Zwei neue Bücher von beziehungsweise über den Schriftsteller Richard Wagner sind erschienen: „Poetologik. Der Schriftsteller Richard Wagner im Gespräch“, Wieser Verlag Klagenfurt, und „Gold. Gedichte“, Aufbau Verlag Berlin. Der Gedichtband umfasst einen Querschnitt durch Wagners poetisches Werk von 1972 bis 2016 sowie eine Studie zur Lyrik Richard Wagners von Christina Rossi, die auch in den Gesprächsband einführt. Anstelle einer Rezension schrieb Franz Heinz den folgenden Beitrag für die „Banater Post“, dem die beiden Neuerscheinungen zugrunde liegen.
Jeder weiß es – Schreiben und Lesen haben miteinander zu tun. Man könnte einwenden, es gehöre auch das Reden dazu – ein Dialog setze, zu reden, geradezu voraus. Für die Dichtung gilt das jedoch nur bedingt. Sie ist nicht vordergründig auf den Meinungsaustausch aus und nicht auf die wissenschaftliche Werkanalyse. Das alles geschieht (oder unterbleibt) wie der Sommerregen, der kommt oder auch auf sich warten lässt. Die Dichtung geschieht unaufgefordert und hält sich im Gedächtnis der Zeit. Sie gilt als ein Identitätsmerkmal der Gesellschaft, die sie zu repräsentieren vorhat oder auch nur vorgibt. Die Dichter zeigen sich dabei als ein eigenwilliges Völkchen und sind nicht ohne Eigenliebe. Demut ist nur gelegentlich zu finden, und nur selten ist sie – wie bei Matthias Claudius – überzeugend. Sich zu bescheiden ist in der Regel ihre Sache nicht. Sie gehören eher zu denen, die meinen, alles besser zu wissen, und dabei doch oft nur das bereits Bekannte wiederentdecken.
Das erübrigt nicht das Gedicht, das ja immer, wenn es gut ist, als heutig empfunden wird, und zwar ebenso in der politischen Auseinandersetzung wie als Idylle, verschlüsselt oder volksliedhaft. Denn nicht alles, was erkannt worden ist, gilt als bewältigt, und das rechtfertigt die Rotation der Themen auch in der Literatur, die ihren Prometheus unverbraucht zur Hand hat und ihren Mephisto nicht abzugeben gezwungen ist. Sie wird immer auch kämpferisch sein und bleibt ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die Welt zu erklären oder auch sie zu verändern. Sie besser zu machen, gelingt auch ihr nicht. Das ist auch nicht Aufgabe der Poeten. Sie machen das Eigentliche wie das Verborgene sichtbar und benennen es, und so werden sie allemal auch politisch sein. „Poesie ist außer wahrheit/ vor allem poesie“ befindet Reiner Kunze und ordnet damit zwingend eins dem anderen zu – das verantwortliche Anliegen dem Sprachbild. Das schützt allerdings nicht vor Irrläufen, gesellschaftsimmanenten Verführungen und Manipulationen. Allzu leicht schrumpft, was als wahr gilt, auf ein Zugehörigkeitsbekenntnis, für das es ausreicht, wenn einer „mit sich selbst im Reinen“ ist. Die engagierte Literatur (sie gehört zum Instrumentarium sämtlicher totalitärer Systeme) bietet – auch wenn sie echt ist – dafür einen fruchtbaren Nährboden.
Kolorit mit Substanz
Die „Aktionsgruppe Banat“ (von dem Schriftsteller Paul Schuster nach einem Besuch in Temeswar erstmals öffentlich so benannt) erregte mit ihrem unverhüllten Bekenntnis zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft das öffentliche Interesse wie auch den öffentlichen Ärger. Sie betrachtete sich als die bereits im Sozialismus geborene und somit von Altlasten unbeschwerte Generation und bekannte sich – wenn auch nicht bedingungslos – zu den revolutionären gesellschaftlichen Veränderungen, die sich selbst als Errungenschaften bezeichneten und auch als solche verstanden wissen wollten. Dem politischen Apparat, der sein Programm ebenso beharrlich wie rigoros durchsetzte, kam dieses zustimmende Bekenntnis zunächst überaus gelegen, indessen sich die eigenen Landsleute im Banat verkannt und verdrängt vorkamen. Zu tief noch wirkten Enteignung, Deportation und Entrechtung nach, und die in Schauprozessen gefällten harten Urteile unter anderem gegen rumäniendeutsche Schriftsteller und Kleriker verhinderten verständlicherweise jede kollektive Annäherung an das System. Mit der politischen Zuwendung der jungen Banater Autoren zum herrschenden Regime war die Abkehr von nahezu allen tradierten volkstumserhaltenden Vorstellungen und Gepflogenheiten der Banater Schwaben verbunden. Sie passten nicht ins gesellschaftliche Konzept der Aktionsgruppe, die aus der regionalen Selbstbegrenzung auszubrechen wagte und es gegen das konservative schwäbische Denk- und Verhaltensmuster durchstand. Diese Konsequenz, mit der die junge Banater Dichtergeneration den Ausbruch aus der umhüteten Provinzialität anstrebte, ist nicht nur im Rückblick anzuerkennen, sondern auch im Ergebnis, wie es sich zumindest im literarischen Werk von Herta Müller und Richard Wagner darstellt. Ihre Zielgruppe war nicht die deutsche Minderheit, auch wenn ihnen das Beste dann gelungen sein mag, wenn sie thematisch daheim geblieben sind. Wagners Berliner Romane fehlt, im Vergleich mit seinen im Banat angesiedelten „Habseligkeiten“, das Herzblut. Was dort konstruiert wirkt, ist hier durchwachsen vom Gelebten, und es zeichnet den Autor aus, wie er dabei auf Distanz zu sich selbst zu gehen versteht. Es könnte allerdings sein, dass diese Resonanz des Authentischen vornehmlich den Banater (beziehungsweise rumäniendeutschen) Leser erreicht – ebenso wie die siebenbürgisch-sächsischen Einschiebsel bei Pastior dem mundart-unkundigen Leser verschlossen bleiben müssen, wobei gerade sie in Lautung und Hintergründigkeit nicht nur Kolorit vermitteln, sondern gleichermaßen auch Substanz.
Wer ist wer?
Eine solche Frage zu stellen scheint sich zu erübrigen, wenn es um Landsleute einer Dorfgemeinschaft von 5000 Einwohnern geht, auch wenn diese in zwei unterschiedliche Ortsteile gegliedert ist und eine Ufersiedlung an der Marosch einschließt, die heute zwar kein Eigenleben aufweist, bis zum Ersten Weltkrieg aber einen wesentlichen Anteil an der Prosperität der Gemeinde Perjamosch hatte. Bis zu 24 Schiffsmühlen waren hier im Betrieb, wobei eine Mühle mit dem Besitz einer Session (32 Joch Ackerland) gleichgesetzt wurde. Entsprechend selbstbewusst waren die Wassermüller, bis die leistungsstärkeren Walzenmühlen sie verdrängten und brotlos werden ließen. Auch die Wagner- und die Schmidt-Mühle, am „Oberen Gestäde“ gelegen, mussten aufgeben. Das standesgemäße Selbstbewusstsein hat sich jedoch in den Nachkommen erhalten. Anna, die Schmidt-Tochter (verehelichte Gillich), hat sich bis ins hohe Alter das ihr zustehende Ansehen anmerken lassen, und auch Karl Wagner, Richards Vater, Obermüller an der großen Staatsmühle (vormals Minnich), sah sich unverklemmt in seiner ihm angemessenen beruflichen Tradition.
Nahezu gleichaltrig und befreundet mit dem Grafiker Franz Gillich, der sein Elternhaus am Maroschufer zeitlebens bewohnte und bewirtschaftete, pflegte Karl Wagner weiterhin die nachbarschaftliche Beziehung, wenngleich er selbst ins Dorf umgezogen war. Bei seinen gelegentlichen Besuchen legte er Franz Gillich Zeichnungen des damals gerade mal schulpflichtig gewordenen Richard zur Beurteilung vor, die eine überdurchschnittliche künstlerische Begabung durchschimmern ließen. Neben dem Grafiker Franz Gillich und dem mit ihm benachbarten Maler Franz Ferch (ein Wahlmaroscher) schien sich eine weitere bildnerische Begabung anzukündigen, was – zumindest lokalhistorisch – nicht ohne Reiz gewesen wäre. Drei Künstlergenerationen, in drei benachbarten Häusern ansässig, hätten (bessere Zeiten vorausgesetzt) eine Maroscher Künstlerkolonie denkbar sein lassen.
Richard aber ging andere Wege, die er mit der ihm eigenen Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit antrat und ausbaute. Es ist nicht ohne Reiz, sich ihn als Maler vorzustellen. Landschaften, wenngleich diese vor der Tür lagen, wären seine Sache allerdings nicht gewesen. „Ich hasse Natur“, hörte ich ihn sagen. Hier mag sich ein Wesenszug der alten Wassermüller bemerkbar machen, die zwar mit und von der Natur lebten, aber auch ihre Not mit ihr hatten. Das Wasser war ihr Ernährer und zugleich ihr Feind. Parallelkonstruktionen zur Gegenwart mögen nicht allzu entfernt liegen.
In ein erstes Gespräch mit Richard kam ich 1969 an einem Sommertag an der Marosch, als er mir einige Gedichte vorlegte, die ich nach Bukarest mitnahm und dort zur Veröffentlichung weiterreichte. Ich will das nicht als Förderung herausstreichen. Es geschah nicht selten, dass jugendliche Autoren der Redaktion Texte zuschickten, dann aber unbemerkt wegsickerten. Patriotisches war darunter, Revolutionäres und auch Schwärmerisches. Richard suchte schon früh die Auseinandersetzung mit Zeitfragen und dem, was diese bestimmt. Er schwärmte nicht, er dachte.
Weitere Begegnungen ergaben sich, die Jahrzehnte hindurch, nur selten, blieben eher zufällig und für beide Seiten wenig ergiebig. Gemeinsam gelesen haben wir, soweit ich mich erinnere, nur einmal. Es war an einem der Reschitzaer Kulturtage, wobei er die jungen Temeswarer Zuhörer vorweg für sich einnahm, bis Frau Edith Guip-Cobilansky in der Diskussion auch auf meinen Text einschwenkte (ich las eine Passage aus dem Roman „Kriegerdenkmal“). Hier zeichnete sich der unterschiedliche generationsbedingte Erlebnishintergrund sowohl der Autoren wie auch der Leser ab, denn auch die Dichtung überholt sich selbst. Sie ist gesellschafts- und zeitbedingt und somit epochal gebunden.
Es überrascht, so gesehen, nicht, dass Wagner literarisch – nicht nur regional – das Vorhandene nur begrenzt gelten lässt und, älter geworden, nun die deutsche Gegenwarts-literatur als dürftig empfindet und von ihr sagt: „Das sind im Grunde alle keine Schriftsteller, denn was sie schreiben, hat mit Literatur nichts zu tun.“ Er sagt, was er sagen zu müssen meint, „denn als Schriftsteller darf ich alles“, gesteht er sich selbst zu. Er macht davon Gebrauch, radikal und gescheit und ohne Umstände. Unsere Banater Landsleute fühlten sich durch seine oft abwertenden Äußerungen zur Traditionspflege und Heimatliteratur mitunter düpiert, haben es sich aber dennoch nicht versagt, ihm den Kulturpreis zuzuerkennen. Es zeichnet beide Seiten aus, sich die Würdigung nicht als Konsens zurechtgebügelt zu haben. Man nimmt sich an, wie man ist. Die Zugehörigkeit muss in ihrer Äußerung nicht zwingend einstimmig sein, was auch für den persönlichen Umgang mit- und untereinander gilt.
Der längere Löffel
Freunde sind wir nicht geworden. Eine der Ursachen dafür sehe ich im Altersunterschied. Richard ist 23 Jahre jünger als ich, und wir erlebten die ebenso fundamentalen wie dramatischen Veränderungen der Banater Welt unterschiedlich bis gegensätzlich. Als er noch Karl Mays Abenteuerromane las, war ich als junger Redakteur dazu angehalten, mir den Marxismus einzuverleiben; als er mit Dubčeks „Prager Frühling“ einem offenen Sozialismus entgegenhoffte, war mir, nach einem Besuch in der niedergekämpften Tschechoslowakei, jede diesbezügliche Zuversicht abhandengekommen; als er in die Bundesrepublik ausreiste und erste Erfahrungen westlicher Freiheit und Förderung genoss, war ich dabei, die westliche Euphorie in Frage zu stellen. Das näherte nicht an. Der Altersunterschied bestimmt als biologischer, wenn auch nicht als einziger Faktor, die individuelle Erlebnis- und Erfahrungssumme mit und äußert sich verhaltensbestimmend. Insofern sind Unterschiede und auch Gegensätze weder verwunderlich noch falsch. „Ich wollte frei sein“, sagt Richard, von Christina Rossi in einem Gespräch befragt und weiß, dass die Freiheit „der Ort aller Ängste“ ist. Es geht nicht nur um die Freiheit des Schreibens, sondern um die Freiheit des Seins, um „die Freiheit, die ich meine“. Dazu gehört ein betonter Individualismus, gepaart mit kreativer Stärke. Es reicht nicht, wenn man sich einredet, dafür prädestiniert zu sein. Richard Wagner sagt es so: „Der Dichter muss das machen, was er machen muss, und wenn er es nicht macht, dann ist er nicht.“ Wagner will sein. Zu schreiben – das ist seine Art sich mitzuteilen, gegen den Schwindel anzugehen und gegen den Trost. Gegen die Krankheit. Wagner spricht mit Wagner.
Ich habe, als es mir angebracht schien, in Abständen zwei oder auch drei Briefe an ihn geschrieben. Jeweils zehn Zeilen. Eine Antwort erreichte mich nicht. Gelegentlich ließ er mir eine seiner Neuerscheinungen vom Verlag zustellen, was von meiner Seite aus unterblieben ist. Meinen Veröffentlichungen, auf die er zwischendurch eingegangen ist, gesteht er „den mäßigen Glanz der Ausgewogenheit“ zu oder er hält mir „Normverhalten“ vor. Wenn schon. Meine oberste Instanz heißt nicht Richard, auch wenn er sich fürs Ausräumen der schwäbischen Walhalla zuständig vorkommen mag. Seine Parodie auf eine missratene Petőfi-Übertragung des Perjamoscher Dichterpfarrers Karl Grünn ist gekonnt und trifft. Man darf... auch wenn hier, wie in anderen Fällen, eine entbehrliche Kategorisierung vorgenommen wird, als wäre zu klären, wer der größte Dichter von Perjamosch ist. Wagners Pauschalbefunde zu dem, was sonst noch literarisch da ist und war, wirken mitunter wie nicht der Mühe wert.
Manches mag positioniert sein. Er redet zur Sache oder macht das, worüber er redet, zur Sache. Er ist aufrichtig, nicht gerecht. Er ist für sich allein und weniger nett. Und er ist, nicht nur für sich selbst, Spitze.
Gemeinsam mit Dr. Walter Engel hatte ich Richard Wagner für den Donauschwäbischen Kulturpreis vorgeschlagen und ich würde ihn, wenn es mir zustünde, für den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung empfehlen. Längst schon ist die rumäniendeutsche Literatur in der deutschen Selbstwahrnehmung nicht nur eine Marginalie.
Im Klappentext zur „Poetologik“ wird Wagner ungeniert als zeitgenössischer rumäniendeutscher Schriftsteller vorgestellt, und das vermindert in keiner Weise die Substanz seines dichterischen Werks, das ja zum guten Teil erstmals in rumäniendeutschen Publikationen erschienen ist.
Meine Frau hat/ mehr Knie als deine.../ Dein Löffel ist/ kürzer als meiner, schreibt der Perjamoscher in Berlin, wo wie sonstwo die Gesetzmäßigkeit des längeren Löffels gilt. Er weiß – es gehört eins ins andere.
Wie einen Kieselstein
Es ist die Ironie der Geschichte oder auch eine denkwürdige Begleiterscheinung der Globalisierung, dass Landstriche wie das Banat, gleichlaufend mit ihrer Preisgabe, poetisch neu entschlüsselt werden. Es geht dabei nicht um ein wie immer gezeichnetes neues Heimatbild, nicht um die Erhaltung oder Bergung verborgener Kulturschätze, sondern um die unbeschwerte humane Erfahrung von Räumen. Es fällt auf, wie der fast zeitgleich mit Richard Wagner in Wuppertal geborene Dichter Matthias Buth ins Mosaik seines poetischen Weltbilds auch das Banat einfügt, unprogrammatisch, als neue Gegenwart mit historischem Hintergrund. „Eingespannt in die Geometrie/ Der Frühlingsfelder sind die Texte/ Die noch suchen/ bis nach Timisoara/ Das sich nach Wien aufmachen will“, dichtet er. Das hat nichts mehr mit Lenau und Müller-Guttenbrunn zu tun, und nichts mit Wagner, der sich ohnehin eher wegschreibt vom durchlittenen Banat. Buth findet es nicht von alten und neuen Ansprüchen verbaut vor, sondern so, wie es zur Stunde sich zu erkennen gibt, unempfindlich für entfernte Sentimentalitäten. Die Heide begnügt sich mit dem Blick des Durchreisenden, der mit ihr nichts im Sinn hat. Es geht ihm nicht ums Ankommen oder gar ums Bleiben. Er nimmt den Augenblick mit wie einen Kieselstein.