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Kanon der Kunstgeschichte maßgeblich geprägt (Teil 2)

Edvard Munch: Porträt Julius Meier-Graefe, 1895

Eugen Spiro: Bildnis Julius Meier-Graefe, 1913

Leo von König: Bildnis Julius Meier-Graefe, 1935

Umwertung deutscher Kunst und Künstler

Nachdem sich das Pariser Geschäft finanziell als nicht erfolgreich erwies, verkaufte Meier-Graefe sein „Maison Moderne“ und kehrte im Frühjahr 1904, „frei von jedem belastenden Reichtum“, nach Berlin zurück. Er gewann Hugo von Tschudi, den Direktor der Berliner Nationalgalerie, für den Plan, eine „Jahrhundertausstellung“ deutscher Kunst zu veranstalten. Meier-Graefe hatte wesentlichen Anteil an der raschen Verwirklichung des Unternehmens, dem er entscheidende Impulse zu geben vermochte. Seine maßgebliche Mitarbeit an der 1906 in der Berliner Nationalgalerie gezeigten Ausstellung „Ein Jahrhundert deutscher Kunst. 1775-1875“ verhinderte sein Odium, ein Franzosenfreund zu sein, nicht, hatte er doch in seiner „Entwicklungsgeschichte“ dem französischen Impressionismus eine herausragende Stellung eingeräumt. So schreibt Alfred Lichtwark am 20. November 1904 an Hugo von Tschudi: „Meier-Graefe ist in einer schwierigen Lage. Man hält ihn für erzfranzösisch. Man glaubt ihm seine plötzliche Bekehrung zu Deutschland nicht.“ Es erscheine ihm „gefährlich, wenn der Schein entsteht, dass Meier-Graefe die Zusammensetzung der Ausstellung bestimmt“. Meier-Graefe schied Anfang 1905 aus dem Organisationskomitee der Ausstellung aus, wirkte jedoch hinter den Kulissen weiter. Für den zweiten Band des Ausstellungskatalogs, dem Katalog der Gemälde, verfasste er die Farbbeschreibungen der sämtlich schwarz-weiß reproduzierten Abbildungen. Die sogenannte „Jahrhundertausstellung“ gilt bis heute als Meilenstein in der kunstgeschichtlichen Rezeption der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Die Schau setzte sich in der Auswahl der Exponate deutlich von der offiziellen akademischen Malerei – insbesondere der Historienmalerei – ab und ließ einer ganzen Generation von Malern, die bislang aus dem offiziellen Kunstbetrieb ausgegrenzt geblieben waren, die lange überfällige Anerkennung zukommen. Auch die Werke von Caspar David Friedrich traten hier erstmals an eine größere Öffentlichkeit.

Trotz der Vorwürfe, denen sich Meier-Graefe aus deutschnationalen Kreisen ausgesetzt sah, ein „Vaterlandsverräter“ zu sein, der gegen „deutsche Kunst“ polemisiere, arbeitete er konsequent an einer Umwertung deutscher Kunst und Künstler weiter. Hierfür steht auch seine Streitschrift „Der Fall Böcklin“ (1905), in der er anhand des nationalistischen Kultes um den Maler Arnold Böcklin den Verfall der Kultur im wilhelminischen Deutschland diagnostizierte und versuchte, den festgefahrenen Kunstgeschmack für moderne Tendenzen zu öffnen. Den einst von ihm als Heros der symbolistischen Malerei hoch geschätzte Böcklin stürzte Meier-Graefe von seinem Sockel, was einen Sturm der Empörung und heftige kulturpolitische Kontroversen auslöste. Auch mit seinem ein Jahr später veröffentlichten Buch „Der junge Menzel“, in dem er das verborgene Frühwerk Adolph von Menzels den Deutschen zugänglich machte, den späten Menzel jedoch ablehnte, rief Meier-Graefe die konservativen Kritiker auf den Plan. Dabei hatten antifranzösische Ressentiments und Deutschtümelei gegenüber sachlichen Einwänden längst die Oberhand gewonnen.

Ebenso kritisch aufgenommen wurde auch Meier-Graefes intensive Beschäftigung mit dem vergessenen Deutschrömer Hans von Marées, den er als einen verkannten Künstler einschätzte, als letzten „Helden“ der Malerei sah und zum Exponenten der deutschen Kunst idealisierte. Um keinen anderen Maler hat sich der Kunstschriftsteller in vergleichbarem Ausmaß bemüht. An den 1909/1910 erschienenen drei gewichtigen Bänden über Hans von Marées arbeitete Meier-Graefe vier Jahre lang. Er wurde der erste Biograf des 1887 verstorbenen Künstlers, erstellte in mühsamer Reise- und Recherchetätigkeit dessen Werkverzeichnis, trug persönliche Dokumente und Kritiken zusammen, realisierte Ausstellungsprojekte und verfolgte mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit die Idee eines Marées-Museums. Damit schrieb sich Meier-Graefe in die Marées-Forschung ein, für die er bis heute eine nicht zu übergehende Referenz darstellt.

Popularisierung der Impressionisten

Meier-Graefes gesamte Kunstschriftstellerei ist eine Art „work in progress“, eine lebenslang verbesserte und erweiterte „Entwicklungsgeschichte“. In seiner „Autobiographischen Skizze“ gesteht er: „Ich machte die ‚Entwicklungsgeschichte‘ fertig und sah, als sie gedruckt war, sehr bald ihre Lücken, die dringend einer gründlichen Ergänzung bedurften. Die Ergänzungen sind in Form von Monographien im Lauf der Jahre erschienen, und manches Kapitel erschien in mehreren Fassungen, bis es mir halbwegs gelang, das Richtige zu treffen.“ Die flagrantesten „Unterlassungssünden“ der „Entwicklungsgeschichte“ waren Gustave Courbet und Camille Corot, die Meier-Graefe mit der Publikation „Corot und Courbet“ (1905) wiedergutmachte. Es folgten die Monografien „Impressionisten. Guys – Manet – van Gogh – Pissarro – Cézanne (1907), „Paul Cézanne“ (1910), „Vincent van Gogh“ (1910), „Auguste Renoir“ (1911), „Édouard Manet“ (1912), „Eugène Delacroix“ (1912), „Camille Corot“ (1913) und – nach Kriegsende – „Cézanne und sein Kreis“ (1918), „Degas“ (1920), „Courbet“ (1921), „Vincent“ (zwei Bände, 1921). Meier-Graefe veröffentlichte demnach Monografien über fast alle bedeutenden Künstler des Impressionismus und trug mit seinen Büchern wie auch mit den von ihm organisierten Ausstellungen zur Popularisierung und Kanonisierung der modernen Meister im deutschsprachigen Raum entscheidend bei. Darüber hinaus hat der eloquente Autor durch seine reich illustrierten Publikationen das Werk der Impressionisten auch visuell vermittelt und das Bildwissen seiner Zeit erheblich bereichert.

Andere Kunstlandschaften als jene Frankreichs und Deutschlands haben Meier-Graefe nur gelegentlich zu beschäftigen vermocht, wiewohl er einerseits den Engländer William Hogarth mit einer eigenen Werkmonografie (1907) würdigte und „Die großen Engländer“ (Gainsborough,  Reynolds, Wilson, Turner, Constable,  Whistler) mit einer 1908 erschienenen Publikation bedachte, andererseits mit seiner „Spanischen Reise“ (1910) das Werk des bis dahin wenig bekannten Malers El Greco neu wertete und diesen zu einer Gründerfigur der Moderne erhob. Neben der unterhaltsamen Schilderung der 1908 unternommenen Reise verwandelt sich der Text unversehens zu einem „revolutionären“ Kunstbekenntnis. „Wie der Blitz“ durchfährt Meier-Graefe im Prado-Museum in Madrid ein ihm völlig neues Kunsterlebnis. Mit großem dramaturgischem Geschick und effektvoll inszeniert wie eine „negative Bekehrung“ schildert er seine tiefe Enttäuschung angesichts der so sehnsüchtig erwarteten Gemälde des von ihm glühend verehrten Barockmalers Diego Velázquez und die darauf folgende „Erleuchtung“ angesichts der Werke El Grecos. So hat Meier-Graefe unmittelbar nach dem Tod seines bisherigen Heilands einen neuen Kunstgott gefunden. Zwar ist es ihm nicht gelungen, Velázquez aus dem Kanon zu verdrängen, aber seine „Spanische Reise“ gilt in der Kunstliteratur als herausragend für die neuzeitliche Rezeption El Grecos.

In seiner von Walter Epstein gebauten Villa, die er 1913 zusammen mit seiner Frau Anna bezog, begann Meier-Graefe an der zweiten Auflage der „Entwicklungsgeschichte“ zu arbeiten, deren beiden ersten Bände 1914/1915 erschienen sind. Der dritte Band folgte erst 1924. Darüber schreibt Reinhard Piper in seinen Memoiren „Mein Leben als Verleger“ (München 1964): „Was Meier-Graefe befürchtet hatte, trat ein: aus der Durchsicht des Textes wurde ein vollständig andres Buch. (...) Er hatte inzwischen mit diesen Künstlern weitergelebt, und diese Erlebnisse mussten in das Buch hineingearbeitet werden. Fast alle Kapitel wurden ganz neu geschrieben.“

Gründer und Leiter der Marées-Gesellschaft

Meier-Graefe entwarf in dieser Zeit auch das Programm der Marées-Gesellschaft, deren Gründung jedoch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte. Wie so viele seiner Generation und auch seines Bildungsstandes fieberte Meier-Graefe, der im September 1914 im „Berliner Tageblatt“ den provokanten, stark patriotische Töne anschlagende Artikel „Drei Gewinne“ veröffentlicht hatte, geradezu nach, an die Front zu kommen. Mit 47 Jahren war er eindeutig zu alt, seiner Begeisterung tat das keinen Abbruch. Als freiwilliger Sanitäter kam er an die Ostfront, wo er in russische Gefangenschaft geriet. Nach neun Monaten in Sibirien kehrte er im Herbst 1915 nach Berlin zurück. Seine Erlebnisse als Kriegsgefangener schilderte er in der Erzählung „Der Tscheinik“, die 1918 verlegt wurde und als Neuausgabe mit dem veränderten Titel „Die weiße Straße“ 1929 erschienen ist.

In diese Zeit der Erschütterungen fiel auch die Trennung von seiner Frau Anna, der er die Villa in Nikolassee überließ. Meier-Graefe übersiedelte mit der Schauspielerin Helene Lienhardt nach Dresden. Während seiner dortigen Lebensjahre nahmen ihn die Arbeiten für die 1917 in Zusammenarbeit mit dem Verleger Reinhard Piper gegründete Marées-Gesellschaft sehr in Anspruch. Diese sollte nach der Vorstellung ihres Gründers und Leiters durch die Publikation von Werken und Mappen mit Originalgrafik die zeitgenössische Kunst fördern und gleichzeitig durch qualitätsvolle Faksimiles Werke alter und moderner Meister der Allgemeinheit zugänglich machen. Mit dieser ebenso ehrgeizigen wie kostspieligen Unternehmung versuchte Meier-Graefe, die zerrissenen kulturellen Netzwerke Europas mithilfe der Kunst und ihrer Bilder zu rekonstruieren. Die während gut eines Jahrzehnts erschienenen 47 Drucke der Marées-Gesellschaft fügen sich zu einem „imaginären Museum“ höchster künstlerischer Qualität, das weder zeitliche noch räumliche Grenzen kannte. Von 1919 an gab Meier-Graefe das die einzigartigen Mappen begleitende Kunstjahrbuch „Ganymed“ heraus, welches fünf Jahrgänge erreichte.

Nachdem Meier-Graefe in Berlin eine eigene graphische Anstalt für die Drucke der Marées-Gesellschaft errichtet hatte, verließ er 1921 Dresden und kehrte nach Berlin zurück. 1924 heirateten er und Helene Lienhardt, um sich schon kurz darauf wieder scheiden zu lassen. Die Hochzeit erfolgte lediglich, um den gemeinsamen Sohn Tyll, geboren 1918, zu legitimieren. 1925 ging Meier-Graefe mit Annemarie Epstein, der Tochter des Architekten Walter Epstein, der sein Haus in Nikolassee entworfen hatte, seine dritte Ehe ein.

Auch als Schriftsteller weiterhin produktiv

Obwohl sich Julius Meier-Graefe, der als Schriftsteller begonnen hatte, bleibenden Ruf als Autor von Kunstbüchern errang, wandte er sich immer wieder der Literatur zu. Auf seinen ersten Roman „Nach Norden“ folgte 1897 unter dem Titel „Die Keuschen“ eine Romanreihe über das Liebesleben im 19. Jahrhundert, die er später als „dekadenten Unfug“ bezeichnen sollte. 1909 schrieb er das Drama „Adam und Eva“, dessen zweite Fassung 1920 unter dem Titel „Die reine Farbe“ veröffentlicht und im Schauspielhaus Dresden uraufgeführt wurde. 1911 entstand in Neapel die Idee zu dem Puppenspiel „Orlando und Angelica“, das 1912 mit den hübschen Lithos von Erich Klossowski in Berlin erschien. Im letzten Kriegsjahr 1918 veröffentlichte Meier-Graefe den Roman „Der Tscheinik“ und das Lustspiel „Heinrich der Beglücker“. Die Novellensammlung „Geständnisse meines Vetters“ von 1923 weist, wie auch der 1932 erschienene Roman „Der Vater“, autobiografische Züge auf. Dem Roman über Dostojewski (1926) folgten das Reisebuch „Pyramide und Tempel“ (1927) mit dem Untertitel „Notizen während einer Reise nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Stambul“, der Künstlerroman „Vincent van Gogh. Der Roman eines Gottsuchers“ (1932) sowie der Novellenband „Geschichten neben der Kunst“ (1933). Unveröffentlicht blieb der autobiografische Roman „Der Kampf um das Schloß“, den Meier-Graefe in seinen zwei letzten Lebensjahren geschrieben hat. Eine wissenschaftliche Untersuchung seines literarischen Werkes, die notwendig ist, um Meier-Graefe in seiner Gesamtheit würdigen zu können, steht noch aus.

Die letzten Lebensjahre in Südfrankreich

Seinen Lebensabend verbrachte Meier-Graefe mit seiner Frau in Südfrankreich. Im Jahr 1930 mietete das Ehepaar ein Anwesen in Saint-Cyr-sur-Mer. Das Haus wurde nach 1933 ein Anziehungs- und Treffpunkt für manch heimatlos gewordenen Deutschen, zumal im benachbarten Sanary-sur-Mer eine prominente Emigrantenkolonie entstanden war. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten lehnte es Meier-Graefe ab, dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller beizutreten, und verweigerte die Unterschrift unter das von der  Reichsschrifttumskammer geforderte Treuegelöbnis. 1934 beantragte er die französische Staatsbürgerschaft, die ihm jedoch nicht gewährt wurde. Julius Meier-Graefe starb am 5. Juni 1935 in einem Sanatorium im schweizerischen Vevey an Tuberkulose. Die Urne wurde in Saint-Cyr-sur-Mer beigesetzt.

Die Ereignisse in Deutschland holten ihn postum insofern noch ein, als auf der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München ein großformatiges Foto gleich am Eingang Meier-Graefe als eine „volksschädigende“ Hauptfigur der von den Nationalsozialisten so vehement bekämpften Moderne zeigte. Die Diffamierung Meier-Graefes als Feind der „deutschen Kunst“ fand hier ihren Höhepunkt.
Nach seinem Tod erinnerten nur wenige an diese außergewöhnliche Persönlichkeit, die an den Wert der europäischen Kunst- und Kulturtradition unerschütterlich glaubte und eine herausragende Stellung in der modernen Kunstbewegung einnahm. Der in der Schweizer Zeitschrift „Das Werk“ erschienene Nachruf charakterisierte den deutschen Kunstpapst der Jahrhundertwende einfühlsam: „Er war ein streitbarer und umstrittener Geist und bei den Kunsthistorikern vom Fach war der Mann, der dicke Bücher schreibt, nicht sehr geschätzt. […] Seine Anschauungen und Maßstäbe waren nicht die landläufigen, aber sie waren aus der Ehrfurcht eines leidenschaftlich ergriffenen Herzens geboren und nach den höchsten Leistungen ausgerichtet, die die europäische Kunst aufzuweisen hat. Als Kritiker war er freimütig, aber nie gewissenlos. […] Ein trockener Gelehrter war er nicht, aber ein kritischer klarer Kopf und ein begnadeter Schriftsteller, dem es an Gelehrsamkeit und Gründlichkeit nicht fehlte, noch weniger aber an Esprit, jenem in Deutschland nicht allzu häufigen Ingrediens, das die Gelehrsamkeit nicht nur angenehmer, sondern oft auch erst recht wirksam macht. Aber gerade den Esprit hat man ihm im Kreise deutscher Kunstgelehrter oft verübelt, von der Presse des Dritten Reiches zu schweigen, die mit wenigen Ausnahmen kein würdigendes Wort zum Tode eines Mannes fand, der ein bedeutender Deutscher und guter Europäer war.“