspunkt von Werken. Bei Herta Müller war die eigene Angst Antriebskraft ihres Schreibens und ihre Rettung! Auch wenn manche Leser Unbehagen beim Lesen ihrer Werke empfinden mögen. „Unter Druck und in Isolation funktioniert die Literatur als einzig mögliches Ventil – und lebt im zufriedenen Literaturbetrieb der Bundesrepublik mit uralten Kränkungen und Erregungen bis heute weiter. Die Securitate als die schlimmere Stasi? Bis zu Herta Müllers Nobelpreis – dem weltliterarischen Adelstitel für das Banat – hat diese Frage eher die Beteiligten interessiert“, schreibt Dirk Schümers in seinem Beitrag „Nie wurde Poesie ernster genommen“ in der F.A.Z. vom 21. Januar 2011. Und da wären wir wieder bei der Ausgangsidee.
Herta Müller: „Lebensangst und Worthunger“. Im Gespräch mit Michael Lentz. Leipziger Poetikvorlesung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 56 Seiten, 8 Euro.